schen Studienfigur anwenden, bei welcher dem Künstler der Gedanke vorschwebte, eine Art Musterfigur, etwa in der Weise des polykletischen Kanon, aufzustellen. Die Haltung ist durch- aus streng und gemessen, wenig bewegt und, wie es scheint, gerade darauf berechnet, den ganzen Körper in seinen einfa- chen und normalen Verhältnissen zu zeigen. Die Behandlung der Oberfläche ist fern von üppiger Weichheit und Fülle; viel- mehr liesse sich ihr eine gewisse Trockenheit und Magerkeit zum Vorwurfe machen, die aus einem zu ängstlichen Streben nach Correctheit hervorgegangen sein kann. Endlich muss noch besonders die Kleinheit des Kopfes im Verhältniss zum Körper auffallen. Alle diese einzelnen Erscheinungen lassen sich vielleicht am einfachsten auf folgende Weise erklären: die strengen Regeln des polykletischen Kanon waren durch Lysipp verdrängt worden, der ein grösseres Streben nach An- muth und Eleganz der äusseren Erscheinung in die Kunst einführte. Aber indem dadurch seine Gestalten zugleich ein mehr individuelles Gepräge erhielten, konnten sie nicht so all- gemein gültige Musterbilder werden, als die auf einem festge- schlossenen System beruhenden Werke des Polyklet; ja ihr Beispiel mochte sogar zuweilen verderblich wirken. So ergab sich für die Späteren das Bedürfniss, wiederum eine strenge Richtschnur zu erhalten, welche, auf die Normen Polyklets gestützt, doch auch von der Schlankheit lysippischer Propor- tionen das Mögliche rette. Dass es dem Stephanos gelungen sei, eine solche mustergültige Verschmelzung beider Systeme zu Stande zu bringen, wage ich nicht zu behaupten; doch glaube ich in seinem Werke das Streben danach zu erkennen, und namentlich in dem Verhältnisse des Kopfes die Spuren des einen, in der kräftigen Anlage der Brust die Spuren des anderen Systemes zu entdecken. Seine Absicht aber scheint der Künstler wenigstens in sofern erreicht zu haben, als sein Werk wirklich für ein Muster gegolten haben muss: die Villa Albani allein bewahrt noch zwei ziemlich strenge Copien aus dem Alterthume. Sollte aber etwa die Statue mit der Inschrift für zu unbedeutend oder zu unvollkommen in der Ausführung erachtet werden, um für das Originalwerk des Stephanos zu gelten, so würden dadurch die obigen Bemerkungen keines- wegs umgestossen werden, da sie nur auf die allgemeinsten Charakterzüge des Werkes gegründet sind, welche auch in
schen Studienfigur anwenden, bei welcher dem Künstler der Gedanke vorschwebte, eine Art Musterfigur, etwa in der Weise des polykletischen Kanon, aufzustellen. Die Haltung ist durch- aus streng und gemessen, wenig bewegt und, wie es scheint, gerade darauf berechnet, den ganzen Körper in seinen einfa- chen und normalen Verhältnissen zu zeigen. Die Behandlung der Oberfläche ist fern von üppiger Weichheit und Fülle; viel- mehr liesse sich ihr eine gewisse Trockenheit und Magerkeit zum Vorwurfe machen, die aus einem zu ängstlichen Streben nach Correctheit hervorgegangen sein kann. Endlich muss noch besonders die Kleinheit des Kopfes im Verhältniss zum Körper auffallen. Alle diese einzelnen Erscheinungen lassen sich vielleicht am einfachsten auf folgende Weise erklären: die strengen Regeln des polykletischen Kanon waren durch Lysipp verdrängt worden, der ein grösseres Streben nach An- muth und Eleganz der äusseren Erscheinung in die Kunst einführte. Aber indem dadurch seine Gestalten zugleich ein mehr individuelles Gepräge erhielten, konnten sie nicht so all- gemein gültige Musterbilder werden, als die auf einem festge- schlossenen System beruhenden Werke des Polyklet; ja ihr Beispiel mochte sogar zuweilen verderblich wirken. So ergab sich für die Späteren das Bedürfniss, wiederum eine strenge Richtschnur zu erhalten, welche, auf die Normen Polyklets gestützt, doch auch von der Schlankheit lysippischer Propor- tionen das Mögliche rette. Dass es dem Stephanos gelungen sei, eine solche mustergültige Verschmelzung beider Systeme zu Stande zu bringen, wage ich nicht zu behaupten; doch glaube ich in seinem Werke das Streben danach zu erkennen, und namentlich in dem Verhältnisse des Kopfes die Spuren des einen, in der kräftigen Anlage der Brust die Spuren des anderen Systemes zu entdecken. Seine Absicht aber scheint der Künstler wenigstens in sofern erreicht zu haben, als sein Werk wirklich für ein Muster gegolten haben muss: die Villa Albani allein bewahrt noch zwei ziemlich strenge Copien aus dem Alterthume. Sollte aber etwa die Statue mit der Inschrift für zu unbedeutend oder zu unvollkommen in der Ausführung erachtet werden, um für das Originalwerk des Stephanos zu gelten, so würden dadurch die obigen Bemerkungen keines- wegs umgestossen werden, da sie nur auf die allgemeinsten Charakterzüge des Werkes gegründet sind, welche auch in
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[597/0610]
schen Studienfigur anwenden, bei welcher dem Künstler der
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des polykletischen Kanon, aufzustellen. Die Haltung ist durch-
aus streng und gemessen, wenig bewegt und, wie es scheint,
gerade darauf berechnet, den ganzen Körper in seinen einfa-
chen und normalen Verhältnissen zu zeigen. Die Behandlung
der Oberfläche ist fern von üppiger Weichheit und Fülle; viel-
mehr liesse sich ihr eine gewisse Trockenheit und Magerkeit
zum Vorwurfe machen, die aus einem zu ängstlichen Streben
nach Correctheit hervorgegangen sein kann. Endlich muss
noch besonders die Kleinheit des Kopfes im Verhältniss zum
Körper auffallen. Alle diese einzelnen Erscheinungen lassen
sich vielleicht am einfachsten auf folgende Weise erklären:
die strengen Regeln des polykletischen Kanon waren durch
Lysipp verdrängt worden, der ein grösseres Streben nach An-
muth und Eleganz der äusseren Erscheinung in die Kunst
einführte. Aber indem dadurch seine Gestalten zugleich ein
mehr individuelles Gepräge erhielten, konnten sie nicht so all-
gemein gültige Musterbilder werden, als die auf einem festge-
schlossenen System beruhenden Werke des Polyklet; ja ihr
Beispiel mochte sogar zuweilen verderblich wirken. So ergab
sich für die Späteren das Bedürfniss, wiederum eine strenge
Richtschnur zu erhalten, welche, auf die Normen Polyklets
gestützt, doch auch von der Schlankheit lysippischer Propor-
tionen das Mögliche rette. Dass es dem Stephanos gelungen
sei, eine solche mustergültige Verschmelzung beider Systeme
zu Stande zu bringen, wage ich nicht zu behaupten; doch
glaube ich in seinem Werke das Streben danach zu erkennen,
und namentlich in dem Verhältnisse des Kopfes die Spuren
des einen, in der kräftigen Anlage der Brust die Spuren des
anderen Systemes zu entdecken. Seine Absicht aber scheint
der Künstler wenigstens in sofern erreicht zu haben, als sein
Werk wirklich für ein Muster gegolten haben muss: die Villa
Albani allein bewahrt noch zwei ziemlich strenge Copien aus
dem Alterthume. Sollte aber etwa die Statue mit der Inschrift
für zu unbedeutend oder zu unvollkommen in der Ausführung
erachtet werden, um für das Originalwerk des Stephanos zu
gelten, so würden dadurch die obigen Bemerkungen keines-
wegs umgestossen werden, da sie nur auf die allgemeinsten
Charakterzüge des Werkes gegründet sind, welche auch in
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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 597. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/610>, abgerufen am 22.11.2024.
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