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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853.

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4 -- 5) Die Statuen des Apollo in Milet und in The-
ben.
Bei Gelegenheit des thebanischen bemerkt Pausanias
(IX, 10, 2), dieser, der sogenannte ismenische, sei dem andern
bei den Branchiden an Grösse gleich, und in seinem Erschei-
nen in nichts von ihm verschieden. Wer das eine der beiden
Bilder gesehen habe und über den Künstler unterrichtet sei,
bedürfe keiner grossen Weisheit, um das andere sogleich beim
ersten Anblick ebenfalls als ein Werk des Kanachos zu er-
kennen. Nur darin bestehe der Unterschied, dass der bran-
chidische von Erz, der ismenische von Holz gemacht sei.
Auch an einer andern Stelle (II, 10, 4) erwähnt Pausanias
beide Statuen als Werke des Kanachos. Nun sehen wir auf
einer Reihe von milesischen Münzen einen Apollo von alter-
thümlichem Typus, den Bogen in der Linken, in der Rechten
ein Hirschkalb haltend; und dieselbe Figur kehrt in mehrfachen
Wiederholungen in Marmor und Bronze wieder1). Es liegt
daher nahe, alle diese Bilder auf ein berühmtes Original, und
zwar das des Kanachos, zurückzuführen. Nur weiss ich nicht,
ob und wie weit damit in Einklang zu bringen ist, was Pli-
nius berichtet. Denn zu der Angabe, dass Kanachos einen
nackten Apollo mit dem Beinamen Philesios im Didymaeon aus
aeginetischer Erzmischung gemacht habe, fügt er noch folgende
Beschreibung eines kunstreichen Beiwerkes: cervumque una
ita vestigiis suspendit ut linum subter pedes trahatur, alterno
morsu digitis calceque retinentibus solum, ita vertebrato dente
utrisque in partibus ut a repulsu per vices resiliat. Die Worte
des Plinius leiden an vielfacher Unklarheit, und handelte es
sich einzig um das mechanische Kunststück, das für den Kunst-
werth des Ganzen gewiss ohne Bedeutung war, so möchte
man die vorhandene Schwierigkeit ruhig bei Seite liegen las-
sen. Allein die ganze Beschreibung scheint sich auf eine von
der obigen abweichende Darstellung des Gottes zu beziehen.
Denn sei es, dass trotz der Uebereinstimmung aller Handschrif-
ten für cervus corvus zu schreiben2), sei es, dass cervus bei-
zubehalten ist, immer wird dieser Rabe oder Hirsch mit den
erhaltenen Bildwerken nichts zu thun haben. Im zweiten

1) S. die Nachweisungen bei Müller kl. Sehr. II, S. 542 flgd. Abbildungen
bei Müller u. Oesterley D. a. K. I, Taf. IV.
2) Wogegen freilich Soldan in
der Zeitschrift f. Altw. 1841 S. 581 gewichtige Gründe geltend gemacht hat.

4 — 5) Die Statuen des Apollo in Milet und in The-
ben.
Bei Gelegenheit des thebanischen bemerkt Pausanias
(IX, 10, 2), dieser, der sogenannte ismenische, sei dem andern
bei den Branchiden an Grösse gleich, und in seinem Erschei-
nen in nichts von ihm verschieden. Wer das eine der beiden
Bilder gesehen habe und über den Künstler unterrichtet sei,
bedürfe keiner grossen Weisheit, um das andere sogleich beim
ersten Anblick ebenfalls als ein Werk des Kanachos zu er-
kennen. Nur darin bestehe der Unterschied, dass der bran-
chidische von Erz, der ismenische von Holz gemacht sei.
Auch an einer andern Stelle (II, 10, 4) erwähnt Pausanias
beide Statuen als Werke des Kanachos. Nun sehen wir auf
einer Reihe von milesischen Münzen einen Apollo von alter-
thümlichem Typus, den Bogen in der Linken, in der Rechten
ein Hirschkalb haltend; und dieselbe Figur kehrt in mehrfachen
Wiederholungen in Marmor und Bronze wieder1). Es liegt
daher nahe, alle diese Bilder auf ein berühmtes Original, und
zwar das des Kanachos, zurückzuführen. Nur weiss ich nicht,
ob und wie weit damit in Einklang zu bringen ist, was Pli-
nius berichtet. Denn zu der Angabe, dass Kanachos einen
nackten Apollo mit dem Beinamen Philesios im Didymaeon aus
aeginetischer Erzmischung gemacht habe, fügt er noch folgende
Beschreibung eines kunstreichen Beiwerkes: cervumque una
ita vestigiis suspendit ut linum subter pedes trahatur, alterno
morsu digitis calceque retinentibus solum, ita vertebrato dente
utrisque in partibus ut a repulsu per vices resiliat. Die Worte
des Plinius leiden an vielfacher Unklarheit, und handelte es
sich einzig um das mechanische Kunststück, das für den Kunst-
werth des Ganzen gewiss ohne Bedeutung war, so möchte
man die vorhandene Schwierigkeit ruhig bei Seite liegen las-
sen. Allein die ganze Beschreibung scheint sich auf eine von
der obigen abweichende Darstellung des Gottes zu beziehen.
Denn sei es, dass trotz der Uebereinstimmung aller Handschrif-
ten für cervus corvus zu schreiben2), sei es, dass cervus bei-
zubehalten ist, immer wird dieser Rabe oder Hirsch mit den
erhaltenen Bildwerken nichts zu thun haben. Im zweiten

1) S. die Nachweisungen bei Müller kl. Sehr. II, S. 542 flgd. Abbildungen
bei Müller u. Oesterley D. a. K. I, Taf. IV.
2) Wogegen freilich Soldan in
der Zeitschrift f. Altw. 1841 S. 581 gewichtige Gründe geltend gemacht hat.
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[77/0090] 4 — 5) Die Statuen des Apollo in Milet und in The- ben. Bei Gelegenheit des thebanischen bemerkt Pausanias (IX, 10, 2), dieser, der sogenannte ismenische, sei dem andern bei den Branchiden an Grösse gleich, und in seinem Erschei- nen in nichts von ihm verschieden. Wer das eine der beiden Bilder gesehen habe und über den Künstler unterrichtet sei, bedürfe keiner grossen Weisheit, um das andere sogleich beim ersten Anblick ebenfalls als ein Werk des Kanachos zu er- kennen. Nur darin bestehe der Unterschied, dass der bran- chidische von Erz, der ismenische von Holz gemacht sei. Auch an einer andern Stelle (II, 10, 4) erwähnt Pausanias beide Statuen als Werke des Kanachos. Nun sehen wir auf einer Reihe von milesischen Münzen einen Apollo von alter- thümlichem Typus, den Bogen in der Linken, in der Rechten ein Hirschkalb haltend; und dieselbe Figur kehrt in mehrfachen Wiederholungen in Marmor und Bronze wieder 1). Es liegt daher nahe, alle diese Bilder auf ein berühmtes Original, und zwar das des Kanachos, zurückzuführen. Nur weiss ich nicht, ob und wie weit damit in Einklang zu bringen ist, was Pli- nius berichtet. Denn zu der Angabe, dass Kanachos einen nackten Apollo mit dem Beinamen Philesios im Didymaeon aus aeginetischer Erzmischung gemacht habe, fügt er noch folgende Beschreibung eines kunstreichen Beiwerkes: cervumque una ita vestigiis suspendit ut linum subter pedes trahatur, alterno morsu digitis calceque retinentibus solum, ita vertebrato dente utrisque in partibus ut a repulsu per vices resiliat. Die Worte des Plinius leiden an vielfacher Unklarheit, und handelte es sich einzig um das mechanische Kunststück, das für den Kunst- werth des Ganzen gewiss ohne Bedeutung war, so möchte man die vorhandene Schwierigkeit ruhig bei Seite liegen las- sen. Allein die ganze Beschreibung scheint sich auf eine von der obigen abweichende Darstellung des Gottes zu beziehen. Denn sei es, dass trotz der Uebereinstimmung aller Handschrif- ten für cervus corvus zu schreiben 2), sei es, dass cervus bei- zubehalten ist, immer wird dieser Rabe oder Hirsch mit den erhaltenen Bildwerken nichts zu thun haben. Im zweiten 1) S. die Nachweisungen bei Müller kl. Sehr. II, S. 542 flgd. Abbildungen bei Müller u. Oesterley D. a. K. I, Taf. IV. 2) Wogegen freilich Soldan in der Zeitschrift f. Altw. 1841 S. 581 gewichtige Gründe geltend gemacht hat.

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/90>, abgerufen am 02.05.2024.