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Brunn, Heinrich: Geschichte der griechischen Künstler. T. 2, Abt. 1. Braunschweig, 1856.

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der Gewandung naturgemässer gesondert habe; bei dem
Mangel eigentlicher Schattengebung wird er aber eine volle
Klarheit in der Anordnung kaum erreicht haben. Blicken
wir nun auf die bessern der tarquiniensischen Wandgemälde, doch
immer die wichtigsten Werke, welche uns zur Vergleichung
übrig geblieben sind, so werden wir finden, dass man sich
diesem Ziele zu nähern suchte, indem man unter dem Ge-
wande den vollständigen Umriss der Figur selbst sehen liess,
gewissermassen die Ursache der aussen sichtbaren Wirkung.
Denn dem Auge wurde dadurch deutlich, weshalb das Ge-
wand gewisse Formen annahm, weil es erkannte, wie es sich
theils an die Formen des Körpers anlehnte, theils von ihnen
ablöste. Nehmen wir nun an, dass dieses Verfahren zuerst
von Polygnot angewendet wurde, so liesse sich dadurch die
Ausdrucksweise des Plinius wenigstens in gewisser Bezie-
hung rechtfertigen; und auch dass er nur von Frauen spricht,
hätte seinen guten Grund. Denn bei den kürzeren und
knapperen Männergewändern erscheint eine solche Nachhülfe
minder nothwendig, um die Formen des Körpers, die Bewe-
gung aller verschiedenen Theile in hinlänglicher Klarheit und
der Natur gemäss zu zeigen, als bei der reichen Bekleidung
der Frauen, welche gerade durch die Fülle des Stoffes ohne
scharfe Gliederung den Körper nicht nur bedecken, sondern
gänzlich verhüllen würde. War aber demnach das Verdienst
dieser Neuerung schon an sich keineswegs gering, so vermochte
es ausserdem auf die weitere Entwickelung der Kunst einen nicht
unwesentlichen Einfluss auszuüben. Denn die Aufmerksamkeit
musste sich dadurch immer mehr auf die Bedeutung der Run-
dung aller Körperformen und in Folge dessen auf die Beob-
achtung von Licht und Schatten hinlenken. Unter diesem
Gesichtspunkte bereitet also Polygnot den grossartigen Um-
schwung in der Malerei vor, welcher bald nach ihm mit sol-
cher Gewalt sich geltend machte, dass Plinius die Geschichte
derselben eigentlich erst von dort aus beginnt.

Als weiteres Verdienst des Polygnot giebt Plinius an,
er habe angefangen: os adaperire, dentis ostendere, voltum
ab antiquo rigore variare. Adaperire kann hier nur in
dem Sinne von ex parte aperire stehen: einer Bedeutung,
welche Forcellini anerkennt, ohne sie mit Beispielen belegen
zu können. Wir begegnen hier also, wie schon Winckel-

der Gewandung naturgemässer gesondert habe; bei dem
Mangel eigentlicher Schattengebung wird er aber eine volle
Klarheit in der Anordnung kaum erreicht haben. Blicken
wir nun auf die bessern der tarquiniensischen Wandgemälde, doch
immer die wichtigsten Werke, welche uns zur Vergleichung
übrig geblieben sind, so werden wir finden, dass man sich
diesem Ziele zu nähern suchte, indem man unter dem Ge-
wande den vollständigen Umriss der Figur selbst sehen liess,
gewissermassen die Ursache der aussen sichtbaren Wirkung.
Denn dem Auge wurde dadurch deutlich, weshalb das Ge-
wand gewisse Formen annahm, weil es erkannte, wie es sich
theils an die Formen des Körpers anlehnte, theils von ihnen
ablöste. Nehmen wir nun an, dass dieses Verfahren zuerst
von Polygnot angewendet wurde, so liesse sich dadurch die
Ausdrucksweise des Plinius wenigstens in gewisser Bezie-
hung rechtfertigen; und auch dass er nur von Frauen spricht,
hätte seinen guten Grund. Denn bei den kürzeren und
knapperen Männergewändern erscheint eine solche Nachhülfe
minder nothwendig, um die Formen des Körpers, die Bewe-
gung aller verschiedenen Theile in hinlänglicher Klarheit und
der Natur gemäss zu zeigen, als bei der reichen Bekleidung
der Frauen, welche gerade durch die Fülle des Stoffes ohne
scharfe Gliederung den Körper nicht nur bedecken, sondern
gänzlich verhüllen würde. War aber demnach das Verdienst
dieser Neuerung schon an sich keineswegs gering, so vermochte
es ausserdem auf die weitere Entwickelung der Kunst einen nicht
unwesentlichen Einfluss auszuüben. Denn die Aufmerksamkeit
musste sich dadurch immer mehr auf die Bedeutung der Run-
dung aller Körperformen und in Folge dessen auf die Beob-
achtung von Licht und Schatten hinlenken. Unter diesem
Gesichtspunkte bereitet also Polygnot den grossartigen Um-
schwung in der Malerei vor, welcher bald nach ihm mit sol-
cher Gewalt sich geltend machte, dass Plinius die Geschichte
derselben eigentlich erst von dort aus beginnt.

Als weiteres Verdienst des Polygnot giebt Plinius an,
er habe angefangen: os adaperire, dentis ostendere, voltum
ab antiquo rigore variare. Adaperire kann hier nur in
dem Sinne von ex parte aperire stehen: einer Bedeutung,
welche Forcellini anerkennt, ohne sie mit Beispielen belegen
zu können. Wir begegnen hier also, wie schon Winckel-

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[29/0037] der Gewandung naturgemässer gesondert habe; bei dem Mangel eigentlicher Schattengebung wird er aber eine volle Klarheit in der Anordnung kaum erreicht haben. Blicken wir nun auf die bessern der tarquiniensischen Wandgemälde, doch immer die wichtigsten Werke, welche uns zur Vergleichung übrig geblieben sind, so werden wir finden, dass man sich diesem Ziele zu nähern suchte, indem man unter dem Ge- wande den vollständigen Umriss der Figur selbst sehen liess, gewissermassen die Ursache der aussen sichtbaren Wirkung. Denn dem Auge wurde dadurch deutlich, weshalb das Ge- wand gewisse Formen annahm, weil es erkannte, wie es sich theils an die Formen des Körpers anlehnte, theils von ihnen ablöste. Nehmen wir nun an, dass dieses Verfahren zuerst von Polygnot angewendet wurde, so liesse sich dadurch die Ausdrucksweise des Plinius wenigstens in gewisser Bezie- hung rechtfertigen; und auch dass er nur von Frauen spricht, hätte seinen guten Grund. Denn bei den kürzeren und knapperen Männergewändern erscheint eine solche Nachhülfe minder nothwendig, um die Formen des Körpers, die Bewe- gung aller verschiedenen Theile in hinlänglicher Klarheit und der Natur gemäss zu zeigen, als bei der reichen Bekleidung der Frauen, welche gerade durch die Fülle des Stoffes ohne scharfe Gliederung den Körper nicht nur bedecken, sondern gänzlich verhüllen würde. War aber demnach das Verdienst dieser Neuerung schon an sich keineswegs gering, so vermochte es ausserdem auf die weitere Entwickelung der Kunst einen nicht unwesentlichen Einfluss auszuüben. Denn die Aufmerksamkeit musste sich dadurch immer mehr auf die Bedeutung der Run- dung aller Körperformen und in Folge dessen auf die Beob- achtung von Licht und Schatten hinlenken. Unter diesem Gesichtspunkte bereitet also Polygnot den grossartigen Um- schwung in der Malerei vor, welcher bald nach ihm mit sol- cher Gewalt sich geltend machte, dass Plinius die Geschichte derselben eigentlich erst von dort aus beginnt. Als weiteres Verdienst des Polygnot giebt Plinius an, er habe angefangen: os adaperire, dentis ostendere, voltum ab antiquo rigore variare. Adaperire kann hier nur in dem Sinne von ex parte aperire stehen: einer Bedeutung, welche Forcellini anerkennt, ohne sie mit Beispielen belegen zu können. Wir begegnen hier also, wie schon Winckel-

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich: Geschichte der griechischen Künstler. T. 2, Abt. 1. Braunschweig, 1856, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen0201_1856/37>, abgerufen am 20.04.2024.