Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853.

Bild:
<< vorherige Seite

Als Eigenschaften der lysippischen Werke würden jetzt
noch die veritas, welche Quintilian 1), und die argutiae ope-
rum, welche Plinius ihm beilegt, näher zu betrachten sein.
Doch werden wir zu einem sicheren Urtheil über dieselben nicht
gelangen können, ohne zuvor uns mit den allgemeinen Ansich-
ten des Künstlers über künstlerische Darstellung näher bekannt
gemacht zu haben. Wir kehren deshalb noch einmal zu jener
längeren Stelle des Plinius zurück, und wenden uns zu dem
Ausspruche, durch welchen Lysipp selbst die tiefere Bedeutung,
den Grund und den Zweck seiner Neuerungen charakterisiren
zu wollen scheint: volgoque dicebat ab illis (antiquis) factos,
quales essent homines, a se, quales viderentur esse. Den Sinn
dieser Worte ausführlich zu erörtern, erweist sich auch darum
als nothwendig, weil ein Gelehrter, wie O. Müller 2), die Be-
hauptung aufgestellt hat: sie beruhten in ihrer jetzigen Fassung
auf einem Missverständnisse, welches zuerst zu beseitigen sei,
wenn sie überhaupt einen Sinn geben sollten. Er glaubt nem-
lich, "dass Plinius hier, wie öfter, das griechische Original,
welches er in der ganzen Stelle ausdrückt, nicht genau wie-
dergiebt. Lysippos sagte etwa: oi men pro emou tekhnitai epoie-
san tous anthropous oioi eisin, ego de oious eoiken [fremdsprachliches Material - Zeichen fehlt]einai, und
Plinius, statt zu übersetzen: quales esse convenit oder par est,
dachte an das gewöhnlichere videtur. Lysippos wollte also
sagen: die Früheren zogen ihre Regeln blos von der Natur
ab, ich folge zugleich einem Begriffe von der Menschengestalt,
der ausser der Erfahrung steht, einem Ideale." Zu bemerken
ist hier zunächst, dass nicht Plinius der Uebersetzer ist, son-
dern Varro, aus welchem Plinius an dieser Stelle schöpfte 3).
Diesen aber werden wir schon weniger, als Plinius, einer
Nachlässigkeit oder eines Irrthums in der Uebersetzung zu be-
schuldigen geneigt sein, zumal wenn es sich zeigt, dass die
Worte, wie sie überliefert sind, einen keineswegs verwerflichen
Sinn geben.

Es sei mir erlaubt, hier nochmals an das zu erinnern,
was schon bei Gelegenheit des Phidias über die besondere
Beobachtung optischer Gesetze in der Architektur bemerkt
wurde: dass nemlich die Theile, welche dem Auge gleich er-

1) XII, 10, 9.
2) Kl. Schr. II, S. 331.
3) vgl. Jahn Ber. d. sächs. Gesellsch.
1850, S. 128 flgd.

Als Eigenschaften der lysippischen Werke würden jetzt
noch die veritas, welche Quintilian 1), und die argutiae ope-
rum, welche Plinius ihm beilegt, näher zu betrachten sein.
Doch werden wir zu einem sicheren Urtheil über dieselben nicht
gelangen können, ohne zuvor uns mit den allgemeinen Ansich-
ten des Künstlers über künstlerische Darstellung näher bekannt
gemacht zu haben. Wir kehren deshalb noch einmal zu jener
längeren Stelle des Plinius zurück, und wenden uns zu dem
Ausspruche, durch welchen Lysipp selbst die tiefere Bedeutung,
den Grund und den Zweck seiner Neuerungen charakterisiren
zu wollen scheint: volgoque dicebat ab illis (antiquis) factos,
quales essent homines, a se, quales viderentur esse. Den Sinn
dieser Worte ausführlich zu erörtern, erweist sich auch darum
als nothwendig, weil ein Gelehrter, wie O. Müller 2), die Be-
hauptung aufgestellt hat: sie beruhten in ihrer jetzigen Fassung
auf einem Missverständnisse, welches zuerst zu beseitigen sei,
wenn sie überhaupt einen Sinn geben sollten. Er glaubt nem-
lich, „dass Plinius hier, wie öfter, das griechische Original,
welches er in der ganzen Stelle ausdrückt, nicht genau wie-
dergiebt. Lysippos sagte etwa: οἱ μὲν πρὸ ἐμοῦ τεχνῖται ἐποίη-
σαν τοὺς ἀνϑρώπους οἷοί εἰσιν, ἐγὼ δὲ οἵους ἔοικεν [fremdsprachliches Material – Zeichen fehlt]εἶναι, und
Plinius, statt zu übersetzen: quales esse convenit oder par est,
dachte an das gewöhnlichere videtur. Lysippos wollte also
sagen: die Früheren zogen ihre Regeln blos von der Natur
ab, ich folge zugleich einem Begriffe von der Menschengestalt,
der ausser der Erfahrung steht, einem Ideale.” Zu bemerken
ist hier zunächst, dass nicht Plinius der Uebersetzer ist, son-
dern Varro, aus welchem Plinius an dieser Stelle schöpfte 3).
Diesen aber werden wir schon weniger, als Plinius, einer
Nachlässigkeit oder eines Irrthums in der Uebersetzung zu be-
schuldigen geneigt sein, zumal wenn es sich zeigt, dass die
Worte, wie sie überliefert sind, einen keineswegs verwerflichen
Sinn geben.

Es sei mir erlaubt, hier nochmals an das zu erinnern,
was schon bei Gelegenheit des Phidias über die besondere
Beobachtung optischer Gesetze in der Architektur bemerkt
wurde: dass nemlich die Theile, welche dem Auge gleich er-

1) XII, 10, 9.
2) Kl. Schr. II, S. 331.
3) vgl. Jahn Ber. d. sächs. Gesellsch.
1850, S. 128 flgd.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0390" n="377"/>
            <p>Als Eigenschaften der lysippischen Werke würden jetzt<lb/>
noch die veritas, welche Quintilian <note place="foot" n="1)">XII, 10, 9.</note>, und die argutiae ope-<lb/>
rum, welche Plinius ihm beilegt, näher zu betrachten sein.<lb/>
Doch werden wir zu einem sicheren Urtheil über dieselben nicht<lb/>
gelangen können, ohne zuvor uns mit den allgemeinen Ansich-<lb/>
ten des Künstlers über künstlerische Darstellung näher bekannt<lb/>
gemacht zu haben. Wir kehren deshalb noch einmal zu jener<lb/>
längeren Stelle des Plinius zurück, und wenden uns zu dem<lb/>
Ausspruche, durch welchen Lysipp selbst die tiefere Bedeutung,<lb/>
den Grund und den Zweck seiner Neuerungen charakterisiren<lb/>
zu wollen scheint: volgoque dicebat ab illis (antiquis) factos,<lb/>
quales essent homines, a se, quales viderentur esse. Den Sinn<lb/>
dieser Worte ausführlich zu erörtern, erweist sich auch darum<lb/>
als nothwendig, weil ein Gelehrter, wie O. Müller <note place="foot" n="2)">Kl. Schr. II, S. 331.</note>, die Be-<lb/>
hauptung aufgestellt hat: sie beruhten in ihrer jetzigen Fassung<lb/>
auf einem Missverständnisse, welches zuerst zu beseitigen sei,<lb/>
wenn sie überhaupt einen Sinn geben sollten. Er glaubt nem-<lb/>
lich, &#x201E;dass Plinius hier, wie öfter, das griechische Original,<lb/>
welches er in der ganzen Stelle ausdrückt, nicht genau wie-<lb/>
dergiebt. Lysippos sagte etwa: &#x03BF;&#x1F31; &#x03BC;&#x1F72;&#x03BD; &#x03C0;&#x03C1;&#x1F78; &#x1F10;&#x03BC;&#x03BF;&#x1FE6; &#x03C4;&#x03B5;&#x03C7;&#x03BD;&#x1FD6;&#x03C4;&#x03B1;&#x03B9; &#x1F10;&#x03C0;&#x03BF;&#x03AF;&#x03B7;-<lb/>
&#x03C3;&#x03B1;&#x03BD; &#x03C4;&#x03BF;&#x1F7A;&#x03C2; &#x1F00;&#x03BD;&#x03D1;&#x03C1;&#x03CE;&#x03C0;&#x03BF;&#x03C5;&#x03C2; &#x03BF;&#x1F37;&#x03BF;&#x03AF; &#x03B5;&#x1F30;&#x03C3;&#x03B9;&#x03BD;, &#x1F10;&#x03B3;&#x1F7C; &#x03B4;&#x1F72; &#x03BF;&#x1F35;&#x03BF;&#x03C5;&#x03C2; &#x1F14;&#x03BF;&#x03B9;&#x03BA;&#x03B5;&#x03BD; <foreign xml:lang="gre"><gap reason="fm" unit="chars"/></foreign>&#x03B5;&#x1F36;&#x03BD;&#x03B1;&#x03B9;, und<lb/>
Plinius, statt zu übersetzen: quales esse convenit oder par est,<lb/>
dachte an das gewöhnlichere videtur. Lysippos wollte also<lb/>
sagen: die Früheren zogen ihre Regeln blos von der Natur<lb/>
ab, ich folge zugleich einem Begriffe von der Menschengestalt,<lb/>
der ausser der Erfahrung steht, einem Ideale.&#x201D; Zu bemerken<lb/>
ist hier zunächst, dass nicht Plinius der Uebersetzer ist, son-<lb/>
dern Varro, aus welchem Plinius an dieser Stelle schöpfte <note place="foot" n="3)">vgl. Jahn Ber. d. sächs. Gesellsch.<lb/>
1850, S. 128 flgd.</note>.<lb/>
Diesen aber werden wir schon weniger, als Plinius, einer<lb/>
Nachlässigkeit oder eines Irrthums in der Uebersetzung zu be-<lb/>
schuldigen geneigt sein, zumal wenn es sich zeigt, dass die<lb/>
Worte, wie sie überliefert sind, einen keineswegs verwerflichen<lb/>
Sinn geben.</p><lb/>
            <p>Es sei mir erlaubt, hier nochmals an das zu erinnern,<lb/>
was schon bei Gelegenheit des Phidias über die besondere<lb/>
Beobachtung optischer Gesetze in der Architektur bemerkt<lb/>
wurde: dass nemlich die Theile, welche dem Auge gleich er-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[377/0390] Als Eigenschaften der lysippischen Werke würden jetzt noch die veritas, welche Quintilian 1), und die argutiae ope- rum, welche Plinius ihm beilegt, näher zu betrachten sein. Doch werden wir zu einem sicheren Urtheil über dieselben nicht gelangen können, ohne zuvor uns mit den allgemeinen Ansich- ten des Künstlers über künstlerische Darstellung näher bekannt gemacht zu haben. Wir kehren deshalb noch einmal zu jener längeren Stelle des Plinius zurück, und wenden uns zu dem Ausspruche, durch welchen Lysipp selbst die tiefere Bedeutung, den Grund und den Zweck seiner Neuerungen charakterisiren zu wollen scheint: volgoque dicebat ab illis (antiquis) factos, quales essent homines, a se, quales viderentur esse. Den Sinn dieser Worte ausführlich zu erörtern, erweist sich auch darum als nothwendig, weil ein Gelehrter, wie O. Müller 2), die Be- hauptung aufgestellt hat: sie beruhten in ihrer jetzigen Fassung auf einem Missverständnisse, welches zuerst zu beseitigen sei, wenn sie überhaupt einen Sinn geben sollten. Er glaubt nem- lich, „dass Plinius hier, wie öfter, das griechische Original, welches er in der ganzen Stelle ausdrückt, nicht genau wie- dergiebt. Lysippos sagte etwa: οἱ μὲν πρὸ ἐμοῦ τεχνῖται ἐποίη- σαν τοὺς ἀνϑρώπους οἷοί εἰσιν, ἐγὼ δὲ οἵους ἔοικεν _ εἶναι, und Plinius, statt zu übersetzen: quales esse convenit oder par est, dachte an das gewöhnlichere videtur. Lysippos wollte also sagen: die Früheren zogen ihre Regeln blos von der Natur ab, ich folge zugleich einem Begriffe von der Menschengestalt, der ausser der Erfahrung steht, einem Ideale.” Zu bemerken ist hier zunächst, dass nicht Plinius der Uebersetzer ist, son- dern Varro, aus welchem Plinius an dieser Stelle schöpfte 3). Diesen aber werden wir schon weniger, als Plinius, einer Nachlässigkeit oder eines Irrthums in der Uebersetzung zu be- schuldigen geneigt sein, zumal wenn es sich zeigt, dass die Worte, wie sie überliefert sind, einen keineswegs verwerflichen Sinn geben. Es sei mir erlaubt, hier nochmals an das zu erinnern, was schon bei Gelegenheit des Phidias über die besondere Beobachtung optischer Gesetze in der Architektur bemerkt wurde: dass nemlich die Theile, welche dem Auge gleich er- 1) XII, 10, 9. 2) Kl. Schr. II, S. 331. 3) vgl. Jahn Ber. d. sächs. Gesellsch. 1850, S. 128 flgd.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/390
Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 377. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/390>, abgerufen am 22.11.2024.