Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 2. Stuttgart, 1859.

Bild:
<< vorherige Seite

Linien des Apelles und Protogenes, mit welcher sie bei Pli-
nius noch dazu in enger Verbindung erscheint. Freilich hat
man auch diese durch die Annahme erklären zu müssen ge-
glaubt, dass die Linie des Apelles den Umriss irgend eines
bestimmten Objectes dargestellt habe. Aber in den Worten
des Plinius ist dies auf keine Weise angedeutet: er spricht
durchaus nur von drei Linien, die durch ihre Feinheit dem
Auge fast verschwänden, und von der höchsten Schärfe, mit
der die spätere Linie die frühere (der Länge nach) durch-
schnitten und getheilt habe. Protogenes mochte an dem zar-
ten Schwunge, der Feinheit und Sicherheit des Striches einer
beliebigen Linie den Meister erkennen. Aber indem er noch
dem Glauben Raum geben durfte, dass eine freie Genialität,
nicht ein bewusstes Können dem Künstler die Hand geführt,
zog er ohne die Freiheit, welche Apelles bei der ersten
Linie genossen hatte, in diese eine zweite noch feinere, und
erklärte sich erst dadurch für besiegt, dass Apelles nun
unter den gleichen Schwierigkeiten ihn nochmals in der Fein-
heit überbot und zugleich dadurch bewies, dass die Sicherheit
seiner Hand bei freier Bewegung, wie bei einem bestimmt
vorgeschriebenen Zwecke durchaus dieselbe bleibe.

Apelles hatte es also durch ununterbrochene Uebung da-
hin gebracht, dass seine Hand in der Zeichnung seinem
Willen durchaus Folge leistete. Aber eine solche Meister-
schaft, wie jede Virtuosität, kann, in falscher Richtung an-
gewendet, für die wahre Kunst eben so verderblich werden,
als sie sonst nutzbringend ist. Wir müssen daher weiter
fragen, welchen Gebrauch Apelles von ihr machte. Unsere
Nachrichten darüber sind leider äusserst dürftig. Von dem
Bilde Alexanders zu Ephesos heisst es: die Finger scheinen
hervorzutreten und der Blitz sich ausserhalb der Tafel zu
befinden.1) Zumeist wird diese Wirkung allerdings durch
die richtige Beobachtung des Helldunkels erreicht worden
sein; doch setzt das Hervortreten der Finger zugleich auch
eine hohe Meisterschaft der Zeichnung voraus. Sodann ge-
hört hierher, was Plinius2) von dem abgewendeten Herakles
bemerkt, dass das Bild sein Gesicht mehr wirklich zu zeigen,
als errathen zu lassen schien: nemlich das Auge sah aller-

1) Plin. 35, 92.
2) 35, 93.

Linien des Apelles und Protogenes, mit welcher sie bei Pli-
nius noch dazu in enger Verbindung erscheint. Freilich hat
man auch diese durch die Annahme erklären zu müssen ge-
glaubt, dass die Linie des Apelles den Umriss irgend eines
bestimmten Objectes dargestellt habe. Aber in den Worten
des Plinius ist dies auf keine Weise angedeutet: er spricht
durchaus nur von drei Linien, die durch ihre Feinheit dem
Auge fast verschwänden, und von der höchsten Schärfe, mit
der die spätere Linie die frühere (der Länge nach) durch-
schnitten und getheilt habe. Protogenes mochte an dem zar-
ten Schwunge, der Feinheit und Sicherheit des Striches einer
beliebigen Linie den Meister erkennen. Aber indem er noch
dem Glauben Raum geben durfte, dass eine freie Genialität,
nicht ein bewusstes Können dem Künstler die Hand geführt,
zog er ohne die Freiheit, welche Apelles bei der ersten
Linie genossen hatte, in diese eine zweite noch feinere, und
erklärte sich erst dadurch für besiegt, dass Apelles nun
unter den gleichen Schwierigkeiten ihn nochmals in der Fein-
heit überbot und zugleich dadurch bewies, dass die Sicherheit
seiner Hand bei freier Bewegung, wie bei einem bestimmt
vorgeschriebenen Zwecke durchaus dieselbe bleibe.

Apelles hatte es also durch ununterbrochene Uebung da-
hin gebracht, dass seine Hand in der Zeichnung seinem
Willen durchaus Folge leistete. Aber eine solche Meister-
schaft, wie jede Virtuosität, kann, in falscher Richtung an-
gewendet, für die wahre Kunst eben so verderblich werden,
als sie sonst nutzbringend ist. Wir müssen daher weiter
fragen, welchen Gebrauch Apelles von ihr machte. Unsere
Nachrichten darüber sind leider äusserst dürftig. Von dem
Bilde Alexanders zu Ephesos heisst es: die Finger scheinen
hervorzutreten und der Blitz sich ausserhalb der Tafel zu
befinden.1) Zumeist wird diese Wirkung allerdings durch
die richtige Beobachtung des Helldunkels erreicht worden
sein; doch setzt das Hervortreten der Finger zugleich auch
eine hohe Meisterschaft der Zeichnung voraus. Sodann ge-
hört hierher, was Plinius2) von dem abgewendeten Herakles
bemerkt, dass das Bild sein Gesicht mehr wirklich zu zeigen,
als errathen zu lassen schien: nemlich das Auge sah aller-

1) Plin. 35, 92.
2) 35, 93.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0240" n="223"/>
Linien des Apelles und Protogenes, mit welcher sie bei Pli-<lb/>
nius noch dazu in enger Verbindung erscheint. Freilich hat<lb/>
man auch diese durch die Annahme erklären zu müssen ge-<lb/>
glaubt, dass die Linie des Apelles den Umriss irgend eines<lb/>
bestimmten Objectes dargestellt habe. Aber in den Worten<lb/>
des Plinius ist dies auf keine Weise angedeutet: er spricht<lb/>
durchaus nur von drei Linien, die durch ihre Feinheit dem<lb/>
Auge fast verschwänden, und von der höchsten Schärfe, mit<lb/>
der die spätere Linie die frühere (der Länge nach) durch-<lb/>
schnitten und getheilt habe. Protogenes mochte an dem zar-<lb/>
ten Schwunge, der Feinheit und Sicherheit des Striches einer<lb/>
beliebigen Linie den Meister erkennen. Aber indem er noch<lb/>
dem Glauben Raum geben durfte, dass eine freie Genialität,<lb/>
nicht ein bewusstes Können dem Künstler die Hand geführt,<lb/>
zog er ohne die Freiheit, welche Apelles bei der ersten<lb/>
Linie genossen hatte, in diese eine zweite noch feinere, und<lb/>
erklärte sich erst dadurch für besiegt, dass Apelles nun<lb/>
unter den gleichen Schwierigkeiten ihn nochmals in der Fein-<lb/>
heit überbot und zugleich dadurch bewies, dass die Sicherheit<lb/>
seiner Hand bei freier Bewegung, wie bei einem bestimmt<lb/>
vorgeschriebenen Zwecke durchaus dieselbe bleibe.</p><lb/>
              <p>Apelles hatte es also durch ununterbrochene Uebung da-<lb/>
hin gebracht, dass seine Hand in der Zeichnung seinem<lb/>
Willen durchaus Folge leistete. Aber eine solche Meister-<lb/>
schaft, wie jede Virtuosität, kann, in falscher Richtung an-<lb/>
gewendet, für die wahre Kunst eben so verderblich werden,<lb/>
als sie sonst nutzbringend ist. Wir müssen daher weiter<lb/>
fragen, welchen Gebrauch Apelles von ihr machte. Unsere<lb/>
Nachrichten darüber sind leider äusserst dürftig. Von dem<lb/>
Bilde Alexanders zu Ephesos heisst es: die Finger scheinen<lb/>
hervorzutreten und der Blitz sich ausserhalb der Tafel zu<lb/>
befinden.<note place="foot" n="1)">Plin. 35, 92.</note> Zumeist wird diese Wirkung allerdings durch<lb/>
die richtige Beobachtung des Helldunkels erreicht worden<lb/>
sein; doch setzt das Hervortreten der Finger zugleich auch<lb/>
eine hohe Meisterschaft der Zeichnung voraus. Sodann ge-<lb/>
hört hierher, was Plinius<note place="foot" n="2)">35, 93.</note> von dem abgewendeten Herakles<lb/>
bemerkt, dass das Bild sein Gesicht mehr wirklich zu zeigen,<lb/>
als errathen zu lassen schien: nemlich das Auge sah aller-<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[223/0240] Linien des Apelles und Protogenes, mit welcher sie bei Pli- nius noch dazu in enger Verbindung erscheint. Freilich hat man auch diese durch die Annahme erklären zu müssen ge- glaubt, dass die Linie des Apelles den Umriss irgend eines bestimmten Objectes dargestellt habe. Aber in den Worten des Plinius ist dies auf keine Weise angedeutet: er spricht durchaus nur von drei Linien, die durch ihre Feinheit dem Auge fast verschwänden, und von der höchsten Schärfe, mit der die spätere Linie die frühere (der Länge nach) durch- schnitten und getheilt habe. Protogenes mochte an dem zar- ten Schwunge, der Feinheit und Sicherheit des Striches einer beliebigen Linie den Meister erkennen. Aber indem er noch dem Glauben Raum geben durfte, dass eine freie Genialität, nicht ein bewusstes Können dem Künstler die Hand geführt, zog er ohne die Freiheit, welche Apelles bei der ersten Linie genossen hatte, in diese eine zweite noch feinere, und erklärte sich erst dadurch für besiegt, dass Apelles nun unter den gleichen Schwierigkeiten ihn nochmals in der Fein- heit überbot und zugleich dadurch bewies, dass die Sicherheit seiner Hand bei freier Bewegung, wie bei einem bestimmt vorgeschriebenen Zwecke durchaus dieselbe bleibe. Apelles hatte es also durch ununterbrochene Uebung da- hin gebracht, dass seine Hand in der Zeichnung seinem Willen durchaus Folge leistete. Aber eine solche Meister- schaft, wie jede Virtuosität, kann, in falscher Richtung an- gewendet, für die wahre Kunst eben so verderblich werden, als sie sonst nutzbringend ist. Wir müssen daher weiter fragen, welchen Gebrauch Apelles von ihr machte. Unsere Nachrichten darüber sind leider äusserst dürftig. Von dem Bilde Alexanders zu Ephesos heisst es: die Finger scheinen hervorzutreten und der Blitz sich ausserhalb der Tafel zu befinden. 1) Zumeist wird diese Wirkung allerdings durch die richtige Beobachtung des Helldunkels erreicht worden sein; doch setzt das Hervortreten der Finger zugleich auch eine hohe Meisterschaft der Zeichnung voraus. Sodann ge- hört hierher, was Plinius 2) von dem abgewendeten Herakles bemerkt, dass das Bild sein Gesicht mehr wirklich zu zeigen, als errathen zu lassen schien: nemlich das Auge sah aller- 1) Plin. 35, 92. 2) 35, 93.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Der zweite Band der "Geschichte der griechischen … [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen02_1859
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen02_1859/240
Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 2. Stuttgart, 1859, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen02_1859/240>, abgerufen am 25.11.2024.