Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 2. Stuttgart, 1859.

Bild:
<< vorherige Seite

mann bemerkt, einer Erscheinung in der Malerei, die wir in
derselben Weise auch aus der Sculptur kennen: dem leise
geöffneten Munde im Gegensatze zu dem geschlossenen und
gekniffenen des archaischen Styls. Auffälliger müsste es er-
scheinen, dass es weiter heisst: Polygnot habe in seinen Kö-
pfen die Zähne sehen lassen, wenn wir einen ähnlichen Aus-
druck, wie in den Köpfen der Satyrn u. a. voraussetzen
wollten. Eine richtige Erklärung wird sich vielleicht erst
auf folgendem Wege ergeben. Durch das Oeffnen des Mun-
des entsteht im Inneren desselben ein tiefer Schatten, dessen
falsche Behandlung in der Malerei leicht die ganze Wirkung,
welche durch das Oeffnen erstrebt wird, aufheben und ver-
nichten kann. Denn statt eines frischeren, lebensvolleren
Hauches erzeugt ein einförmiger schwarzer Schatten leicht
den Ausdruck der Kälte, der Starrheit, ja selbst der Dumm-
heit. Jenes grössere Leben entsteht erst durch die mannig-
fachen Wirkungen des Lichtes, welches sich im Inneren des
Mundes, namentlich an dem Weiss der Zähne bricht. Dar-
auf also wird Polygnot sein Augenmerk gerichtet haben,
wenn wir freilich auch nicht nachzuweisen vermögen, auf
welche Weise er mit den geringen technischen Mitteln, auf
welche sich damals die Malerei noch beschränkte, die beab-
sichtigte Wirkung erreichte. Diese selbst bezeichnet Plinius,
wenn er sagt: Polygnot habe den Ausdruck des Gesichts
von der alterthümlichen Strenge zu grösserer Mannigfaltigkeit
ausgebildet.

Der Fortschritt in der Bildung des Mundes allein würde
jedoch für diesen Zweck nicht genügt haben. Mindestens
eben so wichtig musste die Bildung des Auges sein. Hier
hatte zwar, wie wir gesehen haben, bereits Kimon von Kleo-
nae die wesentlichsten Verbesserungen eingeleitet; jedoch
scheint auch auf diesem Gebiete Polygnot seinen Vorgänger
übertroffen zu haben. Denn während dessen Verdienste sich
hauptsächlich auf die Vervollkommnung und naturgemässere
Richtigkeit der Zeichnung zu beziehen scheinen, wodurch frei-
lich zugleich auch eine grössere Mannigfaltigkeit des Aus-
druckes möglich wurde, lässt uns das Lob, welches Lucian1)
den Augenbrauen der Kassandra des Polygnot ertheilt, beson-

1) Imagg. 7.

mann bemerkt, einer Erscheinung in der Malerei, die wir in
derselben Weise auch aus der Sculptur kennen: dem leise
geöffneten Munde im Gegensatze zu dem geschlossenen und
gekniffenen des archaischen Styls. Auffälliger müsste es er-
scheinen, dass es weiter heisst: Polygnot habe in seinen Kö-
pfen die Zähne sehen lassen, wenn wir einen ähnlichen Aus-
druck, wie in den Köpfen der Satyrn u. a. voraussetzen
wollten. Eine richtige Erklärung wird sich vielleicht erst
auf folgendem Wege ergeben. Durch das Oeffnen des Mun-
des entsteht im Inneren desselben ein tiefer Schatten, dessen
falsche Behandlung in der Malerei leicht die ganze Wirkung,
welche durch das Oeffnen erstrebt wird, aufheben und ver-
nichten kann. Denn statt eines frischeren, lebensvolleren
Hauches erzeugt ein einförmiger schwarzer Schatten leicht
den Ausdruck der Kälte, der Starrheit, ja selbst der Dumm-
heit. Jenes grössere Leben entsteht erst durch die mannig-
fachen Wirkungen des Lichtes, welches sich im Inneren des
Mundes, namentlich an dem Weiss der Zähne bricht. Dar-
auf also wird Polygnot sein Augenmerk gerichtet haben,
wenn wir freilich auch nicht nachzuweisen vermögen, auf
welche Weise er mit den geringen technischen Mitteln, auf
welche sich damals die Malerei noch beschränkte, die beab-
sichtigte Wirkung erreichte. Diese selbst bezeichnet Plinius,
wenn er sagt: Polygnot habe den Ausdruck des Gesichts
von der alterthümlichen Strenge zu grösserer Mannigfaltigkeit
ausgebildet.

Der Fortschritt in der Bildung des Mundes allein würde
jedoch für diesen Zweck nicht genügt haben. Mindestens
eben so wichtig musste die Bildung des Auges sein. Hier
hatte zwar, wie wir gesehen haben, bereits Kimon von Kleo-
nae die wesentlichsten Verbesserungen eingeleitet; jedoch
scheint auch auf diesem Gebiete Polygnot seinen Vorgänger
übertroffen zu haben. Denn während dessen Verdienste sich
hauptsächlich auf die Vervollkommnung und naturgemässere
Richtigkeit der Zeichnung zu beziehen scheinen, wodurch frei-
lich zugleich auch eine grössere Mannigfaltigkeit des Aus-
druckes möglich wurde, lässt uns das Lob, welches Lucian1)
den Augenbrauen der Kassandra des Polygnot ertheilt, beson-

1) Imagg. 7.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0047" n="30"/>
mann bemerkt, einer Erscheinung in der Malerei, die wir in<lb/>
derselben Weise auch aus der Sculptur kennen: dem leise<lb/>
geöffneten Munde im Gegensatze zu dem geschlossenen und<lb/>
gekniffenen des archaischen Styls. Auffälliger müsste es er-<lb/>
scheinen, dass es weiter heisst: Polygnot habe in seinen Kö-<lb/>
pfen die Zähne sehen lassen, wenn wir einen ähnlichen Aus-<lb/>
druck, wie in den Köpfen der Satyrn u. a. voraussetzen<lb/>
wollten. Eine richtige Erklärung wird sich vielleicht erst<lb/>
auf folgendem Wege ergeben. Durch das Oeffnen des Mun-<lb/>
des entsteht im Inneren desselben ein tiefer Schatten, dessen<lb/>
falsche Behandlung in der Malerei leicht die ganze Wirkung,<lb/>
welche durch das Oeffnen erstrebt wird, aufheben und ver-<lb/>
nichten kann. Denn statt eines frischeren, lebensvolleren<lb/>
Hauches erzeugt ein einförmiger schwarzer Schatten leicht<lb/>
den Ausdruck der Kälte, der Starrheit, ja selbst der Dumm-<lb/>
heit. Jenes grössere Leben entsteht erst durch die mannig-<lb/>
fachen Wirkungen des Lichtes, welches sich im Inneren des<lb/>
Mundes, namentlich an dem Weiss der Zähne bricht. Dar-<lb/>
auf also wird Polygnot sein Augenmerk gerichtet haben,<lb/>
wenn wir freilich auch nicht nachzuweisen vermögen, auf<lb/>
welche Weise er mit den geringen technischen Mitteln, auf<lb/>
welche sich damals die Malerei noch beschränkte, die beab-<lb/>
sichtigte Wirkung erreichte. Diese selbst bezeichnet Plinius,<lb/>
wenn er sagt: Polygnot habe den Ausdruck des Gesichts<lb/>
von der alterthümlichen Strenge zu grösserer Mannigfaltigkeit<lb/>
ausgebildet.</p><lb/>
            <p>Der Fortschritt in der Bildung des Mundes allein würde<lb/>
jedoch für diesen Zweck nicht genügt haben. Mindestens<lb/>
eben so wichtig musste die Bildung des Auges sein. Hier<lb/>
hatte zwar, wie wir gesehen haben, bereits Kimon von Kleo-<lb/>
nae die wesentlichsten Verbesserungen eingeleitet; jedoch<lb/>
scheint auch auf diesem Gebiete Polygnot seinen Vorgänger<lb/>
übertroffen zu haben. Denn während dessen Verdienste sich<lb/>
hauptsächlich auf die Vervollkommnung und naturgemässere<lb/>
Richtigkeit der Zeichnung zu beziehen scheinen, wodurch frei-<lb/>
lich zugleich auch eine grössere Mannigfaltigkeit des Aus-<lb/>
druckes möglich wurde, lässt uns das Lob, welches Lucian<note place="foot" n="1)">Imagg. 7.</note><lb/>
den Augenbrauen der Kassandra des Polygnot ertheilt, beson-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[30/0047] mann bemerkt, einer Erscheinung in der Malerei, die wir in derselben Weise auch aus der Sculptur kennen: dem leise geöffneten Munde im Gegensatze zu dem geschlossenen und gekniffenen des archaischen Styls. Auffälliger müsste es er- scheinen, dass es weiter heisst: Polygnot habe in seinen Kö- pfen die Zähne sehen lassen, wenn wir einen ähnlichen Aus- druck, wie in den Köpfen der Satyrn u. a. voraussetzen wollten. Eine richtige Erklärung wird sich vielleicht erst auf folgendem Wege ergeben. Durch das Oeffnen des Mun- des entsteht im Inneren desselben ein tiefer Schatten, dessen falsche Behandlung in der Malerei leicht die ganze Wirkung, welche durch das Oeffnen erstrebt wird, aufheben und ver- nichten kann. Denn statt eines frischeren, lebensvolleren Hauches erzeugt ein einförmiger schwarzer Schatten leicht den Ausdruck der Kälte, der Starrheit, ja selbst der Dumm- heit. Jenes grössere Leben entsteht erst durch die mannig- fachen Wirkungen des Lichtes, welches sich im Inneren des Mundes, namentlich an dem Weiss der Zähne bricht. Dar- auf also wird Polygnot sein Augenmerk gerichtet haben, wenn wir freilich auch nicht nachzuweisen vermögen, auf welche Weise er mit den geringen technischen Mitteln, auf welche sich damals die Malerei noch beschränkte, die beab- sichtigte Wirkung erreichte. Diese selbst bezeichnet Plinius, wenn er sagt: Polygnot habe den Ausdruck des Gesichts von der alterthümlichen Strenge zu grösserer Mannigfaltigkeit ausgebildet. Der Fortschritt in der Bildung des Mundes allein würde jedoch für diesen Zweck nicht genügt haben. Mindestens eben so wichtig musste die Bildung des Auges sein. Hier hatte zwar, wie wir gesehen haben, bereits Kimon von Kleo- nae die wesentlichsten Verbesserungen eingeleitet; jedoch scheint auch auf diesem Gebiete Polygnot seinen Vorgänger übertroffen zu haben. Denn während dessen Verdienste sich hauptsächlich auf die Vervollkommnung und naturgemässere Richtigkeit der Zeichnung zu beziehen scheinen, wodurch frei- lich zugleich auch eine grössere Mannigfaltigkeit des Aus- druckes möglich wurde, lässt uns das Lob, welches Lucian 1) den Augenbrauen der Kassandra des Polygnot ertheilt, beson- 1) Imagg. 7.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Der zweite Band der "Geschichte der griechischen … [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen02_1859
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen02_1859/47
Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 2. Stuttgart, 1859, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen02_1859/47>, abgerufen am 24.11.2024.