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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853.

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heit diesem Volke erst seinen bestimmten Charakter geben.
Freilich mussten alle diese Züge eben so viele Abweichungen
von der reinen Schönheit sein. Aber auch diese Abweichun-
gen, sei es dass sie auf die Verschiedenheit der Race, sei es
dass sie auf äussere Verhältnisse, Klima, Lebensweise u. a.
zurückzuführen sind, haben ihre bestimmte Regel: denn die
Natur wirkt im Ganzen auch auf das ganze Volk gleichartig.
Indem nun der Künstler aus den einzelnen Erscheinungen diese
Regel abstrahirte, durfte er von dem Streben nach absolut
schönen Formen abgehen. Denn das minder Vollkommene ord-
nete sich einer neuen einheitlichen Idee unter: es verleiht dem
Werke die Schönheit des Charakters, der historischen Wahrheit.

Ich fürchte nicht, dass man hier andere Barbarenbildun-
gen, etwa von der Art, wie die von Göttling Thusnelda ge-
nannte Statue, zur Vergleichung herbeiziehen werde, um aus
ihnen den Vorwurf für den Künstler der Gallier herzuleiten,
dass er sich zur Erreichung seines Zweckes einer zu grossen
Menge an sich unschöner Einzelnheiten bedient habe. An je-
ner sogenannten Thusnelda findet sich von denselben freilich
kaum eine Spur, und doch tritt an ihr der Barbarencharakter
in voller Klarheit und Deutlichkeit zu Tage. Niemand wird
sich überreden lassen, dass bei ihrer Bildung den Künstler vor-
wiegend Kritik und Reflexion geleitet haben. Aber sie wirk-
lich für eine Thusnelda, das Bild gerade dieser oder überhaupt
nur einer einzelnen bestimmten Person zu halten, hindert uns
nach meiner Meinung eben dieser Mangel einer individuellen
Durchbildung des Einzelnen. Sie steht vielmehr da als das
Urbild für viele, ja für alle Frauen ihrer Nation, als ein frei
aus einer Idee erschaffenes Werk; und soll ihr einmal ein
Name ertheilt werden, so entspricht offenbar ihrem Wesen am
besten: Germania devicta. So bedarf die Behandlung in den
einfachsten und allgemeinsten, in den idealen Formen keiner
Rechtfertigung mehr; aber auch der Künstler der Gallier ist
gerechtfertigt. Denn seine Aufgabe war eine gänzlich ver-
schiedene: er sollte nicht Gallien, die Nation, er sollte Gallier
in einer bestimmten Handlung bilden; und hierzu blieb ihm nur
der Weg, welchen er gewählt: die gewissenhafte Beobachtung
und Auswahl des Details, so weit es zur Charakteristik noth-
wendig war. Betrachten wir nun nach Feststellung dieses Ge-
sichtspunktes nochmals die Eigenthümlichkeiten dieser Werke,

heit diesem Volke erst seinen bestimmten Charakter geben.
Freilich mussten alle diese Züge eben so viele Abweichungen
von der reinen Schönheit sein. Aber auch diese Abweichun-
gen, sei es dass sie auf die Verschiedenheit der Race, sei es
dass sie auf äussere Verhältnisse, Klima, Lebensweise u. a.
zurückzuführen sind, haben ihre bestimmte Regel: denn die
Natur wirkt im Ganzen auch auf das ganze Volk gleichartig.
Indem nun der Künstler aus den einzelnen Erscheinungen diese
Regel abstrahirte, durfte er von dem Streben nach absolut
schönen Formen abgehen. Denn das minder Vollkommene ord-
nete sich einer neuen einheitlichen Idee unter: es verleiht dem
Werke die Schönheit des Charakters, der historischen Wahrheit.

Ich fürchte nicht, dass man hier andere Barbarenbildun-
gen, etwa von der Art, wie die von Göttling Thusnelda ge-
nannte Statue, zur Vergleichung herbeiziehen werde, um aus
ihnen den Vorwurf für den Künstler der Gallier herzuleiten,
dass er sich zur Erreichung seines Zweckes einer zu grossen
Menge an sich unschöner Einzelnheiten bedient habe. An je-
ner sogenannten Thusnelda findet sich von denselben freilich
kaum eine Spur, und doch tritt an ihr der Barbarencharakter
in voller Klarheit und Deutlichkeit zu Tage. Niemand wird
sich überreden lassen, dass bei ihrer Bildung den Künstler vor-
wiegend Kritik und Reflexion geleitet haben. Aber sie wirk-
lich für eine Thusnelda, das Bild gerade dieser oder überhaupt
nur einer einzelnen bestimmten Person zu halten, hindert uns
nach meiner Meinung eben dieser Mangel einer individuellen
Durchbildung des Einzelnen. Sie steht vielmehr da als das
Urbild für viele, ja für alle Frauen ihrer Nation, als ein frei
aus einer Idee erschaffenes Werk; und soll ihr einmal ein
Name ertheilt werden, so entspricht offenbar ihrem Wesen am
besten: Germania devicta. So bedarf die Behandlung in den
einfachsten und allgemeinsten, in den idealen Formen keiner
Rechtfertigung mehr; aber auch der Künstler der Gallier ist
gerechtfertigt. Denn seine Aufgabe war eine gänzlich ver-
schiedene: er sollte nicht Gallien, die Nation, er sollte Gallier
in einer bestimmten Handlung bilden; und hierzu blieb ihm nur
der Weg, welchen er gewählt: die gewissenhafte Beobachtung
und Auswahl des Details, so weit es zur Charakteristik noth-
wendig war. Betrachten wir nun nach Feststellung dieses Ge-
sichtspunktes nochmals die Eigenthümlichkeiten dieser Werke,

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[453/0466] heit diesem Volke erst seinen bestimmten Charakter geben. Freilich mussten alle diese Züge eben so viele Abweichungen von der reinen Schönheit sein. Aber auch diese Abweichun- gen, sei es dass sie auf die Verschiedenheit der Race, sei es dass sie auf äussere Verhältnisse, Klima, Lebensweise u. a. zurückzuführen sind, haben ihre bestimmte Regel: denn die Natur wirkt im Ganzen auch auf das ganze Volk gleichartig. Indem nun der Künstler aus den einzelnen Erscheinungen diese Regel abstrahirte, durfte er von dem Streben nach absolut schönen Formen abgehen. Denn das minder Vollkommene ord- nete sich einer neuen einheitlichen Idee unter: es verleiht dem Werke die Schönheit des Charakters, der historischen Wahrheit. Ich fürchte nicht, dass man hier andere Barbarenbildun- gen, etwa von der Art, wie die von Göttling Thusnelda ge- nannte Statue, zur Vergleichung herbeiziehen werde, um aus ihnen den Vorwurf für den Künstler der Gallier herzuleiten, dass er sich zur Erreichung seines Zweckes einer zu grossen Menge an sich unschöner Einzelnheiten bedient habe. An je- ner sogenannten Thusnelda findet sich von denselben freilich kaum eine Spur, und doch tritt an ihr der Barbarencharakter in voller Klarheit und Deutlichkeit zu Tage. Niemand wird sich überreden lassen, dass bei ihrer Bildung den Künstler vor- wiegend Kritik und Reflexion geleitet haben. Aber sie wirk- lich für eine Thusnelda, das Bild gerade dieser oder überhaupt nur einer einzelnen bestimmten Person zu halten, hindert uns nach meiner Meinung eben dieser Mangel einer individuellen Durchbildung des Einzelnen. Sie steht vielmehr da als das Urbild für viele, ja für alle Frauen ihrer Nation, als ein frei aus einer Idee erschaffenes Werk; und soll ihr einmal ein Name ertheilt werden, so entspricht offenbar ihrem Wesen am besten: Germania devicta. So bedarf die Behandlung in den einfachsten und allgemeinsten, in den idealen Formen keiner Rechtfertigung mehr; aber auch der Künstler der Gallier ist gerechtfertigt. Denn seine Aufgabe war eine gänzlich ver- schiedene: er sollte nicht Gallien, die Nation, er sollte Gallier in einer bestimmten Handlung bilden; und hierzu blieb ihm nur der Weg, welchen er gewählt: die gewissenhafte Beobachtung und Auswahl des Details, so weit es zur Charakteristik noth- wendig war. Betrachten wir nun nach Feststellung dieses Ge- sichtspunktes nochmals die Eigenthümlichkeiten dieser Werke,

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 453. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/466>, abgerufen am 21.05.2024.