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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853.

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dermassen in Anspruch genommen, dass auf ihm das ganze
Gewicht des Körpers zu ruhen schiene. Der Schenkel ist nicht
einwärts gewendet, um den Körper gerade in seinem Schwer-
punkte zu unterstützen, sondern er steht fast senkrecht; und
es war nöthig, die Spitze des anderen Fusses ziemlich weit
auswärts zu stellen, damit sie gegen das nach dieser Seite
fallende Gewicht leicht einen Gegendruck zu äussern im Stande
sei. Dadurch aber erscheint die ganze Stellung nicht als eine
auf längere Ruhe berechnete, sondern nur als das zufällige
Ergebniss des einen Augenblickes, welches im nächstfolgenden
bereits einer Veränderung unterworfen sein kann. An der
Stelle der Ruhe finden wir also Beweglichkeit, welche den
Eindruck der Leichtigkeit erzeugt. Wo aber Lysipp vollkom-
mene Ruhe darzustellen beabsichtigte, da liess er eben den
Körper nicht in sich selbst ruhen, sondern schlug den von
Praxiteles betretenen Weg ein, indem er die Füsse dadurch
entlastete, dass er den Arm oder die Achsel zum Stützen des
Oberkörpers in Anspruch nahm. Den Beleg liefert der pitti-
sche, sowie der mit ihm vollkommen übereinstimmende farne-
sische Herakles des Glykon. Mit der Anmuth praxitelischer
Gestalten lässt sich die Haltung dieser Figuren allerdings nicht
vergleichen. Betrachten wir sie indessen denjenigen gegen-
über, welche der Ruhe doch nur in soweit geniessen, als die-
selbe durch die möglichste Schonung der eigenen Kraft ohne
Unterstützung von aussen erreicht werden kann, so lässt sich
nicht verkennen, dass in ihnen auch jeder Schein einer An-
strengung noch weit sorgfältiger vermieden ist. Denn die bei
der Bewegung betheiligten Kräfte erscheinen nicht nur für
den Augenblick ausser Thätigkeit gesetzt, sondern in derjeni-
gen Abspannung, welche ihnen sowohl von der vorhergehen-
den Anstrengung die vollste Erholung vergönnt, als für jede
nachfolgende sich zu ergänzen und zu erneuen Gelegenheit
bietet.

Mehr noch, als in den Stellungen, zeigt sich aber bei Ly-
sipp ein Abgehen von den Regeln des Polyklet in den Pro-
portionen. Wir erhalten darüber ausführliche Belehrung durch
Plinius 1): "Zu der weiteren Ausbildung der Kunst soll Lysipp
sehr bedeutend beigetragen haben, indem er den Charakter

1) 34, 65.

dermassen in Anspruch genommen, dass auf ihm das ganze
Gewicht des Körpers zu ruhen schiene. Der Schenkel ist nicht
einwärts gewendet, um den Körper gerade in seinem Schwer-
punkte zu unterstützen, sondern er steht fast senkrecht; und
es war nöthig, die Spitze des anderen Fusses ziemlich weit
auswärts zu stellen, damit sie gegen das nach dieser Seite
fallende Gewicht leicht einen Gegendruck zu äussern im Stande
sei. Dadurch aber erscheint die ganze Stellung nicht als eine
auf längere Ruhe berechnete, sondern nur als das zufällige
Ergebniss des einen Augenblickes, welches im nächstfolgenden
bereits einer Veränderung unterworfen sein kann. An der
Stelle der Ruhe finden wir also Beweglichkeit, welche den
Eindruck der Leichtigkeit erzeugt. Wo aber Lysipp vollkom-
mene Ruhe darzustellen beabsichtigte, da liess er eben den
Körper nicht in sich selbst ruhen, sondern schlug den von
Praxiteles betretenen Weg ein, indem er die Füsse dadurch
entlastete, dass er den Arm oder die Achsel zum Stützen des
Oberkörpers in Anspruch nahm. Den Beleg liefert der pitti-
sche, sowie der mit ihm vollkommen übereinstimmende farne-
sische Herakles des Glykon. Mit der Anmuth praxitelischer
Gestalten lässt sich die Haltung dieser Figuren allerdings nicht
vergleichen. Betrachten wir sie indessen denjenigen gegen-
über, welche der Ruhe doch nur in soweit geniessen, als die-
selbe durch die möglichste Schonung der eigenen Kraft ohne
Unterstützung von aussen erreicht werden kann, so lässt sich
nicht verkennen, dass in ihnen auch jeder Schein einer An-
strengung noch weit sorgfältiger vermieden ist. Denn die bei
der Bewegung betheiligten Kräfte erscheinen nicht nur für
den Augenblick ausser Thätigkeit gesetzt, sondern in derjeni-
gen Abspannung, welche ihnen sowohl von der vorhergehen-
den Anstrengung die vollste Erholung vergönnt, als für jede
nachfolgende sich zu ergänzen und zu erneuen Gelegenheit
bietet.

Mehr noch, als in den Stellungen, zeigt sich aber bei Ly-
sipp ein Abgehen von den Regeln des Polyklet in den Pro-
portionen. Wir erhalten darüber ausführliche Belehrung durch
Plinius 1): „Zu der weiteren Ausbildung der Kunst soll Lysipp
sehr bedeutend beigetragen haben, indem er den Charakter

1) 34, 65.
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[373/0386] dermassen in Anspruch genommen, dass auf ihm das ganze Gewicht des Körpers zu ruhen schiene. Der Schenkel ist nicht einwärts gewendet, um den Körper gerade in seinem Schwer- punkte zu unterstützen, sondern er steht fast senkrecht; und es war nöthig, die Spitze des anderen Fusses ziemlich weit auswärts zu stellen, damit sie gegen das nach dieser Seite fallende Gewicht leicht einen Gegendruck zu äussern im Stande sei. Dadurch aber erscheint die ganze Stellung nicht als eine auf längere Ruhe berechnete, sondern nur als das zufällige Ergebniss des einen Augenblickes, welches im nächstfolgenden bereits einer Veränderung unterworfen sein kann. An der Stelle der Ruhe finden wir also Beweglichkeit, welche den Eindruck der Leichtigkeit erzeugt. Wo aber Lysipp vollkom- mene Ruhe darzustellen beabsichtigte, da liess er eben den Körper nicht in sich selbst ruhen, sondern schlug den von Praxiteles betretenen Weg ein, indem er die Füsse dadurch entlastete, dass er den Arm oder die Achsel zum Stützen des Oberkörpers in Anspruch nahm. Den Beleg liefert der pitti- sche, sowie der mit ihm vollkommen übereinstimmende farne- sische Herakles des Glykon. Mit der Anmuth praxitelischer Gestalten lässt sich die Haltung dieser Figuren allerdings nicht vergleichen. Betrachten wir sie indessen denjenigen gegen- über, welche der Ruhe doch nur in soweit geniessen, als die- selbe durch die möglichste Schonung der eigenen Kraft ohne Unterstützung von aussen erreicht werden kann, so lässt sich nicht verkennen, dass in ihnen auch jeder Schein einer An- strengung noch weit sorgfältiger vermieden ist. Denn die bei der Bewegung betheiligten Kräfte erscheinen nicht nur für den Augenblick ausser Thätigkeit gesetzt, sondern in derjeni- gen Abspannung, welche ihnen sowohl von der vorhergehen- den Anstrengung die vollste Erholung vergönnt, als für jede nachfolgende sich zu ergänzen und zu erneuen Gelegenheit bietet. Mehr noch, als in den Stellungen, zeigt sich aber bei Ly- sipp ein Abgehen von den Regeln des Polyklet in den Pro- portionen. Wir erhalten darüber ausführliche Belehrung durch Plinius 1): „Zu der weiteren Ausbildung der Kunst soll Lysipp sehr bedeutend beigetragen haben, indem er den Charakter 1) 34, 65.

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 373. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/386>, abgerufen am 22.11.2024.