Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.§ 15. Das Recht und seine Erkenntnisquellen. er dabei die germanischen Zustände stellenweise mit den hergebrachtenPinselstrichen ausmalt, welche in der römischen Litteratur für ideali- sierende Schilderung von Naturvölkern typisch geworden waren 10. Er ist gut unterrichtet, übertreibt und entstellt nicht, verrät aber doch die Absicht durch Betonung der Gegensätze zu wirken und beleuchtet die germanischen Zustände durch ein künstliches Zwielicht, welches den Blick auf die Schattenseiten des römischen Lebens zu lenken sucht. Die Auslegung der Germania setzt daher stets das Verständnis und die Vergleichung der römischen Einrichtungen und Zustände voraus, welche durch die Darstellung der germanischen eine mehr oder minder deutlich ausgesprochene Kritik erfahren. Der grossartige Standpunkt, den Tacitus den Germanen gegenüber ein- nahm, war nur möglich zu einer Zeit, da das Römertum sich noch der vollen Überlegenheit seiner Waffen, seiner Kultur und seines Nationalgefühles bewusst war. Er ist von der sinkenden römischen Geschichtschreibung früh genug aufgegeben worden 11. Feste und wertvolle Ergebnisse gewinnt die Forschung für unser 10 Köpke, Die Geten bei Horaz. Zur Quellenkritik des Tacitus. Nachtrag in dessen Anfänge des Königthums bei den Gothen S 208 ff. 11 Aus der grossen Zahl von Kommentaren und kommentierten Ausgaben sind hervorzuheben F. Rühs, Ausführliche Erläuterung der zehn ersten Kapitel, 1821; A. Baumstark, Ausführliche Erläuterung des allgemeinen Teiles der Germania des Tacitus 1875, des besonderen völkerschaftlichen Teiles 1880 und die Ausgabe von Schweizer-Sidler, 3. Aufl. 1879. Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I. 8
§ 15. Das Recht und seine Erkenntnisquellen. er dabei die germanischen Zustände stellenweise mit den hergebrachtenPinselstrichen ausmalt, welche in der römischen Litteratur für ideali- sierende Schilderung von Naturvölkern typisch geworden waren 10. Er ist gut unterrichtet, übertreibt und entstellt nicht, verrät aber doch die Absicht durch Betonung der Gegensätze zu wirken und beleuchtet die germanischen Zustände durch ein künstliches Zwielicht, welches den Blick auf die Schattenseiten des römischen Lebens zu lenken sucht. Die Auslegung der Germania setzt daher stets das Verständnis und die Vergleichung der römischen Einrichtungen und Zustände voraus, welche durch die Darstellung der germanischen eine mehr oder minder deutlich ausgesprochene Kritik erfahren. Der groſsartige Standpunkt, den Tacitus den Germanen gegenüber ein- nahm, war nur möglich zu einer Zeit, da das Römertum sich noch der vollen Überlegenheit seiner Waffen, seiner Kultur und seines Nationalgefühles bewuſst war. Er ist von der sinkenden römischen Geschichtschreibung früh genug aufgegeben worden 11. Feste und wertvolle Ergebnisse gewinnt die Forschung für unser 10 Köpke, Die Geten bei Horaz. Zur Quellenkritik des Tacitus. Nachtrag in dessen Anfänge des Königthums bei den Gothen S 208 ff. 11 Aus der groſsen Zahl von Kommentaren und kommentierten Ausgaben sind hervorzuheben F. Rühs, Ausführliche Erläuterung der zehn ersten Kapitel, 1821; A. Baumstark, Ausführliche Erläuterung des allgemeinen Teiles der Germania des Tacitus 1875, des besonderen völkerschaftlichen Teiles 1880 und die Ausgabe von Schweizer-Sidler, 3. Aufl. 1879. Binding, Handbuch. II. 1. I: Brunner, Deutsche Rechtsgesch. I. 8
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§ 15. Das Recht und seine Erkenntnisquellen.
er dabei die germanischen Zustände stellenweise mit den hergebrachten
Pinselstrichen ausmalt, welche in der römischen Litteratur für ideali-
sierende Schilderung von Naturvölkern typisch geworden waren 10.
Er ist gut unterrichtet, übertreibt und entstellt nicht, verrät aber
doch die Absicht durch Betonung der Gegensätze zu wirken und
beleuchtet die germanischen Zustände durch ein künstliches Zwielicht,
welches den Blick auf die Schattenseiten des römischen Lebens zu
lenken sucht. Die Auslegung der Germania setzt daher stets das
Verständnis und die Vergleichung der römischen Einrichtungen und
Zustände voraus, welche durch die Darstellung der germanischen eine
mehr oder minder deutlich ausgesprochene Kritik erfahren. Der
groſsartige Standpunkt, den Tacitus den Germanen gegenüber ein-
nahm, war nur möglich zu einer Zeit, da das Römertum sich noch
der vollen Überlegenheit seiner Waffen, seiner Kultur und seines
Nationalgefühles bewuſst war. Er ist von der sinkenden römischen
Geschichtschreibung früh genug aufgegeben worden 11.
Feste und wertvolle Ergebnisse gewinnt die Forschung für unser
ältestes Recht, indem sie die in den Rechtsquellen der folgenden
Perioden bezeugten Rechtseinrichtungen der verschiedenen germani-
schen Stämme kritisch mit einander vergleicht. Zeigt sich, daſs ein
Rechtsinstitut bei den verschiedenen Stämmen, die seit ihrer Trennung
eine selbständige Rechtsentwicklung durchgemacht haben, in gleicher
Weise vorkommt, so läſst sich unter Verhältnissen, die eine gegen-
seitige jüngere Entlehnung oder eine unabhängige gleichartige Neu-
bildung ausschlieſsen, mit gutem Grunde annehmen, daſs es in der
Zeit vor der Trennung gemeinsames Besitztum gewesen war. Je
früher die Trennung, je geringer im übrigen die Verwandtschaft des
Rechtes, desto höher das Alter, in welches die Gemeinsamkeit hinauf-
reicht. Für die germanische Rechtsgeschichte kommt daher ins-
besondere die Vergleichung der skandinavischen Rechte, des angel-
sächsischen und des langobardischen Rechts mit den deutschen
Stammesrechten des fränkischen Reiches in Betracht. Wesentliche
Dienste leistet bei methodischer Verwertung die Geschichte unserer
Sprache in ihrer Anwendung auf die Rechtsterminologie. Die Wörter
10 Köpke, Die Geten bei Horaz. Zur Quellenkritik des Tacitus. Nachtrag
in dessen Anfänge des Königthums bei den Gothen S 208 ff.
11 Aus der groſsen Zahl von Kommentaren und kommentierten Ausgaben sind
hervorzuheben F. Rühs, Ausführliche Erläuterung der zehn ersten Kapitel, 1821;
A. Baumstark, Ausführliche Erläuterung des allgemeinen Teiles der Germania
des Tacitus 1875, des besonderen völkerschaftlichen Teiles 1880 und die Ausgabe
von Schweizer-Sidler, 3. Aufl. 1879.
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