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Brunn, Heinrich: Geschichte der griechischen Künstler. T. 2, Abt. 1. Braunschweig, 1856.

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geistiger Bedeutung in verkleinerten Verhältnissen leicht ver-
loren gehen kann, geistige Grossartigkeit am besten auch bei
räumlicher Grösse ihren Ausdruck finden wird. So wer-
den wir denn in dem Urtheile Aelians die Ausdrücke me-
gala, megethos nicht nur materiell von räumlicher Grösse und
Ausdehnung verstehen dürfen, sondern im übertragenen Sinne
auf die Grossartigkeit der ganzen Auffassung beziehen müs-
sen. Polygnot malte also im grossen, idealen Style. Das wird
uns aber noch ausdrücklich bestätigt durch einen Zeugen,
dessen Urtheil ein noch bei weitem grösseres Gewicht für
uns haben muss, als das des Aelian, nemlich durch Aristoteles.
Auch Aristoteles stellt Polygnot mit Dionysios, und ausser-
dem mit Pauson zusammen. Sein Urtheil aber lässt das
Räumliche ganz unberücksichtigt und betrifft einzig die gei-
stige Auffassung: Polygnot bildete seine Gestalten über der
Wirklichkeit, Pauson unter derselben, Dionysios ihr entspre-
chend.1) Hier ist also der ideale Charakter der polygnoti-
schen Kunst mit einem Worte deutlich genug ausgesprochen.
Denn wenn Polygnot seine Gestalten vollkommener darstellte,
als sie uns in der Wirklichkeit vor Augen zu treten pflegen,
so war dies, wie wir in den Erörterungen über Phidias ge-
zeigt haben, nur möglich, indem er sie frei von den Zufällig-
keiten und Mängeln der Wirklichkeit nur nach ihrem innern
Wesen, nach der Idee bildete, welche sie zu verkörpern be-
stimmt waren. Vergegenwärtigen wir uns aber, da einmal
Phidias genannt ward, dessen Aufgabe und vergleichen sie
mit der des Polygnot, so wird uns auch von der Verschie-
denheit der Kunstgattung abgesehen, ein sehr wesentlicher
Unterschied nicht verborgen bleiben können. Bei der Bil-
dung der Götterideale handelt es sich um durchaus einfache
und reine Ideen, deren jede für sich in ihrer höchsten Voll-
endung zu erfassen war, man möchte sagen in ihrer Abstra-
ction von allen sie umgebenden Handlungen und Zuständen.
Denn die Götter waren nicht durch diese geworden, was
sie waren; sondern sie waren es ihrem Wesen nach von
Anfang an. Die Darstellungen des Polygnot bewegten sich
ziemlich ausschliesslich in der Welt der Heroen. Diese steht

1) Poet. 2: Polugnotos men kreittous, Pauson de kheirous, Dionusios de
omoious eikhazei.

geistiger Bedeutung in verkleinerten Verhältnissen leicht ver-
loren gehen kann, geistige Grossartigkeit am besten auch bei
räumlicher Grösse ihren Ausdruck finden wird. So wer-
den wir denn in dem Urtheile Aelians die Ausdrücke με-
γάλα, μέγεϑος nicht nur materiell von räumlicher Grösse und
Ausdehnung verstehen dürfen, sondern im übertragenen Sinne
auf die Grossartigkeit der ganzen Auffassung beziehen müs-
sen. Polygnot malte also im grossen, idealen Style. Das wird
uns aber noch ausdrücklich bestätigt durch einen Zeugen,
dessen Urtheil ein noch bei weitem grösseres Gewicht für
uns haben muss, als das des Aelian, nemlich durch Aristoteles.
Auch Aristoteles stellt Polygnot mit Dionysios, und ausser-
dem mit Pauson zusammen. Sein Urtheil aber lässt das
Räumliche ganz unberücksichtigt und betrifft einzig die gei-
stige Auffassung: Polygnot bildete seine Gestalten über der
Wirklichkeit, Pauson unter derselben, Dionysios ihr entspre-
chend.1) Hier ist also der ideale Charakter der polygnoti-
schen Kunst mit einem Worte deutlich genug ausgesprochen.
Denn wenn Polygnot seine Gestalten vollkommener darstellte,
als sie uns in der Wirklichkeit vor Augen zu treten pflegen,
so war dies, wie wir in den Erörterungen über Phidias ge-
zeigt haben, nur möglich, indem er sie frei von den Zufällig-
keiten und Mängeln der Wirklichkeit nur nach ihrem innern
Wesen, nach der Idee bildete, welche sie zu verkörpern be-
stimmt waren. Vergegenwärtigen wir uns aber, da einmal
Phidias genannt ward, dessen Aufgabe und vergleichen sie
mit der des Polygnot, so wird uns auch von der Verschie-
denheit der Kunstgattung abgesehen, ein sehr wesentlicher
Unterschied nicht verborgen bleiben können. Bei der Bil-
dung der Götterideale handelt es sich um durchaus einfache
und reine Ideen, deren jede für sich in ihrer höchsten Voll-
endung zu erfassen war, man möchte sagen in ihrer Abstra-
ction von allen sie umgebenden Handlungen und Zuständen.
Denn die Götter waren nicht durch diese geworden, was
sie waren; sondern sie waren es ihrem Wesen nach von
Anfang an. Die Darstellungen des Polygnot bewegten sich
ziemlich ausschliesslich in der Welt der Heroen. Diese steht

1) Poët. 2: Πολύγνωτος μὲν κϱείττους, Παύσων δὲ χείϱους, Διονύσιος δὲ
ὁμοίους εἰχάζει.
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[42/0050] geistiger Bedeutung in verkleinerten Verhältnissen leicht ver- loren gehen kann, geistige Grossartigkeit am besten auch bei räumlicher Grösse ihren Ausdruck finden wird. So wer- den wir denn in dem Urtheile Aelians die Ausdrücke με- γάλα, μέγεϑος nicht nur materiell von räumlicher Grösse und Ausdehnung verstehen dürfen, sondern im übertragenen Sinne auf die Grossartigkeit der ganzen Auffassung beziehen müs- sen. Polygnot malte also im grossen, idealen Style. Das wird uns aber noch ausdrücklich bestätigt durch einen Zeugen, dessen Urtheil ein noch bei weitem grösseres Gewicht für uns haben muss, als das des Aelian, nemlich durch Aristoteles. Auch Aristoteles stellt Polygnot mit Dionysios, und ausser- dem mit Pauson zusammen. Sein Urtheil aber lässt das Räumliche ganz unberücksichtigt und betrifft einzig die gei- stige Auffassung: Polygnot bildete seine Gestalten über der Wirklichkeit, Pauson unter derselben, Dionysios ihr entspre- chend. 1) Hier ist also der ideale Charakter der polygnoti- schen Kunst mit einem Worte deutlich genug ausgesprochen. Denn wenn Polygnot seine Gestalten vollkommener darstellte, als sie uns in der Wirklichkeit vor Augen zu treten pflegen, so war dies, wie wir in den Erörterungen über Phidias ge- zeigt haben, nur möglich, indem er sie frei von den Zufällig- keiten und Mängeln der Wirklichkeit nur nach ihrem innern Wesen, nach der Idee bildete, welche sie zu verkörpern be- stimmt waren. Vergegenwärtigen wir uns aber, da einmal Phidias genannt ward, dessen Aufgabe und vergleichen sie mit der des Polygnot, so wird uns auch von der Verschie- denheit der Kunstgattung abgesehen, ein sehr wesentlicher Unterschied nicht verborgen bleiben können. Bei der Bil- dung der Götterideale handelt es sich um durchaus einfache und reine Ideen, deren jede für sich in ihrer höchsten Voll- endung zu erfassen war, man möchte sagen in ihrer Abstra- ction von allen sie umgebenden Handlungen und Zuständen. Denn die Götter waren nicht durch diese geworden, was sie waren; sondern sie waren es ihrem Wesen nach von Anfang an. Die Darstellungen des Polygnot bewegten sich ziemlich ausschliesslich in der Welt der Heroen. Diese steht 1) Poët. 2: Πολύγνωτος μὲν κϱείττους, Παύσων δὲ χείϱους, Διονύσιος δὲ ὁμοίους εἰχάζει.

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich: Geschichte der griechischen Künstler. T. 2, Abt. 1. Braunschweig, 1856, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen0201_1856/50>, abgerufen am 16.04.2024.