dungen es augenscheinlich machen, durch ihre Auffassung Theil an dem idealen Grundcharakter der attischen Kunst.
Blicken wir noch einmal auf die Schule des Myron zurück, so begränzt sich uns das Verdienst derselben in hinlänglich bestimmter Weise. Zum Gegenstande ihrer Darstellungen wählt sie nicht die erhabensten geistigen Ideen, wie sie in den grie- chischen Göttern verkörpert erscheinen, sondern das mensch- liche Leben in seiner lebendigsten Entfaltung. Aber auch in- nerhalb dieser Aufgabe beschränkt sie sich wieder, und sucht nicht das Individuelle, sondern das Allgemeine im Ausdrucke des Lebens auf: nicht den Ausdruck, wie er sich in einem einzelnen Falle entwickelt hat, sondern wie er sich unter ge- gebenen Voraussetzungen stets in derselben Weise entwickeln muss. Die klare Erkenntniss dieses Punktes aber ist für das Verständniss der in der nächsten Periode erfolgenden Entwicke- lung von höchster Wichtigkeit. Denn auf dieser Seite suchte man, wie bemerkt, das Individuelle immer mehr zum Allge- meinen, ich möchte sagen, abzuklären; auf der andern dagegen musste man, nachdem die höchsten und allgemeinsten Begriffe in den Idealen eines Phidias und Anderer erschöpft waren, das Bedürfniss einer grösseren Individualisirung in den Götterbil- dungen empfinden; und erst so konnte durch das Begegnen dieser zwei entgegengesetzten Bestrebungen eine neue Rich- tung entstehen, welche denjenigen Raum mit neuen Wesen bevölkert, welchen auch die Mythologie zwischen Göttern und Menschen in der Mitte gelassen hatte. Die niederen Götter und Daemonen, welche die Begleitung der höheren bilden, und dem inneren Wesen derselben verwandt, aber in der Regel nur bestimmt sind, dasselbe in einzelnen Richtungen schärfer zum Ausdruck zu bringen, erscheinen jetzt auch auf dem Felde der bildenden Kunst in selbstständiger Gestaltung; und ähnlich verhält es sich mit der Darstellung einzelner Heroen. Die Anfänge dieser weiteren Entwickelung beginnen bereits gegen das Ende dieser Periode bemerkbar zu werden, wie ein Blick auf die Werke des Kephisodot, Xenophon und Deinomenes lehren kann. Was ausserdem noch mitgewirkt hat, die attische Kunst zu dieser Zeit uns in einer wesentlich veränderten Stel- lung zu zeigen, wird weiter unten in Betracht gezogen werden.
Argos. Es wird vielleicht aufgefallen sein, dass bei der Betrachtung der einzelnen Künstler aus der Schule von Argos
Brunn, Geschichte der griech. Künstler. 20
dungen es augenscheinlich machen, durch ihre Auffassung Theil an dem idealen Grundcharakter der attischen Kunst.
Blicken wir noch einmal auf die Schule des Myron zurück, so begränzt sich uns das Verdienst derselben in hinlänglich bestimmter Weise. Zum Gegenstande ihrer Darstellungen wählt sie nicht die erhabensten geistigen Ideen, wie sie in den grie- chischen Göttern verkörpert erscheinen, sondern das mensch- liche Leben in seiner lebendigsten Entfaltung. Aber auch in- nerhalb dieser Aufgabe beschränkt sie sich wieder, und sucht nicht das Individuelle, sondern das Allgemeine im Ausdrucke des Lebens auf: nicht den Ausdruck, wie er sich in einem einzelnen Falle entwickelt hat, sondern wie er sich unter ge- gebenen Voraussetzungen stets in derselben Weise entwickeln muss. Die klare Erkenntniss dieses Punktes aber ist für das Verständniss der in der nächsten Periode erfolgenden Entwicke- lung von höchster Wichtigkeit. Denn auf dieser Seite suchte man, wie bemerkt, das Individuelle immer mehr zum Allge- meinen, ich möchte sagen, abzuklären; auf der andern dagegen musste man, nachdem die höchsten und allgemeinsten Begriffe in den Idealen eines Phidias und Anderer erschöpft waren, das Bedürfniss einer grösseren Individualisirung in den Götterbil- dungen empfinden; und erst so konnte durch das Begegnen dieser zwei entgegengesetzten Bestrebungen eine neue Rich- tung entstehen, welche denjenigen Raum mit neuen Wesen bevölkert, welchen auch die Mythologie zwischen Göttern und Menschen in der Mitte gelassen hatte. Die niederen Götter und Daemonen, welche die Begleitung der höheren bilden, und dem inneren Wesen derselben verwandt, aber in der Regel nur bestimmt sind, dasselbe in einzelnen Richtungen schärfer zum Ausdruck zu bringen, erscheinen jetzt auch auf dem Felde der bildenden Kunst in selbstständiger Gestaltung; und ähnlich verhält es sich mit der Darstellung einzelner Heroen. Die Anfänge dieser weiteren Entwickelung beginnen bereits gegen das Ende dieser Periode bemerkbar zu werden, wie ein Blick auf die Werke des Kephisodot, Xenophon und Deinomenes lehren kann. Was ausserdem noch mitgewirkt hat, die attische Kunst zu dieser Zeit uns in einer wesentlich veränderten Stel- lung zu zeigen, wird weiter unten in Betracht gezogen werden.
Argos. Es wird vielleicht aufgefallen sein, dass bei der Betrachtung der einzelnen Künstler aus der Schule von Argos
Brunn, Geschichte der griech. Künstler. 20
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dungen es augenscheinlich machen, durch ihre Auffassung
Theil an dem idealen Grundcharakter der attischen Kunst.
Blicken wir noch einmal auf die Schule des Myron zurück,
so begränzt sich uns das Verdienst derselben in hinlänglich
bestimmter Weise. Zum Gegenstande ihrer Darstellungen wählt
sie nicht die erhabensten geistigen Ideen, wie sie in den grie-
chischen Göttern verkörpert erscheinen, sondern das mensch-
liche Leben in seiner lebendigsten Entfaltung. Aber auch in-
nerhalb dieser Aufgabe beschränkt sie sich wieder, und sucht
nicht das Individuelle, sondern das Allgemeine im Ausdrucke
des Lebens auf: nicht den Ausdruck, wie er sich in einem
einzelnen Falle entwickelt hat, sondern wie er sich unter ge-
gebenen Voraussetzungen stets in derselben Weise entwickeln
muss. Die klare Erkenntniss dieses Punktes aber ist für das
Verständniss der in der nächsten Periode erfolgenden Entwicke-
lung von höchster Wichtigkeit. Denn auf dieser Seite suchte
man, wie bemerkt, das Individuelle immer mehr zum Allge-
meinen, ich möchte sagen, abzuklären; auf der andern dagegen
musste man, nachdem die höchsten und allgemeinsten Begriffe
in den Idealen eines Phidias und Anderer erschöpft waren, das
Bedürfniss einer grösseren Individualisirung in den Götterbil-
dungen empfinden; und erst so konnte durch das Begegnen
dieser zwei entgegengesetzten Bestrebungen eine neue Rich-
tung entstehen, welche denjenigen Raum mit neuen Wesen
bevölkert, welchen auch die Mythologie zwischen Göttern und
Menschen in der Mitte gelassen hatte. Die niederen Götter
und Daemonen, welche die Begleitung der höheren bilden, und
dem inneren Wesen derselben verwandt, aber in der Regel nur
bestimmt sind, dasselbe in einzelnen Richtungen schärfer zum
Ausdruck zu bringen, erscheinen jetzt auch auf dem Felde der
bildenden Kunst in selbstständiger Gestaltung; und ähnlich
verhält es sich mit der Darstellung einzelner Heroen. Die
Anfänge dieser weiteren Entwickelung beginnen bereits gegen
das Ende dieser Periode bemerkbar zu werden, wie ein Blick
auf die Werke des Kephisodot, Xenophon und Deinomenes
lehren kann. Was ausserdem noch mitgewirkt hat, die attische
Kunst zu dieser Zeit uns in einer wesentlich veränderten Stel-
lung zu zeigen, wird weiter unten in Betracht gezogen werden.
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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 305. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/318>, abgerufen am 22.11.2024.
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