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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853.

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voran stehen mag: "Sorgsamkeit und würdevoller Anstand
finden sich bei Polyklet mehr, als bei allen Andern; aber, wenn
ihm auch von einem grossen Theile die Palme zuerkannt wird,
so meint man doch, um allen Theilen gerecht zu werden, dass
ihm das Gewicht fehle. Denn wie er die menschliche Gestalt
mit würdevollem Anstande über die Wahrheit hinaus ausge-
stattet hat, so scheint er doch die Hoheit der Götter nicht in
vollem Maasse erreicht zu haben. Ja er soll sogar das reifere
Alter vermieden und nichts über glatte Wangen hinaus gewagt
haben." Erwähnt wurde bereits, dass Polyklet in der Mannig-
faltigkeit der Darstellung dem Myron nachstand. Dem Quinti-
lian müssen wir freilich einen andern Zeugen gegenüberstel-
len, der beim ersten Blicke das gerade Gegentheil auszusagen
scheint, den Dionys von Halikarnass 1). Derselbe vergleicht
nemlich die Beredtsamkeit des Isokrates mit der Kunst des
Polyklet und Phidias hinsichtlich des Ehrbaren, Grossartigen
und Würdevollen (kata to semnon kai megalotekhnon kai axio-
matikon), während er den Lysias wegen der Zierlichkeit und
Anmuth (tes leptotetos eneka kai tes kharitos) mit Kalamis
und Kallimachos zusammenstellt. Diese seien glücklicher in
weniger erhabenen, mehr menschlichen Vorwürfen (en tois
elattosi kai anthropikois ergois), jene geschickter in den hö-
heren und göttlicheren (en tois meizosi kai theioterois).

Betrachten wir diese beiden sich scheinbar widersprechen-
den Zeugnisse ohne Vorurtheil, so wird uns das des Quintilian
als mehr in Einzelnheiten eingehend und in sich abgerundet,
eine grössere Gewähr seiner Wahrheit bieten müssen, als das
des Dionys, welcher mehr im Allgemeinen die Richtung der
Kunst eines Phidias und Polyklet mit wenigen Worten be-
zeichnen will, während Quintilian gerade noch auf das Unter-
scheidende zwischen diesen beiden Künstlern aufmerksam
macht. Denn er fügt hinzu, dass Phidias besitze, was an
Polyklet vermisst werde, nur mit dem Unterschiede, dass Phi-
dias für einen bedeutenderen Künstler in der Bildung der Göt-
ter, als der Menschen, gehalten werde. Ferner aber dürfen
wir das Urtheil des Dionys nicht, wie es meist geschehen ist,
ganz absolut für sich und ausser dem Zusammenhange be-
trachten, sondern wir müssen den Gegensatz hervorheben, in

1) De Isocr. p. 95 Sylb.
Brunn, Geschichte der griech. Künstler. 15

voran stehen mag: „Sorgsamkeit und würdevoller Anstand
finden sich bei Polyklet mehr, als bei allen Andern; aber, wenn
ihm auch von einem grossen Theile die Palme zuerkannt wird,
so meint man doch, um allen Theilen gerecht zu werden, dass
ihm das Gewicht fehle. Denn wie er die menschliche Gestalt
mit würdevollem Anstande über die Wahrheit hinaus ausge-
stattet hat, so scheint er doch die Hoheit der Götter nicht in
vollem Maasse erreicht zu haben. Ja er soll sogar das reifere
Alter vermieden und nichts über glatte Wangen hinaus gewagt
haben.” Erwähnt wurde bereits, dass Polyklet in der Mannig-
faltigkeit der Darstellung dem Myron nachstand. Dem Quinti-
lian müssen wir freilich einen andern Zeugen gegenüberstel-
len, der beim ersten Blicke das gerade Gegentheil auszusagen
scheint, den Dionys von Halikarnass 1). Derselbe vergleicht
nemlich die Beredtsamkeit des Isokrates mit der Kunst des
Polyklet und Phidias hinsichtlich des Ehrbaren, Grossartigen
und Würdevollen (κατὰ τὸ σεμνὸν καὶ μεγαλότεχνον καὶ ἀξιω-
ματικόν), während er den Lysias wegen der Zierlichkeit und
Anmuth (τῆς λεπτότητος ἕνεκα καὶ τῆς χάριτος) mit Kalamis
und Kallimachos zusammenstellt. Diese seien glücklicher in
weniger erhabenen, mehr menschlichen Vorwürfen (ἐν τοῖς
ἐλάττοσι καὶ ἀνϑρωπικοῖς ἔργοις), jene geschickter in den hö-
heren und göttlicheren (ἐν τοῖς μείζοσι καὶ ϑειοτέροις).

Betrachten wir diese beiden sich scheinbar widersprechen-
den Zeugnisse ohne Vorurtheil, so wird uns das des Quintilian
als mehr in Einzelnheiten eingehend und in sich abgerundet,
eine grössere Gewähr seiner Wahrheit bieten müssen, als das
des Dionys, welcher mehr im Allgemeinen die Richtung der
Kunst eines Phidias und Polyklet mit wenigen Worten be-
zeichnen will, während Quintilian gerade noch auf das Unter-
scheidende zwischen diesen beiden Künstlern aufmerksam
macht. Denn er fügt hinzu, dass Phidias besitze, was an
Polyklet vermisst werde, nur mit dem Unterschiede, dass Phi-
dias für einen bedeutenderen Künstler in der Bildung der Göt-
ter, als der Menschen, gehalten werde. Ferner aber dürfen
wir das Urtheil des Dionys nicht, wie es meist geschehen ist,
ganz absolut für sich und ausser dem Zusammenhange be-
trachten, sondern wir müssen den Gegensatz hervorheben, in

1) De Isocr. p. 95 Sylb.
Brunn, Geschichte der griech. Künstler. 15
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[225/0238] voran stehen mag: „Sorgsamkeit und würdevoller Anstand finden sich bei Polyklet mehr, als bei allen Andern; aber, wenn ihm auch von einem grossen Theile die Palme zuerkannt wird, so meint man doch, um allen Theilen gerecht zu werden, dass ihm das Gewicht fehle. Denn wie er die menschliche Gestalt mit würdevollem Anstande über die Wahrheit hinaus ausge- stattet hat, so scheint er doch die Hoheit der Götter nicht in vollem Maasse erreicht zu haben. Ja er soll sogar das reifere Alter vermieden und nichts über glatte Wangen hinaus gewagt haben.” Erwähnt wurde bereits, dass Polyklet in der Mannig- faltigkeit der Darstellung dem Myron nachstand. Dem Quinti- lian müssen wir freilich einen andern Zeugen gegenüberstel- len, der beim ersten Blicke das gerade Gegentheil auszusagen scheint, den Dionys von Halikarnass 1). Derselbe vergleicht nemlich die Beredtsamkeit des Isokrates mit der Kunst des Polyklet und Phidias hinsichtlich des Ehrbaren, Grossartigen und Würdevollen (κατὰ τὸ σεμνὸν καὶ μεγαλότεχνον καὶ ἀξιω- ματικόν), während er den Lysias wegen der Zierlichkeit und Anmuth (τῆς λεπτότητος ἕνεκα καὶ τῆς χάριτος) mit Kalamis und Kallimachos zusammenstellt. Diese seien glücklicher in weniger erhabenen, mehr menschlichen Vorwürfen (ἐν τοῖς ἐλάττοσι καὶ ἀνϑρωπικοῖς ἔργοις), jene geschickter in den hö- heren und göttlicheren (ἐν τοῖς μείζοσι καὶ ϑειοτέροις). Betrachten wir diese beiden sich scheinbar widersprechen- den Zeugnisse ohne Vorurtheil, so wird uns das des Quintilian als mehr in Einzelnheiten eingehend und in sich abgerundet, eine grössere Gewähr seiner Wahrheit bieten müssen, als das des Dionys, welcher mehr im Allgemeinen die Richtung der Kunst eines Phidias und Polyklet mit wenigen Worten be- zeichnen will, während Quintilian gerade noch auf das Unter- scheidende zwischen diesen beiden Künstlern aufmerksam macht. Denn er fügt hinzu, dass Phidias besitze, was an Polyklet vermisst werde, nur mit dem Unterschiede, dass Phi- dias für einen bedeutenderen Künstler in der Bildung der Göt- ter, als der Menschen, gehalten werde. Ferner aber dürfen wir das Urtheil des Dionys nicht, wie es meist geschehen ist, ganz absolut für sich und ausser dem Zusammenhange be- trachten, sondern wir müssen den Gegensatz hervorheben, in 1) De Isocr. p. 95 Sylb. Brunn, Geschichte der griech. Künstler. 15

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/238>, abgerufen am 22.11.2024.