Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853.

Bild:
<< vorherige Seite

Schliesslich aber dürfen wir doch auch die Zeit, in wel-
cher Lysipp thätig war, nicht unberücksichtigt lassen. Denn
mag ein Künstler auch noch so sehr auf die Kunst seiner Zeit
einwirken, ja sie beherrschen, so ist er doch selbst wieder ein
Kind eben dieser Zeit. Wie in der Periode des Phidias oder
des Polyklet die Begriffe des kalos kagathos noch zu einem
einzigen verschmolzen waren, so erschien auch in der Kunst
die körperliche Schönheit noch nicht getrennt von ehrbarer
Zucht und Würde, von geistigem Ernst und Adel. Man wollte
durch die Kunst erheben, begeistern, nicht blos gefallen. Die
Zeit des Lysipp dagegen zog dem genus austerum das iucun-
dum, dem decor die elegantia vor. Die zunächst auf den
äusseren Sinn wirkende Kunst sollte auch diesen Sinn reizen,
ihn durch Genuss befriedigen. Diesen Forderungen konnte sich
natürlich auch eine sonst so strenge Kunstschule, wie dieje-
nige des Polyklet war, auf die Länge nicht entziehen; ja
blicken wir auf die geringe Zahl von argivischen und sikyoni-
schen Künstlern, welche nach den unmittelbaren Schülern des-
selben bis auf Lysipp angeführt werden, so scheint sie es fast
schon zu lange gethan zu haben und in Gefahr gewesen zu
sein, gänzlich in Vergessenheit zu gerathen. Wenn wir also
nicht umhin gekonnt haben, in der Entwickelung der Kunst
durch Lysipp, soweit wir den Maassstab der höchsten geisti-
gen Forderungen anlegten, ein Herabsteigen, ein Sinken zu
erkennen, so müssen wir doch eben so bereitwillig ihm das
Verdienst zugestehen, in vollendetster Weise die Formen ge-
funden zu haben, durch welche jenen neueren Ansprüchen ge-
nügt werden konnte, ohne das Wesen der Kunst selbst aufzu-
geben; und unter diesem Gesichtspunkte leugnen wir nicht,
dass Lysipp selbst den gewaltigsten Geistern der vorigen Pe-
riode als ebenbürtig an die Seite gestellt zu werden verdient.

Genossen des Skopas.

Es ist bereits angeführt worden, dass Skopas am Mauso-
leum mit mehreren anderen Künstlern gemeinschaftlich arbei-
tete. Nach Plinius (36, 31) waren von seiner Hand die Sculp-
turen an der Ostseite; die im Norden von Bryaxis, im Süden
von Timotheos, im Westen von Leochares; das marmorne
Viergespann auf dem Gipfel von Pythis. Vitruv (VII, praef.

Schliesslich aber dürfen wir doch auch die Zeit, in wel-
cher Lysipp thätig war, nicht unberücksichtigt lassen. Denn
mag ein Künstler auch noch so sehr auf die Kunst seiner Zeit
einwirken, ja sie beherrschen, so ist er doch selbst wieder ein
Kind eben dieser Zeit. Wie in der Periode des Phidias oder
des Polyklet die Begriffe des καλὸς κἀγαϑὸς noch zu einem
einzigen verschmolzen waren, so erschien auch in der Kunst
die körperliche Schönheit noch nicht getrennt von ehrbarer
Zucht und Würde, von geistigem Ernst und Adel. Man wollte
durch die Kunst erheben, begeistern, nicht blos gefallen. Die
Zeit des Lysipp dagegen zog dem genus austerum das iucun-
dum, dem decor die elegantia vor. Die zunächst auf den
äusseren Sinn wirkende Kunst sollte auch diesen Sinn reizen,
ihn durch Genuss befriedigen. Diesen Forderungen konnte sich
natürlich auch eine sonst so strenge Kunstschule, wie dieje-
nige des Polyklet war, auf die Länge nicht entziehen; ja
blicken wir auf die geringe Zahl von argivischen und sikyoni-
schen Künstlern, welche nach den unmittelbaren Schülern des-
selben bis auf Lysipp angeführt werden, so scheint sie es fast
schon zu lange gethan zu haben und in Gefahr gewesen zu
sein, gänzlich in Vergessenheit zu gerathen. Wenn wir also
nicht umhin gekonnt haben, in der Entwickelung der Kunst
durch Lysipp, soweit wir den Maassstab der höchsten geisti-
gen Forderungen anlegten, ein Herabsteigen, ein Sinken zu
erkennen, so müssen wir doch eben so bereitwillig ihm das
Verdienst zugestehen, in vollendetster Weise die Formen ge-
funden zu haben, durch welche jenen neueren Ansprüchen ge-
nügt werden konnte, ohne das Wesen der Kunst selbst aufzu-
geben; und unter diesem Gesichtspunkte leugnen wir nicht,
dass Lysipp selbst den gewaltigsten Geistern der vorigen Pe-
riode als ebenbürtig an die Seite gestellt zu werden verdient.

Genossen des Skopas.

Es ist bereits angeführt worden, dass Skopas am Mauso-
leum mit mehreren anderen Künstlern gemeinschaftlich arbei-
tete. Nach Plinius (36, 31) waren von seiner Hand die Sculp-
turen an der Ostseite; die im Norden von Bryaxis, im Süden
von Timotheos, im Westen von Leochares; das marmorne
Viergespann auf dem Gipfel von Pythis. Vitruv (VII, praef.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0395" n="382"/>
            <p>Schliesslich aber dürfen wir doch auch die Zeit, in wel-<lb/>
cher Lysipp thätig war, nicht unberücksichtigt lassen. Denn<lb/>
mag ein Künstler auch noch so sehr auf die Kunst seiner Zeit<lb/>
einwirken, ja sie beherrschen, so ist er doch selbst wieder ein<lb/>
Kind eben dieser Zeit. Wie in der Periode des Phidias oder<lb/>
des Polyklet die Begriffe des &#x03BA;&#x03B1;&#x03BB;&#x1F78;&#x03C2; &#x03BA;&#x1F00;&#x03B3;&#x03B1;&#x03D1;&#x1F78;&#x03C2; noch zu einem<lb/>
einzigen verschmolzen waren, so erschien auch in der Kunst<lb/>
die körperliche Schönheit noch nicht getrennt von ehrbarer<lb/>
Zucht und Würde, von geistigem Ernst und Adel. Man wollte<lb/>
durch die Kunst erheben, begeistern, nicht blos gefallen. Die<lb/>
Zeit des Lysipp dagegen zog dem genus austerum das iucun-<lb/>
dum, dem decor die elegantia vor. Die zunächst auf den<lb/>
äusseren Sinn wirkende Kunst sollte auch diesen Sinn reizen,<lb/>
ihn durch Genuss befriedigen. Diesen Forderungen konnte sich<lb/>
natürlich auch eine sonst so strenge Kunstschule, wie dieje-<lb/>
nige des Polyklet war, auf die Länge nicht entziehen; ja<lb/>
blicken wir auf die geringe Zahl von argivischen und sikyoni-<lb/>
schen Künstlern, welche nach den unmittelbaren Schülern des-<lb/>
selben bis auf Lysipp angeführt werden, so scheint sie es fast<lb/>
schon zu lange gethan zu haben und in Gefahr gewesen zu<lb/>
sein, gänzlich in Vergessenheit zu gerathen. Wenn wir also<lb/>
nicht umhin gekonnt haben, in der Entwickelung der Kunst<lb/>
durch Lysipp, soweit wir den Maassstab der höchsten geisti-<lb/>
gen Forderungen anlegten, ein Herabsteigen, ein Sinken zu<lb/>
erkennen, so müssen wir doch eben so bereitwillig ihm das<lb/>
Verdienst zugestehen, in vollendetster Weise die Formen ge-<lb/>
funden zu haben, durch welche jenen neueren Ansprüchen ge-<lb/>
nügt werden konnte, ohne das Wesen der Kunst selbst aufzu-<lb/>
geben; und unter diesem Gesichtspunkte leugnen wir nicht,<lb/>
dass Lysipp selbst den gewaltigsten Geistern der vorigen Pe-<lb/>
riode als ebenbürtig an die Seite gestellt zu werden verdient.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b"> <hi rendition="#g">Genossen des Skopas.</hi> </hi> </head><lb/>
            <p>Es ist bereits angeführt worden, dass Skopas am Mauso-<lb/>
leum mit mehreren anderen Künstlern gemeinschaftlich arbei-<lb/>
tete. Nach Plinius (36, 31) waren von seiner Hand die Sculp-<lb/>
turen an der Ostseite; die im Norden von <hi rendition="#g">Bryaxis,</hi> im Süden<lb/>
von <hi rendition="#g">Timotheos,</hi> im Westen von <hi rendition="#g">Leochares;</hi> das marmorne<lb/>
Viergespann auf dem Gipfel von <hi rendition="#g">Pythis</hi>. Vitruv (VII, praef.<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[382/0395] Schliesslich aber dürfen wir doch auch die Zeit, in wel- cher Lysipp thätig war, nicht unberücksichtigt lassen. Denn mag ein Künstler auch noch so sehr auf die Kunst seiner Zeit einwirken, ja sie beherrschen, so ist er doch selbst wieder ein Kind eben dieser Zeit. Wie in der Periode des Phidias oder des Polyklet die Begriffe des καλὸς κἀγαϑὸς noch zu einem einzigen verschmolzen waren, so erschien auch in der Kunst die körperliche Schönheit noch nicht getrennt von ehrbarer Zucht und Würde, von geistigem Ernst und Adel. Man wollte durch die Kunst erheben, begeistern, nicht blos gefallen. Die Zeit des Lysipp dagegen zog dem genus austerum das iucun- dum, dem decor die elegantia vor. Die zunächst auf den äusseren Sinn wirkende Kunst sollte auch diesen Sinn reizen, ihn durch Genuss befriedigen. Diesen Forderungen konnte sich natürlich auch eine sonst so strenge Kunstschule, wie dieje- nige des Polyklet war, auf die Länge nicht entziehen; ja blicken wir auf die geringe Zahl von argivischen und sikyoni- schen Künstlern, welche nach den unmittelbaren Schülern des- selben bis auf Lysipp angeführt werden, so scheint sie es fast schon zu lange gethan zu haben und in Gefahr gewesen zu sein, gänzlich in Vergessenheit zu gerathen. Wenn wir also nicht umhin gekonnt haben, in der Entwickelung der Kunst durch Lysipp, soweit wir den Maassstab der höchsten geisti- gen Forderungen anlegten, ein Herabsteigen, ein Sinken zu erkennen, so müssen wir doch eben so bereitwillig ihm das Verdienst zugestehen, in vollendetster Weise die Formen ge- funden zu haben, durch welche jenen neueren Ansprüchen ge- nügt werden konnte, ohne das Wesen der Kunst selbst aufzu- geben; und unter diesem Gesichtspunkte leugnen wir nicht, dass Lysipp selbst den gewaltigsten Geistern der vorigen Pe- riode als ebenbürtig an die Seite gestellt zu werden verdient. Genossen des Skopas. Es ist bereits angeführt worden, dass Skopas am Mauso- leum mit mehreren anderen Künstlern gemeinschaftlich arbei- tete. Nach Plinius (36, 31) waren von seiner Hand die Sculp- turen an der Ostseite; die im Norden von Bryaxis, im Süden von Timotheos, im Westen von Leochares; das marmorne Viergespann auf dem Gipfel von Pythis. Vitruv (VII, praef.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/395
Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 382. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/395>, abgerufen am 13.05.2024.