ausgebildet. Ferner vermochte aber auch die Kunst nicht überall in jener Spannung ihrer Kräfte zu verharren, wie sie sich zum Schaffen der bisher betrachteten Werke nothwendig erweist. Wir fanden schon in der vorigen Periode neben dem gewaltigen Pathos eines Skopas ein entgegengesetztes Streben nach ruhigster Anmuth; und möchten daher von vorn herein voraussetzen, dass auch in dieser Periode, je höher auf der einen Seite die Anspannung wuchs, auf der anderen der Ge- gensatz ausgebildet worden sei. Die überlieferten Nachrichten lassen uns darüber fast ganz im Dunkeln: eine Fortsetzung der Schule des Praxiteles, welche hier zunächst in Betracht kom- men musste, kennen wir nicht. Um so erwünschter müssen uns einige wenige, ganz beiläufige Nachrichten über einen Künstler sein, der wie die übrigen ebenfalls Kleinasien zum Vaterlande hat, nemlich Boethos; denn sie scheinen gleichsam vom Schicksal dazu bewahrt, uns wenigstens auf die richtige Spur zu lenken. Die drei statuarischen Werke, welche von diesem Künstler angeführt werden, sind Figuren von Kindern, unter denen eins, der Knabe mit der Gans, uns noch in mehr- fachen Wiederholungen erhalten ist. Hier haben wir also im Gegensatz der gewaltigsten Werke, welche unser Inneres tief erregen müssen, die höchste Naivetät, Werke, an welchen auch das kindlichste Gemüth seine Freude haben wird, wel- che darum aber auch weniger zu öffentlichen Monumenten ge- eignet, als bestimmt erscheinen, in der Musse des Privatlebens Erheiterung und Lust zu gewähren; und sollte auch z. B. der Knabe mit der Gans, ähnlich wie das Gänsemännchen zu Nürnberg oder das andere bekannte Männchen zu Brüssel, ur- sprünglich zum Schmucke eines öffentlichen Brunnens bestimmt gewesen sein, so würde doch auch hier der Hauptzweck sei- ner Aufstellung nur der sein, in einem Augenblicke der Musse zwischen der Arbeit des täglichen Lebens betrachtet zu wer- den. Leider fehlen uns weitere Nachrichten, um in dieser Pe- riode den Umfang derartiger Kunstthätigkeit weiter zu verfol- gen, in welche sich z. B. der dornausziehende Knabe des Ca- pitols vertrefflich einfügen würde. Welchen Einfluss sie in- dess gewann, zeigen unzählige Werke römischer Kunst, in welchen sogar ernstere mythologische Vorstellungen vielfach, so zu sagen, in das Kindesalter übersetzt erscheinen. -- Die Person des Boethos muss uns aber noch an eine andere Seite
ausgebildet. Ferner vermochte aber auch die Kunst nicht überall in jener Spannung ihrer Kräfte zu verharren, wie sie sich zum Schaffen der bisher betrachteten Werke nothwendig erweist. Wir fanden schon in der vorigen Periode neben dem gewaltigen Pathos eines Skopas ein entgegengesetztes Streben nach ruhigster Anmuth; und möchten daher von vorn herein voraussetzen, dass auch in dieser Periode, je höher auf der einen Seite die Anspannung wuchs, auf der anderen der Ge- gensatz ausgebildet worden sei. Die überlieferten Nachrichten lassen uns darüber fast ganz im Dunkeln: eine Fortsetzung der Schule des Praxiteles, welche hier zunächst in Betracht kom- men musste, kennen wir nicht. Um so erwünschter müssen uns einige wenige, ganz beiläufige Nachrichten über einen Künstler sein, der wie die übrigen ebenfalls Kleinasien zum Vaterlande hat, nemlich Boëthos; denn sie scheinen gleichsam vom Schicksal dazu bewahrt, uns wenigstens auf die richtige Spur zu lenken. Die drei statuarischen Werke, welche von diesem Künstler angeführt werden, sind Figuren von Kindern, unter denen eins, der Knabe mit der Gans, uns noch in mehr- fachen Wiederholungen erhalten ist. Hier haben wir also im Gegensatz der gewaltigsten Werke, welche unser Inneres tief erregen müssen, die höchste Naivetät, Werke, an welchen auch das kindlichste Gemüth seine Freude haben wird, wel- che darum aber auch weniger zu öffentlichen Monumenten ge- eignet, als bestimmt erscheinen, in der Musse des Privatlebens Erheiterung und Lust zu gewähren; und sollte auch z. B. der Knabe mit der Gans, ähnlich wie das Gänsemännchen zu Nürnberg oder das andere bekannte Männchen zu Brüssel, ur- sprünglich zum Schmucke eines öffentlichen Brunnens bestimmt gewesen sein, so würde doch auch hier der Hauptzweck sei- ner Aufstellung nur der sein, in einem Augenblicke der Musse zwischen der Arbeit des täglichen Lebens betrachtet zu wer- den. Leider fehlen uns weitere Nachrichten, um in dieser Pe- riode den Umfang derartiger Kunstthätigkeit weiter zu verfol- gen, in welche sich z. B. der dornausziehende Knabe des Ca- pitols vertrefflich einfügen würde. Welchen Einfluss sie in- dess gewann, zeigen unzählige Werke römischer Kunst, in welchen sogar ernstere mythologische Vorstellungen vielfach, so zu sagen, in das Kindesalter übersetzt erscheinen. — Die Person des Boëthos muss uns aber noch an eine andere Seite
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erweist. Wir fanden schon in der vorigen Periode neben dem
gewaltigen Pathos eines Skopas ein entgegengesetztes Streben
nach ruhigster Anmuth; und möchten daher von vorn herein
voraussetzen, dass auch in dieser Periode, je höher auf der
einen Seite die Anspannung wuchs, auf der anderen der Ge-
gensatz ausgebildet worden sei. Die überlieferten Nachrichten
lassen uns darüber fast ganz im Dunkeln: eine Fortsetzung der
Schule des Praxiteles, welche hier zunächst in Betracht kom-
men musste, kennen wir nicht. Um so erwünschter müssen
uns einige wenige, ganz beiläufige Nachrichten über einen
Künstler sein, der wie die übrigen ebenfalls Kleinasien zum
Vaterlande hat, nemlich Boëthos; denn sie scheinen gleichsam
vom Schicksal dazu bewahrt, uns wenigstens auf die richtige
Spur zu lenken. Die drei statuarischen Werke, welche von
diesem Künstler angeführt werden, sind Figuren von Kindern,
unter denen eins, der Knabe mit der Gans, uns noch in mehr-
fachen Wiederholungen erhalten ist. Hier haben wir also im
Gegensatz der gewaltigsten Werke, welche unser Inneres tief
erregen müssen, die höchste Naivetät, Werke, an welchen
auch das kindlichste Gemüth seine Freude haben wird, wel-
che darum aber auch weniger zu öffentlichen Monumenten ge-
eignet, als bestimmt erscheinen, in der Musse des Privatlebens
Erheiterung und Lust zu gewähren; und sollte auch z. B.
der Knabe mit der Gans, ähnlich wie das Gänsemännchen zu
Nürnberg oder das andere bekannte Männchen zu Brüssel, ur-
sprünglich zum Schmucke eines öffentlichen Brunnens bestimmt
gewesen sein, so würde doch auch hier der Hauptzweck sei-
ner Aufstellung nur der sein, in einem Augenblicke der Musse
zwischen der Arbeit des täglichen Lebens betrachtet zu wer-
den. Leider fehlen uns weitere Nachrichten, um in dieser Pe-
riode den Umfang derartiger Kunstthätigkeit weiter zu verfol-
gen, in welche sich z. B. der dornausziehende Knabe des Ca-
pitols vertrefflich einfügen würde. Welchen Einfluss sie in-
dess gewann, zeigen unzählige Werke römischer Kunst, in
welchen sogar ernstere mythologische Vorstellungen vielfach,
so zu sagen, in das Kindesalter übersetzt erscheinen. — Die
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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 511. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/524>, abgerufen am 24.11.2024.
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