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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853.

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nannten) Idealstyl der griechischen Kunst." Aber, was Lysipp
that, war doch immer nur ein erster, wenn auch ein bedeuten-
der Schritt nach dieser Richtung hin. Er folgte noch nicht
"einem Begriffe von der Menschengestalt, der ganz ausser der
Erfahrung liegt." Allerdings aber konnte sein Bestreben, an
die Stelle der Wirklichkeit und Wahrheit den Schein dersel-
ben zu setzen, zu dem Glauben verleiten, dass die Kunst sich
über die Wirklichkeit zu erheben und eine jenseit der Natur
liegende Schönheit zu erreichen vermöge.

Doch wir haben hier noch nicht zu untersuchen, was das
Beispiel des Lysipp auf die nachfolgenden Künstler wirkte,
sondern vielmehr, auf welchen Ursachen seine eigene künstle-
rische Entwickelung beruhte. Wir müssen dabei zu dem An-
fange unserer Untersuchung zurückkehren. Wir suchten dort
nachzuweisen, dass eine hohe Genialität im Schaffen idealer
Gestalten dem Lysipp nicht eigen war. Auch fanden wir, dass
er trotz der unermesslichen Fruchtbarkeit sich doch bei der
Wahl der Gegenstände innerhalb sehr bestimmter Grenzen be-
wegte. Vor Allem war es die kraftvolle Jünglings- und Män-
nergestalt, welche er darzustellen liebte, und zwar ebensowohl
in ihrem heroischen oder athletischen Charakter, als in por-
taitmässigen Bildungen. Bei den letzteren wollen wir hier noch
einen Augenblick verweilen: denn gerade unter ihnen finden
sich drei von einer besonders ausgesprochenen Eigenthümlich-
keit: die des Alexander, des Sokrates und des Aesop. Es ist
bekannt, dass der Kopf des ersteren in Haltung und Ausdruck
gewisse Unregelmässigkeiten zeigte. Gerade deshalb aber
schätzte dieser Herrscher seine Bildnisse von der Hand des
Lysipp so hoch, weil dieser Künstler allein es verstand, in
ihnen trotz, ja vielleicht vermittelst eines strengen Festhaltens
an diesen fast krankhaften Eigenthümlichkeiten auch das gei-
stige Wesen, das ethos, den Ausdruck des Mannhaften, Löwen-
ähnlichen, der arete, also den lebendigsten Ausdruck der In-
dividualität wiederzugeben. Die Portraits des Sokrates und
des Aesop aber haben das unter einander gemein, dass in
ihnen mit unschönen körperlichen Formen ein hoher Grad gei-
stigen Ausdrucks verbunden erscheint. Zwar wage ich nicht,
die vorzügliche Statue des Aesop in Villa Albani auf Lysipp
zurückzuführen. Aber betrachten wir auch alle sonst bekann-
ten Bilder dieses Fabeldichters ganz im Allgemeinen, so finden

nannten) Idealstyl der griechischen Kunst.” Aber, was Lysipp
that, war doch immer nur ein erster, wenn auch ein bedeuten-
der Schritt nach dieser Richtung hin. Er folgte noch nicht
„einem Begriffe von der Menschengestalt, der ganz ausser der
Erfahrung liegt.” Allerdings aber konnte sein Bestreben, an
die Stelle der Wirklichkeit und Wahrheit den Schein dersel-
ben zu setzen, zu dem Glauben verleiten, dass die Kunst sich
über die Wirklichkeit zu erheben und eine jenseit der Natur
liegende Schönheit zu erreichen vermöge.

Doch wir haben hier noch nicht zu untersuchen, was das
Beispiel des Lysipp auf die nachfolgenden Künstler wirkte,
sondern vielmehr, auf welchen Ursachen seine eigene künstle-
rische Entwickelung beruhte. Wir müssen dabei zu dem An-
fange unserer Untersuchung zurückkehren. Wir suchten dort
nachzuweisen, dass eine hohe Genialität im Schaffen idealer
Gestalten dem Lysipp nicht eigen war. Auch fanden wir, dass
er trotz der unermesslichen Fruchtbarkeit sich doch bei der
Wahl der Gegenstände innerhalb sehr bestimmter Grenzen be-
wegte. Vor Allem war es die kraftvolle Jünglings- und Män-
nergestalt, welche er darzustellen liebte, und zwar ebensowohl
in ihrem heroischen oder athletischen Charakter, als in por-
taitmässigen Bildungen. Bei den letzteren wollen wir hier noch
einen Augenblick verweilen: denn gerade unter ihnen finden
sich drei von einer besonders ausgesprochenen Eigenthümlich-
keit: die des Alexander, des Sokrates und des Aesop. Es ist
bekannt, dass der Kopf des ersteren in Haltung und Ausdruck
gewisse Unregelmässigkeiten zeigte. Gerade deshalb aber
schätzte dieser Herrscher seine Bildnisse von der Hand des
Lysipp so hoch, weil dieser Künstler allein es verstand, in
ihnen trotz, ja vielleicht vermittelst eines strengen Festhaltens
an diesen fast krankhaften Eigenthümlichkeiten auch das gei-
stige Wesen, das ἦϑος, den Ausdruck des Mannhaften, Löwen-
ähnlichen, der ἀρετὴ, also den lebendigsten Ausdruck der In-
dividualität wiederzugeben. Die Portraits des Sokrates und
des Aesop aber haben das unter einander gemein, dass in
ihnen mit unschönen körperlichen Formen ein hoher Grad gei-
stigen Ausdrucks verbunden erscheint. Zwar wage ich nicht,
die vorzügliche Statue des Aesop in Villa Albani auf Lysipp
zurückzuführen. Aber betrachten wir auch alle sonst bekann-
ten Bilder dieses Fabeldichters ganz im Allgemeinen, so finden

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[379/0392] nannten) Idealstyl der griechischen Kunst.” Aber, was Lysipp that, war doch immer nur ein erster, wenn auch ein bedeuten- der Schritt nach dieser Richtung hin. Er folgte noch nicht „einem Begriffe von der Menschengestalt, der ganz ausser der Erfahrung liegt.” Allerdings aber konnte sein Bestreben, an die Stelle der Wirklichkeit und Wahrheit den Schein dersel- ben zu setzen, zu dem Glauben verleiten, dass die Kunst sich über die Wirklichkeit zu erheben und eine jenseit der Natur liegende Schönheit zu erreichen vermöge. Doch wir haben hier noch nicht zu untersuchen, was das Beispiel des Lysipp auf die nachfolgenden Künstler wirkte, sondern vielmehr, auf welchen Ursachen seine eigene künstle- rische Entwickelung beruhte. Wir müssen dabei zu dem An- fange unserer Untersuchung zurückkehren. Wir suchten dort nachzuweisen, dass eine hohe Genialität im Schaffen idealer Gestalten dem Lysipp nicht eigen war. Auch fanden wir, dass er trotz der unermesslichen Fruchtbarkeit sich doch bei der Wahl der Gegenstände innerhalb sehr bestimmter Grenzen be- wegte. Vor Allem war es die kraftvolle Jünglings- und Män- nergestalt, welche er darzustellen liebte, und zwar ebensowohl in ihrem heroischen oder athletischen Charakter, als in por- taitmässigen Bildungen. Bei den letzteren wollen wir hier noch einen Augenblick verweilen: denn gerade unter ihnen finden sich drei von einer besonders ausgesprochenen Eigenthümlich- keit: die des Alexander, des Sokrates und des Aesop. Es ist bekannt, dass der Kopf des ersteren in Haltung und Ausdruck gewisse Unregelmässigkeiten zeigte. Gerade deshalb aber schätzte dieser Herrscher seine Bildnisse von der Hand des Lysipp so hoch, weil dieser Künstler allein es verstand, in ihnen trotz, ja vielleicht vermittelst eines strengen Festhaltens an diesen fast krankhaften Eigenthümlichkeiten auch das gei- stige Wesen, das ἦϑος, den Ausdruck des Mannhaften, Löwen- ähnlichen, der ἀρετὴ, also den lebendigsten Ausdruck der In- dividualität wiederzugeben. Die Portraits des Sokrates und des Aesop aber haben das unter einander gemein, dass in ihnen mit unschönen körperlichen Formen ein hoher Grad gei- stigen Ausdrucks verbunden erscheint. Zwar wage ich nicht, die vorzügliche Statue des Aesop in Villa Albani auf Lysipp zurückzuführen. Aber betrachten wir auch alle sonst bekann- ten Bilder dieses Fabeldichters ganz im Allgemeinen, so finden

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 379. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/392>, abgerufen am 12.05.2024.