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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 13. Die Sippe.
Beschränkungen, welche in fränkischer Zeit auftauchen und die Bluts-
gemeinschaft nur innerhalb einer bestimmten Zahl von Verwandtschafts-
gliedern als wirksam betrachten, müssen der Urzeit fremd gewesen
sein. Denn trotz jener Beschränkungen hat die Volksanschauung noch
lange daran festgehalten, dass die Gemeinsamkeit des Blutes sich
geltend mache und wenn sie auch noch so gering sei. Ein Rechts-
sprichwort sagt: Freundesblut wallt und wenn es auch nur ein
Tropfen ist. Und auf uralten Aberglauben scheint eine Verwandt-
schaftsprobe zurückzuführen, über welche eine holländische Rechts-
quelle des 15. Jahrhunderts berichtet. Wenn der Leichnam eines
Ermordeten oder eines Ertrunkenen nach langer Zeit aufgefunden
wird und jemand wissen will, ob er mit dem Toten verwandt sei, so
füge er sich eine Schnittwunde bei und lasse das Blut auf den
Leichnam niederträufeln. Ist es das Blut eines Verwandten, und sei
die Verwandtschaft noch so ferne, so hält es der Leichnam fest und
kann es trotz alles Waschens nicht wieder beseitigt werden3.

Mit der Anschauung des Naturvolkes, welches den auf sinnlicher
Wahrnehmung beruhenden Beweis der Verwandtschaft bevorzugt, haben
die Germanen die durch Weiber vermittelte Blutsgemeinschaft in
manchen Beziehungen höher geachtet wie die durch Männer ver-
mittelte. Das Verhältnis zwischen Neffe und Mutterbruder gilt für
eben so eng wie das zwischen Sohn und Vater. Bei der Stellung
von Geiseln wird die mütterliche Verwandtschaft als stärkere Sicher-
heit betrachtet4. Dagegen hat das sogenannte Mutterrecht bei den
Germanen, wie bereits oben S. 80 betont werden musste, zur Zeit
ihres Eintrittes in die Geschichte nicht mehr bestanden.

Die Verwandten heissen Gesippen, Freunde, Holde5, Gätlinge6.
Die Westgermanen bezeichnen sie auch als Magen (ahd. mag, ags.
maeg), während gotisch megs, altnordisch magr auf die Schwägerschaft
bezogen wird7. Die Magen zerfallen in Vatermagen und Muttermagen,
Ausdrücke, die häufig in der Weise verwendet werden, dass Vater-
magen die nur durch den Vater, Muttermagen die nur durch die

3 Jan Matthijssen, Het Rechtsboek van den Briel, herausgeg. von J. A.
Fruin und Pols 1880, S 220.
4 Tacitus, Germania c. 20.
5 Ahd. Glossen II 688, 46: proximi holdun. Friesisch holda, houda, Richt-
hofen
, WB S 823.
6 Gotisch gadiliggs, Vetter; altsächs. gadulinc, ahd. katalinc, gatulinc, ags.
gaedeling, urverwandt mit Gatte u. Gattung. Grimm, WB IV 1 Sp 1493. Haltaus
I 582. Ssp Landr. II 31, 1.
7 Grimm, WB VI 1435; RA S 468.

§ 13. Die Sippe.
Beschränkungen, welche in fränkischer Zeit auftauchen und die Bluts-
gemeinschaft nur innerhalb einer bestimmten Zahl von Verwandtschafts-
gliedern als wirksam betrachten, müssen der Urzeit fremd gewesen
sein. Denn trotz jener Beschränkungen hat die Volksanschauung noch
lange daran festgehalten, daſs die Gemeinsamkeit des Blutes sich
geltend mache und wenn sie auch noch so gering sei. Ein Rechts-
sprichwort sagt: Freundesblut wallt und wenn es auch nur ein
Tropfen ist. Und auf uralten Aberglauben scheint eine Verwandt-
schaftsprobe zurückzuführen, über welche eine holländische Rechts-
quelle des 15. Jahrhunderts berichtet. Wenn der Leichnam eines
Ermordeten oder eines Ertrunkenen nach langer Zeit aufgefunden
wird und jemand wissen will, ob er mit dem Toten verwandt sei, so
füge er sich eine Schnittwunde bei und lasse das Blut auf den
Leichnam niederträufeln. Ist es das Blut eines Verwandten, und sei
die Verwandtschaft noch so ferne, so hält es der Leichnam fest und
kann es trotz alles Waschens nicht wieder beseitigt werden3.

Mit der Anschauung des Naturvolkes, welches den auf sinnlicher
Wahrnehmung beruhenden Beweis der Verwandtschaft bevorzugt, haben
die Germanen die durch Weiber vermittelte Blutsgemeinschaft in
manchen Beziehungen höher geachtet wie die durch Männer ver-
mittelte. Das Verhältnis zwischen Neffe und Mutterbruder gilt für
eben so eng wie das zwischen Sohn und Vater. Bei der Stellung
von Geiseln wird die mütterliche Verwandtschaft als stärkere Sicher-
heit betrachtet4. Dagegen hat das sogenannte Mutterrecht bei den
Germanen, wie bereits oben S. 80 betont werden muſste, zur Zeit
ihres Eintrittes in die Geschichte nicht mehr bestanden.

Die Verwandten heiſsen Gesippen, Freunde, Holde5, Gätlinge6.
Die Westgermanen bezeichnen sie auch als Magen (ahd. mâg, ags.
mæ̂g), während gotisch mêgs, altnordisch mâgr auf die Schwägerschaft
bezogen wird7. Die Magen zerfallen in Vatermagen und Muttermagen,
Ausdrücke, die häufig in der Weise verwendet werden, daſs Vater-
magen die nur durch den Vater, Muttermagen die nur durch die

3 Jan Matthijssen, Het Rechtsboek van den Briel, herausgeg. von J. A.
Fruin und Pols 1880, S 220.
4 Tacitus, Germania c. 20.
5 Ahd. Glossen II 688, 46: proximi holdun. Friesisch holda, houda, Richt-
hofen
, WB S 823.
6 Gotisch gadiliggs, Vetter; altsächs. gadulinc, ahd. katalinc, gatulinc, ags.
gædeling, urverwandt mit Gatte u. Gattung. Grimm, WB IV 1 Sp 1493. Haltaus
I 582. Ssp Landr. II 31, 1.
7 Grimm, WB VI 1435; RA S 468.
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[82/0100] § 13. Die Sippe. Beschränkungen, welche in fränkischer Zeit auftauchen und die Bluts- gemeinschaft nur innerhalb einer bestimmten Zahl von Verwandtschafts- gliedern als wirksam betrachten, müssen der Urzeit fremd gewesen sein. Denn trotz jener Beschränkungen hat die Volksanschauung noch lange daran festgehalten, daſs die Gemeinsamkeit des Blutes sich geltend mache und wenn sie auch noch so gering sei. Ein Rechts- sprichwort sagt: Freundesblut wallt und wenn es auch nur ein Tropfen ist. Und auf uralten Aberglauben scheint eine Verwandt- schaftsprobe zurückzuführen, über welche eine holländische Rechts- quelle des 15. Jahrhunderts berichtet. Wenn der Leichnam eines Ermordeten oder eines Ertrunkenen nach langer Zeit aufgefunden wird und jemand wissen will, ob er mit dem Toten verwandt sei, so füge er sich eine Schnittwunde bei und lasse das Blut auf den Leichnam niederträufeln. Ist es das Blut eines Verwandten, und sei die Verwandtschaft noch so ferne, so hält es der Leichnam fest und kann es trotz alles Waschens nicht wieder beseitigt werden 3. Mit der Anschauung des Naturvolkes, welches den auf sinnlicher Wahrnehmung beruhenden Beweis der Verwandtschaft bevorzugt, haben die Germanen die durch Weiber vermittelte Blutsgemeinschaft in manchen Beziehungen höher geachtet wie die durch Männer ver- mittelte. Das Verhältnis zwischen Neffe und Mutterbruder gilt für eben so eng wie das zwischen Sohn und Vater. Bei der Stellung von Geiseln wird die mütterliche Verwandtschaft als stärkere Sicher- heit betrachtet 4. Dagegen hat das sogenannte Mutterrecht bei den Germanen, wie bereits oben S. 80 betont werden muſste, zur Zeit ihres Eintrittes in die Geschichte nicht mehr bestanden. Die Verwandten heiſsen Gesippen, Freunde, Holde 5, Gätlinge 6. Die Westgermanen bezeichnen sie auch als Magen (ahd. mâg, ags. mæ̂g), während gotisch mêgs, altnordisch mâgr auf die Schwägerschaft bezogen wird 7. Die Magen zerfallen in Vatermagen und Muttermagen, Ausdrücke, die häufig in der Weise verwendet werden, daſs Vater- magen die nur durch den Vater, Muttermagen die nur durch die 3 Jan Matthijssen, Het Rechtsboek van den Briel, herausgeg. von J. A. Fruin und Pols 1880, S 220. 4 Tacitus, Germania c. 20. 5 Ahd. Glossen II 688, 46: proximi holdun. Friesisch holda, houda, Richt- hofen, WB S 823. 6 Gotisch gadiliggs, Vetter; altsächs. gadulinc, ahd. katalinc, gatulinc, ags. gædeling, urverwandt mit Gatte u. Gattung. Grimm, WB IV 1 Sp 1493. Haltaus I 582. Ssp Landr. II 31, 1. 7 Grimm, WB VI 1435; RA S 468.

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/100>, abgerufen am 23.11.2024.