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Brunn, Heinrich: Geschichte der griechischen Künstler. T. 2, Abt. 1. Braunschweig, 1856.

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kann sie nur eine ungenügende Beantwortung erhalten, da
nicht nur kein einziges Werk erhalten ist, sondern wir nicht
einmal über den Raum, in welchem sich irgend eines der-
selben befand, genauer unterrichtet sind. Als ein allgemeines
Princip jeder guten Composition werden wir indessen die
Forderung des Gleichgewichtes hinstellen, welches sich häu-
fig schon äusserlich durch einen Parallelismus der sich gegen-
überstehenden Glieder bethätigen wird. Dass Polygnot sich die-
sen Forderungen nicht entzog, lehrt zunächst jene kleinere
Reihe von Compositionen, welche offenbar mit bestimmter
Rücksicht auf dieselben zusammengeordnet sind, nemlich die
Bilder in der Pinakothek der Propyläen zu Athen: Odysseus,
der den Bogen des Philoktet, und Diomedes, der das Palla-
dium raubt; der Mord des Aegisthos und die Opferung der
Polyxena; Achill unter den Töchtern des Lykomedes, und
Odysseus unter den Begleiterinnen der Nausikaa erscheinen
für Jeden, der mit den Bildwerken einigermassen vertraut
ist, in so schlagender Weise als drei Paare von Gegenstücken,
dass wir kühn voraussetzen dürfen, diese Entsprechung sei
auch noch weiter bis in Einzelnes durchgeführt gewesen.
Noch wichtiger für unsre Kenntniss auch in dieser Beziehung
sind aber die Gemälde in der Lesche zu Delphi. Freilich
geht Pausanias über die hier in Betracht kommenden Fragen
stillschweigend hinweg. Aber die Genauigkeit seiner Be-
schreibung macht es möglich, diesen Mangel einigermassen
zu ergänzen; was auch in der That in der letzten Zeit mehr-
fach versucht worden ist. Auf diese Weise ist es namentlich
durch die Untersuchungen Welcker's ausser Zweifel gesetzt
worden, dass in der Raumabtheilung eine grosse Regelmäs-
sigkeit herrscht. Deutlich tritt die Mittelgruppe hervor: eben
so deutlich ergeben sich die beiden Endgruppen; zwischen
diesen und der Mittelgruppe lagen je zwei Hauptmassen, so
dass sich also die ganze Composition jedes der beiden Bilder
der Breite nach in sieben Abtheilungen zerlegt, deren je
zwei, zu beiden Seiten der mittleren, zu einander in einem
entsprechenden Verhältnisse stehen. Schon mit diesem allge-
meinen Resultate könnte man sich genügen lassen, indem man
voraussetzen dürfte, dass in dem Urbilde sich noch viele
Einzelheiten strenger dem Grundplane entsprechend gezeigt
haben würden, als es sich bei der Mangelhaftigkeit unserer

kann sie nur eine ungenügende Beantwortung erhalten, da
nicht nur kein einziges Werk erhalten ist, sondern wir nicht
einmal über den Raum, in welchem sich irgend eines der-
selben befand, genauer unterrichtet sind. Als ein allgemeines
Princip jeder guten Composition werden wir indessen die
Forderung des Gleichgewichtes hinstellen, welches sich häu-
fig schon äusserlich durch einen Parallelismus der sich gegen-
überstehenden Glieder bethätigen wird. Dass Polygnot sich die-
sen Forderungen nicht entzog, lehrt zunächst jene kleinere
Reihe von Compositionen, welche offenbar mit bestimmter
Rücksicht auf dieselben zusammengeordnet sind, nemlich die
Bilder in der Pinakothek der Propyläen zu Athen: Odysseus,
der den Bogen des Philoktet, und Diomedes, der das Palla-
dium raubt; der Mord des Aegisthos und die Opferung der
Polyxena; Achill unter den Töchtern des Lykomedes, und
Odysseus unter den Begleiterinnen der Nausikaa erscheinen
für Jeden, der mit den Bildwerken einigermassen vertraut
ist, in so schlagender Weise als drei Paare von Gegenstücken,
dass wir kühn voraussetzen dürfen, diese Entsprechung sei
auch noch weiter bis in Einzelnes durchgeführt gewesen.
Noch wichtiger für unsre Kenntniss auch in dieser Beziehung
sind aber die Gemälde in der Lesche zu Delphi. Freilich
geht Pausanias über die hier in Betracht kommenden Fragen
stillschweigend hinweg. Aber die Genauigkeit seiner Be-
schreibung macht es möglich, diesen Mangel einigermassen
zu ergänzen; was auch in der That in der letzten Zeit mehr-
fach versucht worden ist. Auf diese Weise ist es namentlich
durch die Untersuchungen Welcker’s ausser Zweifel gesetzt
worden, dass in der Raumabtheilung eine grosse Regelmäs-
sigkeit herrscht. Deutlich tritt die Mittelgruppe hervor: eben
so deutlich ergeben sich die beiden Endgruppen; zwischen
diesen und der Mittelgruppe lagen je zwei Hauptmassen, so
dass sich also die ganze Composition jedes der beiden Bilder
der Breite nach in sieben Abtheilungen zerlegt, deren je
zwei, zu beiden Seiten der mittleren, zu einander in einem
entsprechenden Verhältnisse stehen. Schon mit diesem allge-
meinen Resultate könnte man sich genügen lassen, indem man
voraussetzen dürfte, dass in dem Urbilde sich noch viele
Einzelheiten strenger dem Grundplane entsprechend gezeigt
haben würden, als es sich bei der Mangelhaftigkeit unserer

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[34/0042] kann sie nur eine ungenügende Beantwortung erhalten, da nicht nur kein einziges Werk erhalten ist, sondern wir nicht einmal über den Raum, in welchem sich irgend eines der- selben befand, genauer unterrichtet sind. Als ein allgemeines Princip jeder guten Composition werden wir indessen die Forderung des Gleichgewichtes hinstellen, welches sich häu- fig schon äusserlich durch einen Parallelismus der sich gegen- überstehenden Glieder bethätigen wird. Dass Polygnot sich die- sen Forderungen nicht entzog, lehrt zunächst jene kleinere Reihe von Compositionen, welche offenbar mit bestimmter Rücksicht auf dieselben zusammengeordnet sind, nemlich die Bilder in der Pinakothek der Propyläen zu Athen: Odysseus, der den Bogen des Philoktet, und Diomedes, der das Palla- dium raubt; der Mord des Aegisthos und die Opferung der Polyxena; Achill unter den Töchtern des Lykomedes, und Odysseus unter den Begleiterinnen der Nausikaa erscheinen für Jeden, der mit den Bildwerken einigermassen vertraut ist, in so schlagender Weise als drei Paare von Gegenstücken, dass wir kühn voraussetzen dürfen, diese Entsprechung sei auch noch weiter bis in Einzelnes durchgeführt gewesen. Noch wichtiger für unsre Kenntniss auch in dieser Beziehung sind aber die Gemälde in der Lesche zu Delphi. Freilich geht Pausanias über die hier in Betracht kommenden Fragen stillschweigend hinweg. Aber die Genauigkeit seiner Be- schreibung macht es möglich, diesen Mangel einigermassen zu ergänzen; was auch in der That in der letzten Zeit mehr- fach versucht worden ist. Auf diese Weise ist es namentlich durch die Untersuchungen Welcker’s ausser Zweifel gesetzt worden, dass in der Raumabtheilung eine grosse Regelmäs- sigkeit herrscht. Deutlich tritt die Mittelgruppe hervor: eben so deutlich ergeben sich die beiden Endgruppen; zwischen diesen und der Mittelgruppe lagen je zwei Hauptmassen, so dass sich also die ganze Composition jedes der beiden Bilder der Breite nach in sieben Abtheilungen zerlegt, deren je zwei, zu beiden Seiten der mittleren, zu einander in einem entsprechenden Verhältnisse stehen. Schon mit diesem allge- meinen Resultate könnte man sich genügen lassen, indem man voraussetzen dürfte, dass in dem Urbilde sich noch viele Einzelheiten strenger dem Grundplane entsprechend gezeigt haben würden, als es sich bei der Mangelhaftigkeit unserer

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich: Geschichte der griechischen Künstler. T. 2, Abt. 1. Braunschweig, 1856, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen0201_1856/42>, abgerufen am 28.03.2024.