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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853.

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Da ist es nun nicht die geistige Hoheit, die geistige Bedeutung,
welche den Beschauer zur Bewunderung hinreisst; vielmehr er-
streckt sich diese auf die Lieblichkeit des Ausdrucks, das feine,
reizende Lächeln des Mundes, den Glanz und die Freundlich-
keit des Auges. Jenes ugron aber, jenes Schwimmen des
Auges in Feuchtigkeit, welches den Blick nicht scharf und
fest auf einem Punkte ruhen lässt, bewirkt recht eigentlich
den Ausdruck sinnlichen Verlangens. Dieses selbst mag bei
der Göttin noch als etwas fast Unbewusstes erschienen sein,
als das innere, in der Natur begründete Bedürfniss des Weibes
nach Liebe, ähnlich, wie auch in den Eroten das erwachende Lie-
besverlangen von Callistratus geschildert wird 1). Doch nicht
überall hielt der Künstler diese Grenze ein, welche religiöses
Gefühl ihn hier noch bewahren liess. In dem Bilde der lächeln-
den Buhlerin, welche einer weinenden Matrone gegenüberstand,
muss nicht nur dieses allgemeine Liebesverlangen, sondern ein
Verlangen nach sinnlichem Liebesgenuss in sehr scharf er-
kennbaren Zügen ausgeprägt gewesen sein. Wie aber hier
die Liebe, so war bei den Gestalten aus dem Kreise des Diony-
sos froher, heiterer Genuss des Lebens dasjenige, was den
Grundzug des ganzen Charakters ausmachte. Beim Gotte
selbst mangelt der Ausdruck der geistigen Kraft und Energie,
das Auge deutet schon in der äusseren Form auf eine gewisse
Schlaffheit und Ermattung, welche schwärmerischer Aufregung
zu folgen pflegt und deren Wiederkehr voraussehen lässt.
Bei dem Geschlecht der Satyrn mischt sich damit der Ausdruck
einer neckischen, schalkhaften Sinnlichkeit, und jenes derbe,
fast thierische Verlangen, welches diesen Geschöpfen in älte-
ren Bildungen eigen ist, erscheint bei Praxiteles bis zur Lieb-
lichkeit und Anmuth verfeinert. Von einer lebhaft hervor-
brechenden Leidenschaft, wie in der Maenade des Skopas, finden
wir hier keine Spur. Zwar heisst es in dem Epigramme auf
die Silene, dass des Praxiteles Kunst den Stein bacchische
Lustigkeit (bruazein) gelehrt habe; dass die Silene wirklich
tanzen und schwärmen (komazein) möchten, wenn sie nicht
von Stein wären. Aber gerade bei diesen älteren Daemonen

1) egaurouto de eis gelota, empuron ti kai meilikhon ex ommaton diau-
gazon: St. 4. Omma de imerodes, aidoi summiges, aphrodisiou erotikou gemon
kharitos: St. 12.
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Da ist es nun nicht die geistige Hoheit, die geistige Bedeutung,
welche den Beschauer zur Bewunderung hinreisst; vielmehr er-
streckt sich diese auf die Lieblichkeit des Ausdrucks, das feine,
reizende Lächeln des Mundes, den Glanz und die Freundlich-
keit des Auges. Jenes ὑγρὸν aber, jenes Schwimmen des
Auges in Feuchtigkeit, welches den Blick nicht scharf und
fest auf einem Punkte ruhen lässt, bewirkt recht eigentlich
den Ausdruck sinnlichen Verlangens. Dieses selbst mag bei
der Göttin noch als etwas fast Unbewusstes erschienen sein,
als das innere, in der Natur begründete Bedürfniss des Weibes
nach Liebe, ähnlich, wie auch in den Eroten das erwachende Lie-
besverlangen von Callistratus geschildert wird 1). Doch nicht
überall hielt der Künstler diese Grenze ein, welche religiöses
Gefühl ihn hier noch bewahren liess. In dem Bilde der lächeln-
den Buhlerin, welche einer weinenden Matrone gegenüberstand,
muss nicht nur dieses allgemeine Liebesverlangen, sondern ein
Verlangen nach sinnlichem Liebesgenuss in sehr scharf er-
kennbaren Zügen ausgeprägt gewesen sein. Wie aber hier
die Liebe, so war bei den Gestalten aus dem Kreise des Diony-
sos froher, heiterer Genuss des Lebens dasjenige, was den
Grundzug des ganzen Charakters ausmachte. Beim Gotte
selbst mangelt der Ausdruck der geistigen Kraft und Energie,
das Auge deutet schon in der äusseren Form auf eine gewisse
Schlaffheit und Ermattung, welche schwärmerischer Aufregung
zu folgen pflegt und deren Wiederkehr voraussehen lässt.
Bei dem Geschlecht der Satyrn mischt sich damit der Ausdruck
einer neckischen, schalkhaften Sinnlichkeit, und jenes derbe,
fast thierische Verlangen, welches diesen Geschöpfen in älte-
ren Bildungen eigen ist, erscheint bei Praxiteles bis zur Lieb-
lichkeit und Anmuth verfeinert. Von einer lebhaft hervor-
brechenden Leidenschaft, wie in der Maenade des Skopas, finden
wir hier keine Spur. Zwar heisst es in dem Epigramme auf
die Silene, dass des Praxiteles Kunst den Stein bacchische
Lustigkeit (βρυάζειν) gelehrt habe; dass die Silene wirklich
tanzen und schwärmen (κωμάζειν) möchten, wenn sie nicht
von Stein wären. Aber gerade bei diesen älteren Daemonen

1) ἐγαυροῦτο δὲ εἰς γέλωτα, ἔμπυρόν τι καὶ μείλιχον ἐξ ὀμμάτων διαυ-
γάζων: St. 4. Ὄμμα δὲ ἱμερῶδες, αἰδοῖ συμμιγὲς, ἀφροδισίου ἐρωτικοῦ γέμον
χάριτος: St. 12.
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[355/0368] Da ist es nun nicht die geistige Hoheit, die geistige Bedeutung, welche den Beschauer zur Bewunderung hinreisst; vielmehr er- streckt sich diese auf die Lieblichkeit des Ausdrucks, das feine, reizende Lächeln des Mundes, den Glanz und die Freundlich- keit des Auges. Jenes ὑγρὸν aber, jenes Schwimmen des Auges in Feuchtigkeit, welches den Blick nicht scharf und fest auf einem Punkte ruhen lässt, bewirkt recht eigentlich den Ausdruck sinnlichen Verlangens. Dieses selbst mag bei der Göttin noch als etwas fast Unbewusstes erschienen sein, als das innere, in der Natur begründete Bedürfniss des Weibes nach Liebe, ähnlich, wie auch in den Eroten das erwachende Lie- besverlangen von Callistratus geschildert wird 1). Doch nicht überall hielt der Künstler diese Grenze ein, welche religiöses Gefühl ihn hier noch bewahren liess. In dem Bilde der lächeln- den Buhlerin, welche einer weinenden Matrone gegenüberstand, muss nicht nur dieses allgemeine Liebesverlangen, sondern ein Verlangen nach sinnlichem Liebesgenuss in sehr scharf er- kennbaren Zügen ausgeprägt gewesen sein. Wie aber hier die Liebe, so war bei den Gestalten aus dem Kreise des Diony- sos froher, heiterer Genuss des Lebens dasjenige, was den Grundzug des ganzen Charakters ausmachte. Beim Gotte selbst mangelt der Ausdruck der geistigen Kraft und Energie, das Auge deutet schon in der äusseren Form auf eine gewisse Schlaffheit und Ermattung, welche schwärmerischer Aufregung zu folgen pflegt und deren Wiederkehr voraussehen lässt. Bei dem Geschlecht der Satyrn mischt sich damit der Ausdruck einer neckischen, schalkhaften Sinnlichkeit, und jenes derbe, fast thierische Verlangen, welches diesen Geschöpfen in älte- ren Bildungen eigen ist, erscheint bei Praxiteles bis zur Lieb- lichkeit und Anmuth verfeinert. Von einer lebhaft hervor- brechenden Leidenschaft, wie in der Maenade des Skopas, finden wir hier keine Spur. Zwar heisst es in dem Epigramme auf die Silene, dass des Praxiteles Kunst den Stein bacchische Lustigkeit (βρυάζειν) gelehrt habe; dass die Silene wirklich tanzen und schwärmen (κωμάζειν) möchten, wenn sie nicht von Stein wären. Aber gerade bei diesen älteren Daemonen 1) ἐγαυροῦτο δὲ εἰς γέλωτα, ἔμπυρόν τι καὶ μείλιχον ἐξ ὀμμάτων διαυ- γάζων: St. 4. Ὄμμα δὲ ἱμερῶδες, αἰδοῖ συμμιγὲς, ἀφροδισίου ἐρωτικοῦ γέμον χάριτος: St. 12. 23*

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 355. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/368>, abgerufen am 22.11.2024.