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Brunn, Heinrich: Geschichte der griechischen Künstler. T. 2, Abt. 1. Braunschweig, 1856.

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vermochte, so werden wir dem Apelles als dem unerreichten
Muster in dieser Beziehung noch eine besondere geistige
Eigenschaft vor jenem zuerkennen müssen. Ich glaube die-
selbe bei Quintilian bezeichnet zu finden, wenn er neben der
Grazie das ingenium als den bedeutsamsten Vorzug des
Apelles hinstellt. 1) Natürlich kann dieser Ausdruck hier
nicht von jener angeborenen Gabe der Erfindung und Moti-
virung verstanden werden, von welcher ihn Plinius auf Ti-
manthes angewendet hat, sondern er ist offenbar von Quin-
tilian gewählt, um eben jene Grazie ihrem Ursprunge nach
nicht sowohl als ein Ergebniss gründlicher Studien, sondern
als eine angeborene Gabe, ein freies Geschenk der Natur
zu bezeichnen, die freilich aber erst dadurch eine so hohe
Bedeutung erlangt, dass sie bei Apelles sich mit einer sel-
tenen Gründlichkeit der Bildung verbunden zeigt. Darum
ist sie bei ihm, so zu sagen, die Krone der Vollendung.
Denn sie lässt uns die während der Arbeit angewandte Sorg-
falt und Mühe vergessen, und das Werk erscheint nicht
mehr als etwas Gemachtes, sondern Gewordenes, gewisser-
massen als eine freie Manifestation der Gesetze künstleri-
scher Gestaltung.

Hieraus erklärt sich die fast einstimmige Bewunderung,
welche das Alterthum dem Apelles hat zu Theil werden
lassen; 2) und sie erscheint auch vollkommen gerechtfertigt,
sofern wir uns nur gegenwärtig halten, dass auch sie auf
der Anerkennung nicht aller, sondern bestimmt begrenzter
Seiten der künstlerischen Thätigkeit beruht. Hierauf einen
besondern Nachdruck zu legen, veranlasst mich der Stand-
punkt, den ich bei der Beurtheilung eines Künstlers ange-
nommen habe, welcher im entschiedensten Gegensatze zu
Apelles steht, nemlich des Polygnot. Ihm glaubte ich, ge-
stützt hauptsächlich auf das Zeugniss des Aristoteles, eine
Bedeutung beilegen zu müssen, in welcher er von keinem
der Nachfolgenden erreicht worden ist. Soll nun der
Widerspruch gelöst werden, der in der Anerkennung des

1) XII, 10: ingenio et gratia, quam in se ipse maxime iactat, Apelles
est praestantissimus.
2) Von ganz allgemein gehaltenen rühmenden Erwäh-
nungen trage ich hier noch nach: Diodor. exc. Hoesch. XXVI, 1; Cic. ad
Att. II, 21; Columell. I, praef. §. 31; Epithal. Maxim. et Const. dict. c. 6;
Justinian instit. II, 1, 34.

vermochte, so werden wir dem Apelles als dem unerreichten
Muster in dieser Beziehung noch eine besondere geistige
Eigenschaft vor jenem zuerkennen müssen. Ich glaube die-
selbe bei Quintilian bezeichnet zu finden, wenn er neben der
Grazie das ingenium als den bedeutsamsten Vorzug des
Apelles hinstellt. 1) Natürlich kann dieser Ausdruck hier
nicht von jener angeborenen Gabe der Erfindung und Moti-
virung verstanden werden, von welcher ihn Plinius auf Ti-
manthes angewendet hat, sondern er ist offenbar von Quin-
tilian gewählt, um eben jene Grazie ihrem Ursprunge nach
nicht sowohl als ein Ergebniss gründlicher Studien, sondern
als eine angeborene Gabe, ein freies Geschenk der Natur
zu bezeichnen, die freilich aber erst dadurch eine so hohe
Bedeutung erlangt, dass sie bei Apelles sich mit einer sel-
tenen Gründlichkeit der Bildung verbunden zeigt. Darum
ist sie bei ihm, so zu sagen, die Krone der Vollendung.
Denn sie lässt uns die während der Arbeit angewandte Sorg-
falt und Mühe vergessen, und das Werk erscheint nicht
mehr als etwas Gemachtes, sondern Gewordenes, gewisser-
massen als eine freie Manifestation der Gesetze künstleri-
scher Gestaltung.

Hieraus erklärt sich die fast einstimmige Bewunderung,
welche das Alterthum dem Apelles hat zu Theil werden
lassen; 2) und sie erscheint auch vollkommen gerechtfertigt,
sofern wir uns nur gegenwärtig halten, dass auch sie auf
der Anerkennung nicht aller, sondern bestimmt begrenzter
Seiten der künstlerischen Thätigkeit beruht. Hierauf einen
besondern Nachdruck zu legen, veranlasst mich der Stand-
punkt, den ich bei der Beurtheilung eines Künstlers ange-
nommen habe, welcher im entschiedensten Gegensatze zu
Apelles steht, nemlich des Polygnot. Ihm glaubte ich, ge-
stützt hauptsächlich auf das Zeugniss des Aristoteles, eine
Bedeutung beilegen zu müssen, in welcher er von keinem
der Nachfolgenden erreicht worden ist. Soll nun der
Widerspruch gelöst werden, der in der Anerkennung des

1) XII, 10: ingenio et gratia, quam in se ipse maxime iactat, Apelles
est praestantissimus.
2) Von ganz allgemein gehaltenen rühmenden Erwäh-
nungen trage ich hier noch nach: Diodor. exc. Hoesch. XXVI, 1; Cic. ad
Att. II, 21; Columell. I, praef. §. 31; Epithal. Maxim. et Const. dict. c. 6;
Justinian instit. II, 1, 34.
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[232/0240] vermochte, so werden wir dem Apelles als dem unerreichten Muster in dieser Beziehung noch eine besondere geistige Eigenschaft vor jenem zuerkennen müssen. Ich glaube die- selbe bei Quintilian bezeichnet zu finden, wenn er neben der Grazie das ingenium als den bedeutsamsten Vorzug des Apelles hinstellt. 1) Natürlich kann dieser Ausdruck hier nicht von jener angeborenen Gabe der Erfindung und Moti- virung verstanden werden, von welcher ihn Plinius auf Ti- manthes angewendet hat, sondern er ist offenbar von Quin- tilian gewählt, um eben jene Grazie ihrem Ursprunge nach nicht sowohl als ein Ergebniss gründlicher Studien, sondern als eine angeborene Gabe, ein freies Geschenk der Natur zu bezeichnen, die freilich aber erst dadurch eine so hohe Bedeutung erlangt, dass sie bei Apelles sich mit einer sel- tenen Gründlichkeit der Bildung verbunden zeigt. Darum ist sie bei ihm, so zu sagen, die Krone der Vollendung. Denn sie lässt uns die während der Arbeit angewandte Sorg- falt und Mühe vergessen, und das Werk erscheint nicht mehr als etwas Gemachtes, sondern Gewordenes, gewisser- massen als eine freie Manifestation der Gesetze künstleri- scher Gestaltung. Hieraus erklärt sich die fast einstimmige Bewunderung, welche das Alterthum dem Apelles hat zu Theil werden lassen; 2) und sie erscheint auch vollkommen gerechtfertigt, sofern wir uns nur gegenwärtig halten, dass auch sie auf der Anerkennung nicht aller, sondern bestimmt begrenzter Seiten der künstlerischen Thätigkeit beruht. Hierauf einen besondern Nachdruck zu legen, veranlasst mich der Stand- punkt, den ich bei der Beurtheilung eines Künstlers ange- nommen habe, welcher im entschiedensten Gegensatze zu Apelles steht, nemlich des Polygnot. Ihm glaubte ich, ge- stützt hauptsächlich auf das Zeugniss des Aristoteles, eine Bedeutung beilegen zu müssen, in welcher er von keinem der Nachfolgenden erreicht worden ist. Soll nun der Widerspruch gelöst werden, der in der Anerkennung des 1) XII, 10: ingenio et gratia, quam in se ipse maxime iactat, Apelles est praestantissimus. 2) Von ganz allgemein gehaltenen rühmenden Erwäh- nungen trage ich hier noch nach: Diodor. exc. Hoesch. XXVI, 1; Cic. ad Att. II, 21; Columell. I, praef. §. 31; Epithal. Maxim. et Const. dict. c. 6; Justinian instit. II, 1, 34.

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich: Geschichte der griechischen Künstler. T. 2, Abt. 1. Braunschweig, 1856, S. 232. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen0201_1856/240>, abgerufen am 23.11.2024.