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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 2. Stuttgart, 1859.

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lernen, auf welchen Vorbedingungen die Möglichkeit dieser
scharfen und eingehenden Charakteristik beruhte, welche seinen
Gestalten jenes hohe, gewissermassen kanonische Ansehen
verlieh.

Halten wir also als Thatsache fest, dass die Eigenthüm-
lichkeit des Parrhasios auf der scharfen Auffassung und
feinen Durchführung des Psychologischen in den Charakteren
beruhte, so wird dadurch seine Stellung in der Entwicke-
lungsgeschichte der Kunst sehr bestimmt bezeichnet. Wäh-
rend Polygnot in seinen Gestalten vor Allem das Ethos, den
bleibenden, dauernden Grundcharakter darzustellen und den-
selben durch einfache, aber um so klarer und schärfer ge-
fasste Formen zum Ausdruck zu bringen strebte, ging Par-
rhasios ganz im Gegensatz dazu von der Beobachtung der
einzelnsten und vorübergehendsten Züge aus. Aber so scharf
auch seine Beobachtungsgabe sein mochte, so war doch sein
Ausgangspunkt mehr ein äusserlicher, als ein auf tieferer
Erkenntniss der innern Gründe beruhender, wie bei Polygnot,
der überall das von ihm zur Anschauung gebrachte Ethos
als ein nothwendiges, aus einer einheitlichen Idee von innen
erwachsenes hinzustellen, also das Mannigfaltige aus der
Einheit zu entwickeln bestrebt war. Gerade umgekehrt geht
Parrhasios darauf aus, eine Fülle verschiedenartiger Züge
zur Einheit eines Charakters zusammenzufassen, und, wie im
Demos, selbst die widersprechendsten Eigenschaften und
Stimmungen als in einer Person vereinigt zu zeigen. Aber
gerade an diesem Beispiele zeigt sich, dass ein solcher Cha-
rakter nicht als aus einer inneren Nothwendigkeit entsprun-
gen gelten kann. Denn die Aufgabe musste schon dann als
gelöst betrachtet werden, sobald nur die Widersprüche als
unter einander versöhnt erschienen. Das Ziel des Künstlers
war also, um es kurz auszudrücken, nicht mehr das Noth-
wendige, sondern nur das Wahrscheinliche oder Wahre.

Wenn wir uns jetzt erinnern, dass wir bei Zeuxis in der
Auffassung der Handlung ein ähnliches Herabsteigen vom
Nothwendigen zum Wahrscheinlichen fanden, so scheinen
wir dadurch zu dem Schlusse geführt zu werden, dass zwi-
schen beiden Künstlern hinsichtlich der Endpunkte ihrer Be-
strebungen eine gewisse Gemeinsamkeit obgewaltet habe.
Bisher aber begegneten wir wenigstens in Betreff der Mittel

8*

lernen, auf welchen Vorbedingungen die Möglichkeit dieser
scharfen und eingehenden Charakteristik beruhte, welche seinen
Gestalten jenes hohe, gewissermassen kanonische Ansehen
verlieh.

Halten wir also als Thatsache fest, dass die Eigenthüm-
lichkeit des Parrhasios auf der scharfen Auffassung und
feinen Durchführung des Psychologischen in den Charakteren
beruhte, so wird dadurch seine Stellung in der Entwicke-
lungsgeschichte der Kunst sehr bestimmt bezeichnet. Wäh-
rend Polygnot in seinen Gestalten vor Allem das Ethos, den
bleibenden, dauernden Grundcharakter darzustellen und den-
selben durch einfache, aber um so klarer und schärfer ge-
fasste Formen zum Ausdruck zu bringen strebte, ging Par-
rhasios ganz im Gegensatz dazu von der Beobachtung der
einzelnsten und vorübergehendsten Züge aus. Aber so scharf
auch seine Beobachtungsgabe sein mochte, so war doch sein
Ausgangspunkt mehr ein äusserlicher, als ein auf tieferer
Erkenntniss der innern Gründe beruhender, wie bei Polygnot,
der überall das von ihm zur Anschauung gebrachte Ethos
als ein nothwendiges, aus einer einheitlichen Idee von innen
erwachsenes hinzustellen, also das Mannigfaltige aus der
Einheit zu entwickeln bestrebt war. Gerade umgekehrt geht
Parrhasios darauf aus, eine Fülle verschiedenartiger Züge
zur Einheit eines Charakters zusammenzufassen, und, wie im
Demos, selbst die widersprechendsten Eigenschaften und
Stimmungen als in einer Person vereinigt zu zeigen. Aber
gerade an diesem Beispiele zeigt sich, dass ein solcher Cha-
rakter nicht als aus einer inneren Nothwendigkeit entsprun-
gen gelten kann. Denn die Aufgabe musste schon dann als
gelöst betrachtet werden, sobald nur die Widersprüche als
unter einander versöhnt erschienen. Das Ziel des Künstlers
war also, um es kurz auszudrücken, nicht mehr das Noth-
wendige, sondern nur das Wahrscheinliche oder Wahre.

Wenn wir uns jetzt erinnern, dass wir bei Zeuxis in der
Auffassung der Handlung ein ähnliches Herabsteigen vom
Nothwendigen zum Wahrscheinlichen fanden, so scheinen
wir dadurch zu dem Schlusse geführt zu werden, dass zwi-
schen beiden Künstlern hinsichtlich der Endpunkte ihrer Be-
strebungen eine gewisse Gemeinsamkeit obgewaltet habe.
Bisher aber begegneten wir wenigstens in Betreff der Mittel

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[115/0132] lernen, auf welchen Vorbedingungen die Möglichkeit dieser scharfen und eingehenden Charakteristik beruhte, welche seinen Gestalten jenes hohe, gewissermassen kanonische Ansehen verlieh. Halten wir also als Thatsache fest, dass die Eigenthüm- lichkeit des Parrhasios auf der scharfen Auffassung und feinen Durchführung des Psychologischen in den Charakteren beruhte, so wird dadurch seine Stellung in der Entwicke- lungsgeschichte der Kunst sehr bestimmt bezeichnet. Wäh- rend Polygnot in seinen Gestalten vor Allem das Ethos, den bleibenden, dauernden Grundcharakter darzustellen und den- selben durch einfache, aber um so klarer und schärfer ge- fasste Formen zum Ausdruck zu bringen strebte, ging Par- rhasios ganz im Gegensatz dazu von der Beobachtung der einzelnsten und vorübergehendsten Züge aus. Aber so scharf auch seine Beobachtungsgabe sein mochte, so war doch sein Ausgangspunkt mehr ein äusserlicher, als ein auf tieferer Erkenntniss der innern Gründe beruhender, wie bei Polygnot, der überall das von ihm zur Anschauung gebrachte Ethos als ein nothwendiges, aus einer einheitlichen Idee von innen erwachsenes hinzustellen, also das Mannigfaltige aus der Einheit zu entwickeln bestrebt war. Gerade umgekehrt geht Parrhasios darauf aus, eine Fülle verschiedenartiger Züge zur Einheit eines Charakters zusammenzufassen, und, wie im Demos, selbst die widersprechendsten Eigenschaften und Stimmungen als in einer Person vereinigt zu zeigen. Aber gerade an diesem Beispiele zeigt sich, dass ein solcher Cha- rakter nicht als aus einer inneren Nothwendigkeit entsprun- gen gelten kann. Denn die Aufgabe musste schon dann als gelöst betrachtet werden, sobald nur die Widersprüche als unter einander versöhnt erschienen. Das Ziel des Künstlers war also, um es kurz auszudrücken, nicht mehr das Noth- wendige, sondern nur das Wahrscheinliche oder Wahre. Wenn wir uns jetzt erinnern, dass wir bei Zeuxis in der Auffassung der Handlung ein ähnliches Herabsteigen vom Nothwendigen zum Wahrscheinlichen fanden, so scheinen wir dadurch zu dem Schlusse geführt zu werden, dass zwi- schen beiden Künstlern hinsichtlich der Endpunkte ihrer Be- strebungen eine gewisse Gemeinsamkeit obgewaltet habe. Bisher aber begegneten wir wenigstens in Betreff der Mittel 8*

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 2. Stuttgart, 1859, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen02_1859/132>, abgerufen am 27.11.2024.