Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 2. Stuttgart, 1859.

Bild:
<< vorherige Seite

dieser besondern Kunst geleistet haben, wenn auch nach
sehr verschiedenen Seiten hin. Es liegt im Wesen der Ma-
lerei, dass sie nicht die Dinge selbst als Körper, sondern
nur den Schein der Dinge zur Darstellung zu bringen ver-
mag. Dieser Schein aber wird für den äusseren Sinn durch
die Wirkung von Licht und Schatten hervorgebracht, indem
dadurch eines Theils die Farbe, andern Theils die Beschaffen-
heit der Form wahrnehmbar wird. Auf je eine dieser beiden
Seiten richteten die Nachfolger des Polygnot ihre vorwie-
gende Aufmerksamkeit, und im Hinblick hierauf können wir
sagen, dass durch sie die eigentliche Malerei überhaupt erst
ihre selbstständige Ausbildung erhalten habe. Wenn hier-
nach die äussere Erscheinung der Dinge den Ausgangspunkt
ihrer Thätigkeit bildete, so war doch die Darstellung der-
selben nicht für sich selbst und allein Zweck, wohl aber
bedingte sie die gesammte Auffassung auch in Hinsicht auf
den geistigen Theil der zu lösenden Aufgaben. So wählt
Zeuxis, da die Farbe nach Gesammtwirkung streben muss,
mit Vorliebe solche Stoffe zur Darstellung, welche schon durch
eine passende Zusammenstellung oder durch geschickte Wahl
des Moments oder der Situationen, also durch die Anlage
des Werkes in seiner Gesammtheit, das Interesse des Be-
schauers zu fesseln vermögen. Wie dagegen die vollendete
Darstellung der Form ein Eingehen in die feinsten Gliede-
rungen und Einzelnheiten verlangt, die höchsten, in den
flüchtigsten Mienen und Bewegungen sich aussprechenden
Feinheiten aber im Grunde noch mehr geistige als formelle
Bedeutung haben, so finden auch die Bestrebungen des
Parrhasios erst auf dem letzteren Gebiete ihren End- und
Zielpunkt, indem der Durchbildung der Form eine nicht
minder durchgebildete Feinheit der Charakteristik und des
Ausdrucks entspricht.

So sind Zeuxis und Parrhasios dem Polygnot gegenüber
die Vertreter einer neuen Kunstrichtung, aber nicht in der
Weise, dass sie auf gemeinsamem Wege ein gemeinsames
Ziel verfolgten. Vielmehr laufen ihre Bestrebungen neben
einander fort, fast ohne sich anders zu berühren als in dem
allgemeinen Endzwecke, die Kunst der Malerei einer höheren
Stufe der Vollendung entgegenzuführen. Jeder ist in seiner
Weise bedeutend; und wem der grössere Ruhm gebühre, ist

dieser besondern Kunst geleistet haben, wenn auch nach
sehr verschiedenen Seiten hin. Es liegt im Wesen der Ma-
lerei, dass sie nicht die Dinge selbst als Körper, sondern
nur den Schein der Dinge zur Darstellung zu bringen ver-
mag. Dieser Schein aber wird für den äusseren Sinn durch
die Wirkung von Licht und Schatten hervorgebracht, indem
dadurch eines Theils die Farbe, andern Theils die Beschaffen-
heit der Form wahrnehmbar wird. Auf je eine dieser beiden
Seiten richteten die Nachfolger des Polygnot ihre vorwie-
gende Aufmerksamkeit, und im Hinblick hierauf können wir
sagen, dass durch sie die eigentliche Malerei überhaupt erst
ihre selbstständige Ausbildung erhalten habe. Wenn hier-
nach die äussere Erscheinung der Dinge den Ausgangspunkt
ihrer Thätigkeit bildete, so war doch die Darstellung der-
selben nicht für sich selbst und allein Zweck, wohl aber
bedingte sie die gesammte Auffassung auch in Hinsicht auf
den geistigen Theil der zu lösenden Aufgaben. So wählt
Zeuxis, da die Farbe nach Gesammtwirkung streben muss,
mit Vorliebe solche Stoffe zur Darstellung, welche schon durch
eine passende Zusammenstellung oder durch geschickte Wahl
des Moments oder der Situationen, also durch die Anlage
des Werkes in seiner Gesammtheit, das Interesse des Be-
schauers zu fesseln vermögen. Wie dagegen die vollendete
Darstellung der Form ein Eingehen in die feinsten Gliede-
rungen und Einzelnheiten verlangt, die höchsten, in den
flüchtigsten Mienen und Bewegungen sich aussprechenden
Feinheiten aber im Grunde noch mehr geistige als formelle
Bedeutung haben, so finden auch die Bestrebungen des
Parrhasios erst auf dem letzteren Gebiete ihren End- und
Zielpunkt, indem der Durchbildung der Form eine nicht
minder durchgebildete Feinheit der Charakteristik und des
Ausdrucks entspricht.

So sind Zeuxis und Parrhasios dem Polygnot gegenüber
die Vertreter einer neuen Kunstrichtung, aber nicht in der
Weise, dass sie auf gemeinsamem Wege ein gemeinsames
Ziel verfolgten. Vielmehr laufen ihre Bestrebungen neben
einander fort, fast ohne sich anders zu berühren als in dem
allgemeinen Endzwecke, die Kunst der Malerei einer höheren
Stufe der Vollendung entgegenzuführen. Jeder ist in seiner
Weise bedeutend; und wem der grössere Ruhm gebühre, ist

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0134" n="117"/>
dieser besondern Kunst geleistet haben, wenn auch nach<lb/>
sehr verschiedenen Seiten hin. Es liegt im Wesen der Ma-<lb/>
lerei, dass sie nicht die Dinge selbst als Körper, sondern<lb/>
nur den Schein der Dinge zur Darstellung zu bringen ver-<lb/>
mag. Dieser Schein aber wird für den äusseren Sinn durch<lb/>
die Wirkung von Licht und Schatten hervorgebracht, indem<lb/>
dadurch eines Theils die Farbe, andern Theils die Beschaffen-<lb/>
heit der Form wahrnehmbar wird. Auf je eine dieser beiden<lb/>
Seiten richteten die Nachfolger des Polygnot ihre vorwie-<lb/>
gende Aufmerksamkeit, und im Hinblick hierauf können wir<lb/>
sagen, dass durch sie die eigentliche Malerei überhaupt erst<lb/>
ihre selbstständige Ausbildung erhalten habe. Wenn hier-<lb/>
nach die äussere Erscheinung der Dinge den Ausgangspunkt<lb/>
ihrer Thätigkeit bildete, so war doch die Darstellung der-<lb/>
selben nicht für sich selbst und allein Zweck, wohl aber<lb/>
bedingte sie die gesammte Auffassung auch in Hinsicht auf<lb/>
den geistigen Theil der zu lösenden Aufgaben. So wählt<lb/>
Zeuxis, da die Farbe nach Gesammtwirkung streben muss,<lb/>
mit Vorliebe solche Stoffe zur Darstellung, welche schon durch<lb/>
eine passende Zusammenstellung oder durch geschickte Wahl<lb/>
des Moments oder der Situationen, also durch die Anlage<lb/>
des Werkes in seiner Gesammtheit, das Interesse des Be-<lb/>
schauers zu fesseln vermögen. Wie dagegen die vollendete<lb/>
Darstellung der Form ein Eingehen in die feinsten Gliede-<lb/>
rungen und Einzelnheiten verlangt, die höchsten, in den<lb/>
flüchtigsten Mienen und Bewegungen sich aussprechenden<lb/>
Feinheiten aber im Grunde noch mehr geistige als formelle<lb/>
Bedeutung haben, so finden auch die Bestrebungen des<lb/>
Parrhasios erst auf dem letzteren Gebiete ihren End- und<lb/>
Zielpunkt, indem der Durchbildung der Form eine nicht<lb/>
minder durchgebildete Feinheit der Charakteristik und des<lb/>
Ausdrucks entspricht.</p><lb/>
            <p>So sind Zeuxis und Parrhasios dem Polygnot gegenüber<lb/>
die Vertreter einer neuen Kunstrichtung, aber nicht in der<lb/>
Weise, dass sie auf gemeinsamem Wege ein gemeinsames<lb/>
Ziel verfolgten. Vielmehr laufen ihre Bestrebungen neben<lb/>
einander fort, fast ohne sich anders zu berühren als in dem<lb/>
allgemeinen Endzwecke, die Kunst der Malerei einer höheren<lb/>
Stufe der Vollendung entgegenzuführen. Jeder ist in seiner<lb/>
Weise bedeutend; und wem der grössere Ruhm gebühre, ist<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[117/0134] dieser besondern Kunst geleistet haben, wenn auch nach sehr verschiedenen Seiten hin. Es liegt im Wesen der Ma- lerei, dass sie nicht die Dinge selbst als Körper, sondern nur den Schein der Dinge zur Darstellung zu bringen ver- mag. Dieser Schein aber wird für den äusseren Sinn durch die Wirkung von Licht und Schatten hervorgebracht, indem dadurch eines Theils die Farbe, andern Theils die Beschaffen- heit der Form wahrnehmbar wird. Auf je eine dieser beiden Seiten richteten die Nachfolger des Polygnot ihre vorwie- gende Aufmerksamkeit, und im Hinblick hierauf können wir sagen, dass durch sie die eigentliche Malerei überhaupt erst ihre selbstständige Ausbildung erhalten habe. Wenn hier- nach die äussere Erscheinung der Dinge den Ausgangspunkt ihrer Thätigkeit bildete, so war doch die Darstellung der- selben nicht für sich selbst und allein Zweck, wohl aber bedingte sie die gesammte Auffassung auch in Hinsicht auf den geistigen Theil der zu lösenden Aufgaben. So wählt Zeuxis, da die Farbe nach Gesammtwirkung streben muss, mit Vorliebe solche Stoffe zur Darstellung, welche schon durch eine passende Zusammenstellung oder durch geschickte Wahl des Moments oder der Situationen, also durch die Anlage des Werkes in seiner Gesammtheit, das Interesse des Be- schauers zu fesseln vermögen. Wie dagegen die vollendete Darstellung der Form ein Eingehen in die feinsten Gliede- rungen und Einzelnheiten verlangt, die höchsten, in den flüchtigsten Mienen und Bewegungen sich aussprechenden Feinheiten aber im Grunde noch mehr geistige als formelle Bedeutung haben, so finden auch die Bestrebungen des Parrhasios erst auf dem letzteren Gebiete ihren End- und Zielpunkt, indem der Durchbildung der Form eine nicht minder durchgebildete Feinheit der Charakteristik und des Ausdrucks entspricht. So sind Zeuxis und Parrhasios dem Polygnot gegenüber die Vertreter einer neuen Kunstrichtung, aber nicht in der Weise, dass sie auf gemeinsamem Wege ein gemeinsames Ziel verfolgten. Vielmehr laufen ihre Bestrebungen neben einander fort, fast ohne sich anders zu berühren als in dem allgemeinen Endzwecke, die Kunst der Malerei einer höheren Stufe der Vollendung entgegenzuführen. Jeder ist in seiner Weise bedeutend; und wem der grössere Ruhm gebühre, ist

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Der zweite Band der "Geschichte der griechischen … [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen02_1859
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen02_1859/134
Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 2. Stuttgart, 1859, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen02_1859/134>, abgerufen am 28.11.2024.