Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853.

Bild:
<< vorherige Seite

einer historischen Wahrheit zu verleihen, wie sie bisher noch
nirgends erreicht worden war.

Wir sind dem Künstler von der Einzelnheit in der Behand-
lung der Form bis zum allgemeinsten Gedanken der Composition
gefolgt, um ein klares Verständniss darüber zu erlangen, was
er in seinem Werke geleistet hat. Jetzt dürfen wir nun die
weitere Frage aufwerfen, wodurch er zu dieser Leistung be-
fähigt war, welches die Vorbedingungen waren, durch deren
Erfüllung er seine Aufgabe in so vollendeter Weise löste; oder
mit anderen Worten, welche Stelle wir dem Künstler oder sei-
ner Schule in der historischen Entwickelung der griechischen
Kunst anzuweisen haben. Denn dass diese Schule, wenn sie
auch nicht direct von einer der früheren abzuleiten ist, doch in
einem bestimmten Zusammenhange mit der gesammten früheren
Entwickelung stehen muss, ist eine Voraussetzung, die des
Beweises nicht bedürfen wird. Die griechische Kunst aber
hatte bereits einen weiten Weg durchlaufen. Auf Phidias, My-
ron, Polyklet waren Skopas, Praxiteles, Lysipp gefolgt. Die
zweiten standen auf den Schultern der ersten; zugleich aber
führte jeder von ihnen einen neuen Gedanken in die Kunst ein,
dessen selbstständige Verarbeitung und Durchbildung einem je-
den erst seine bestimmte Stellung in der Geschichte der grie-
chischen Kunst sicherte: so Skopas das Pathetische, Praxiteles
das Reizende der äusseren Erscheinung, Lysipp die neue Pro-
portionslehre u. a. In diesen bestimmten Kreisen berühren sie
sich einander wenig, vielmehr ist ein jeder eben auf die Ent-
wickelung seines besonderen Princips bedacht. Die Frage nun,
ob die Bedeutung der pergamenischen Schule in ähnlicher Weise
auf der Einführung eines neuen Princips beruhe, lässt sich un-
ter verschiedenen Gesichtspunkten auch verschieden beantwor-
ten. Es würde nicht schwer sein, nachzuweisen, wie alle
Einzelnheiten der formellen und ideellen Behandlung dieser Gal-
lier in Erscheinungen der vorangehenden Zeit ihre Vorbilder
haben, von denen der Künstler sie entlehnte, oder doch ent-
lehnen konnte. Die an das Naturalistische streifende Behand-
lung der Haut, der eigenthümliche Charakter des Haares erinnern
uns an die Bestrebungen des Lysistratos und Lysipp. Für den
scharf ausgeprägten Charakter des Kopfes können manche Por-
traits aus Alexanders Zeit als Vorstufe gelten. Einen sterben-
den Verwundeten hatte schon Kresilas gebildet, eine sterbende

einer historischen Wahrheit zu verleihen, wie sie bisher noch
nirgends erreicht worden war.

Wir sind dem Künstler von der Einzelnheit in der Behand-
lung der Form bis zum allgemeinsten Gedanken der Composition
gefolgt, um ein klares Verständniss darüber zu erlangen, was
er in seinem Werke geleistet hat. Jetzt dürfen wir nun die
weitere Frage aufwerfen, wodurch er zu dieser Leistung be-
fähigt war, welches die Vorbedingungen waren, durch deren
Erfüllung er seine Aufgabe in so vollendeter Weise löste; oder
mit anderen Worten, welche Stelle wir dem Künstler oder sei-
ner Schule in der historischen Entwickelung der griechischen
Kunst anzuweisen haben. Denn dass diese Schule, wenn sie
auch nicht direct von einer der früheren abzuleiten ist, doch in
einem bestimmten Zusammenhange mit der gesammten früheren
Entwickelung stehen muss, ist eine Voraussetzung, die des
Beweises nicht bedürfen wird. Die griechische Kunst aber
hatte bereits einen weiten Weg durchlaufen. Auf Phidias, My-
ron, Polyklet waren Skopas, Praxiteles, Lysipp gefolgt. Die
zweiten standen auf den Schultern der ersten; zugleich aber
führte jeder von ihnen einen neuen Gedanken in die Kunst ein,
dessen selbstständige Verarbeitung und Durchbildung einem je-
den erst seine bestimmte Stellung in der Geschichte der grie-
chischen Kunst sicherte: so Skopas das Pathetische, Praxiteles
das Reizende der äusseren Erscheinung, Lysipp die neue Pro-
portionslehre u. a. In diesen bestimmten Kreisen berühren sie
sich einander wenig, vielmehr ist ein jeder eben auf die Ent-
wickelung seines besonderen Princips bedacht. Die Frage nun,
ob die Bedeutung der pergamenischen Schule in ähnlicher Weise
auf der Einführung eines neuen Princips beruhe, lässt sich un-
ter verschiedenen Gesichtspunkten auch verschieden beantwor-
ten. Es würde nicht schwer sein, nachzuweisen, wie alle
Einzelnheiten der formellen und ideellen Behandlung dieser Gal-
lier in Erscheinungen der vorangehenden Zeit ihre Vorbilder
haben, von denen der Künstler sie entlehnte, oder doch ent-
lehnen konnte. Die an das Naturalistische streifende Behand-
lung der Haut, der eigenthümliche Charakter des Haares erinnern
uns an die Bestrebungen des Lysistratos und Lysipp. Für den
scharf ausgeprägten Charakter des Kopfes können manche Por-
traits aus Alexanders Zeit als Vorstufe gelten. Einen sterben-
den Verwundeten hatte schon Kresilas gebildet, eine sterbende

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0470" n="457"/>
einer historischen Wahrheit zu verleihen, wie sie bisher noch<lb/>
nirgends erreicht worden war.</p><lb/>
            <p>Wir sind dem Künstler von der Einzelnheit in der Behand-<lb/>
lung der Form bis zum allgemeinsten Gedanken der Composition<lb/>
gefolgt, um ein klares Verständniss darüber zu erlangen, was<lb/>
er in seinem Werke geleistet hat. Jetzt dürfen wir nun die<lb/>
weitere Frage aufwerfen, wodurch er zu dieser Leistung be-<lb/>
fähigt war, welches die Vorbedingungen waren, durch deren<lb/>
Erfüllung er seine Aufgabe in so vollendeter Weise löste; oder<lb/>
mit anderen Worten, welche Stelle wir dem Künstler oder sei-<lb/>
ner Schule in der historischen Entwickelung der griechischen<lb/>
Kunst anzuweisen haben. Denn dass diese Schule, wenn sie<lb/>
auch nicht direct von einer der früheren abzuleiten ist, doch in<lb/>
einem bestimmten Zusammenhange mit der gesammten früheren<lb/>
Entwickelung stehen muss, ist eine Voraussetzung, die des<lb/>
Beweises nicht bedürfen wird. Die griechische Kunst aber<lb/>
hatte bereits einen weiten Weg durchlaufen. Auf Phidias, My-<lb/>
ron, Polyklet waren Skopas, Praxiteles, Lysipp gefolgt. Die<lb/>
zweiten standen auf den Schultern der ersten; zugleich aber<lb/>
führte jeder von ihnen einen neuen Gedanken in die Kunst ein,<lb/>
dessen selbstständige Verarbeitung und Durchbildung einem je-<lb/>
den erst seine bestimmte Stellung in der Geschichte der grie-<lb/>
chischen Kunst sicherte: so Skopas das Pathetische, Praxiteles<lb/>
das Reizende der äusseren Erscheinung, Lysipp die neue Pro-<lb/>
portionslehre u. a. In diesen bestimmten Kreisen berühren sie<lb/>
sich einander wenig, vielmehr ist ein jeder eben auf die Ent-<lb/>
wickelung seines besonderen Princips bedacht. Die Frage nun,<lb/>
ob die Bedeutung der pergamenischen Schule in ähnlicher Weise<lb/>
auf der Einführung eines neuen Princips beruhe, lässt sich un-<lb/>
ter verschiedenen Gesichtspunkten auch verschieden beantwor-<lb/>
ten. Es würde nicht schwer sein, nachzuweisen, wie alle<lb/>
Einzelnheiten der formellen und ideellen Behandlung dieser Gal-<lb/>
lier in Erscheinungen der vorangehenden Zeit ihre Vorbilder<lb/>
haben, von denen der Künstler sie entlehnte, oder doch ent-<lb/>
lehnen konnte. Die an das Naturalistische streifende Behand-<lb/>
lung der Haut, der eigenthümliche Charakter des Haares erinnern<lb/>
uns an die Bestrebungen des Lysistratos und Lysipp. Für den<lb/>
scharf ausgeprägten Charakter des Kopfes können manche Por-<lb/>
traits aus Alexanders Zeit als Vorstufe gelten. Einen sterben-<lb/>
den Verwundeten hatte schon Kresilas gebildet, eine sterbende<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[457/0470] einer historischen Wahrheit zu verleihen, wie sie bisher noch nirgends erreicht worden war. Wir sind dem Künstler von der Einzelnheit in der Behand- lung der Form bis zum allgemeinsten Gedanken der Composition gefolgt, um ein klares Verständniss darüber zu erlangen, was er in seinem Werke geleistet hat. Jetzt dürfen wir nun die weitere Frage aufwerfen, wodurch er zu dieser Leistung be- fähigt war, welches die Vorbedingungen waren, durch deren Erfüllung er seine Aufgabe in so vollendeter Weise löste; oder mit anderen Worten, welche Stelle wir dem Künstler oder sei- ner Schule in der historischen Entwickelung der griechischen Kunst anzuweisen haben. Denn dass diese Schule, wenn sie auch nicht direct von einer der früheren abzuleiten ist, doch in einem bestimmten Zusammenhange mit der gesammten früheren Entwickelung stehen muss, ist eine Voraussetzung, die des Beweises nicht bedürfen wird. Die griechische Kunst aber hatte bereits einen weiten Weg durchlaufen. Auf Phidias, My- ron, Polyklet waren Skopas, Praxiteles, Lysipp gefolgt. Die zweiten standen auf den Schultern der ersten; zugleich aber führte jeder von ihnen einen neuen Gedanken in die Kunst ein, dessen selbstständige Verarbeitung und Durchbildung einem je- den erst seine bestimmte Stellung in der Geschichte der grie- chischen Kunst sicherte: so Skopas das Pathetische, Praxiteles das Reizende der äusseren Erscheinung, Lysipp die neue Pro- portionslehre u. a. In diesen bestimmten Kreisen berühren sie sich einander wenig, vielmehr ist ein jeder eben auf die Ent- wickelung seines besonderen Princips bedacht. Die Frage nun, ob die Bedeutung der pergamenischen Schule in ähnlicher Weise auf der Einführung eines neuen Princips beruhe, lässt sich un- ter verschiedenen Gesichtspunkten auch verschieden beantwor- ten. Es würde nicht schwer sein, nachzuweisen, wie alle Einzelnheiten der formellen und ideellen Behandlung dieser Gal- lier in Erscheinungen der vorangehenden Zeit ihre Vorbilder haben, von denen der Künstler sie entlehnte, oder doch ent- lehnen konnte. Die an das Naturalistische streifende Behand- lung der Haut, der eigenthümliche Charakter des Haares erinnern uns an die Bestrebungen des Lysistratos und Lysipp. Für den scharf ausgeprägten Charakter des Kopfes können manche Por- traits aus Alexanders Zeit als Vorstufe gelten. Einen sterben- den Verwundeten hatte schon Kresilas gebildet, eine sterbende

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/470
Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 457. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/470>, abgerufen am 21.05.2024.