Da Plinius sagt, die Art dieser Stellung sei eine Neuerung des Polyklet, so hat auch hier Thiersch geglaubt, an einen älteren Künstler dieses Namens denken zu müssen, indem diese Neuerung älter als die Zeit des Phidias sei. Das Bei- spiel indessen, welches er zum Beweise der letzten Behaup- tung beibringt, die sogenannte Barberinische Muse, der Apollo Citharoedus in München, ist übel gewählt. Denn dieses Werk gehört gewiss vielmehr der Epoche der griechischen Kunst in Rom, als der Zeit des Ageladas an. Dass übrigens von Bild- säulen in ruhiger Stellung, nicht von bewegten Gestalten die Rede sei, behauptet Thiersch selbst. Bei diesen aber bietet das excogitasse, selbst auf einen Zeitgenossen des Phidias an- gewendet, noch einen völlig richtigen Sinn dar, wenn wir nur uno crure insistere in strenger Bedeutung auffassen. Die Sitte der ältesten Kunst war es, die Last des Körpers auf beide Füsse gleichmässig zu vertheilen. Von diesem Punkte an giebt es mehrfache Uebergangsstufen, je nachdem der eine Fuss mehr oder minder in Anspruch genommen wird. Je weniger es der Fall ist, desto leichter wird die Haltung der Figur er- scheinen: denn je weniger von den zum Tragen bestimmten Kräften in Anspruch genommen werden, desto mehr bleiben zur Verfügung, um jeder Störung des Gleichgewichts abzu- helfen, desto grösser also erscheint die Sicherheit der Stellung. Polyklet's Verdienst ist es, durch Ueberlegung herausgefunden zu haben, wie man mit möglichst geringem Kraftaufwand der menschlichen Figur einen festen Stand zu geben vermöge, nem- lich indem die volle Hälfte der Tragkraft, der eine Fuss, so gut wie ganz ausser Mitwirkung gesetzt wird. Bis zu diesem Punkte brauchte nicht einmal ein Phidias gegangen zu sein, und ist er auch aller Wahrscheinlichkeit nach nicht gegangen, da bei der Würde seiner Göttergestalten ein geringeres Maass von Leichtigkeit der Haltung sogar der Idee des Künstlers entsprechender sein musste. Aber auch selbst den Fall ge- setzt, dass dieser Fortschritt dem Phidias in einzelnen seiner Werke nicht fremd geblieben sei, so ist es immer noch Eigen- thümlichkeit genug für Polyklet, diesen Punkt im Princip fest- gestellt und nach demselben ausschliesslich oder mit Vorliebe gehandelt zu haben. Wer seinen eigenen Augen mehr, als fremden Worten traut, der möge z. B. die Giustinianische Pallas und den sogenannten Antinous des Belvedere mit ein-
Da Plinius sagt, die Art dieser Stellung sei eine Neuerung des Polyklet, so hat auch hier Thiersch geglaubt, an einen älteren Künstler dieses Namens denken zu müssen, indem diese Neuerung älter als die Zeit des Phidias sei. Das Bei- spiel indessen, welches er zum Beweise der letzten Behaup- tung beibringt, die sogenannte Barberinische Muse, der Apollo Citharoedus in München, ist übel gewählt. Denn dieses Werk gehört gewiss vielmehr der Epoche der griechischen Kunst in Rom, als der Zeit des Ageladas an. Dass übrigens von Bild- säulen in ruhiger Stellung, nicht von bewegten Gestalten die Rede sei, behauptet Thiersch selbst. Bei diesen aber bietet das excogitasse, selbst auf einen Zeitgenossen des Phidias an- gewendet, noch einen völlig richtigen Sinn dar, wenn wir nur uno crure insistere in strenger Bedeutung auffassen. Die Sitte der ältesten Kunst war es, die Last des Körpers auf beide Füsse gleichmässig zu vertheilen. Von diesem Punkte an giebt es mehrfache Uebergangsstufen, je nachdem der eine Fuss mehr oder minder in Anspruch genommen wird. Je weniger es der Fall ist, desto leichter wird die Haltung der Figur er- scheinen: denn je weniger von den zum Tragen bestimmten Kräften in Anspruch genommen werden, desto mehr bleiben zur Verfügung, um jeder Störung des Gleichgewichts abzu- helfen, desto grösser also erscheint die Sicherheit der Stellung. Polyklet’s Verdienst ist es, durch Ueberlegung herausgefunden zu haben, wie man mit möglichst geringem Kraftaufwand der menschlichen Figur einen festen Stand zu geben vermöge, nem- lich indem die volle Hälfte der Tragkraft, der eine Fuss, so gut wie ganz ausser Mitwirkung gesetzt wird. Bis zu diesem Punkte brauchte nicht einmal ein Phidias gegangen zu sein, und ist er auch aller Wahrscheinlichkeit nach nicht gegangen, da bei der Würde seiner Göttergestalten ein geringeres Maass von Leichtigkeit der Haltung sogar der Idee des Künstlers entsprechender sein musste. Aber auch selbst den Fall ge- setzt, dass dieser Fortschritt dem Phidias in einzelnen seiner Werke nicht fremd geblieben sei, so ist es immer noch Eigen- thümlichkeit genug für Polyklet, diesen Punkt im Princip fest- gestellt und nach demselben ausschliesslich oder mit Vorliebe gehandelt zu haben. Wer seinen eigenen Augen mehr, als fremden Worten traut, der möge z. B. die Giustinianische Pallas und den sogenannten Antinous des Belvedere mit ein-
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Da Plinius sagt, die Art dieser Stellung sei eine Neuerung
des Polyklet, so hat auch hier Thiersch geglaubt, an einen
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diese Neuerung älter als die Zeit des Phidias sei. Das Bei-
spiel indessen, welches er zum Beweise der letzten Behaup-
tung beibringt, die sogenannte Barberinische Muse, der Apollo
Citharoedus in München, ist übel gewählt. Denn dieses Werk
gehört gewiss vielmehr der Epoche der griechischen Kunst in
Rom, als der Zeit des Ageladas an. Dass übrigens von Bild-
säulen in ruhiger Stellung, nicht von bewegten Gestalten die
Rede sei, behauptet Thiersch selbst. Bei diesen aber bietet
das excogitasse, selbst auf einen Zeitgenossen des Phidias an-
gewendet, noch einen völlig richtigen Sinn dar, wenn wir nur
uno crure insistere in strenger Bedeutung auffassen. Die Sitte
der ältesten Kunst war es, die Last des Körpers auf beide
Füsse gleichmässig zu vertheilen. Von diesem Punkte an giebt
es mehrfache Uebergangsstufen, je nachdem der eine Fuss
mehr oder minder in Anspruch genommen wird. Je weniger
es der Fall ist, desto leichter wird die Haltung der Figur er-
scheinen: denn je weniger von den zum Tragen bestimmten
Kräften in Anspruch genommen werden, desto mehr bleiben
zur Verfügung, um jeder Störung des Gleichgewichts abzu-
helfen, desto grösser also erscheint die Sicherheit der Stellung.
Polyklet’s Verdienst ist es, durch Ueberlegung herausgefunden
zu haben, wie man mit möglichst geringem Kraftaufwand der
menschlichen Figur einen festen Stand zu geben vermöge, nem-
lich indem die volle Hälfte der Tragkraft, der eine Fuss, so gut
wie ganz ausser Mitwirkung gesetzt wird. Bis zu diesem
Punkte brauchte nicht einmal ein Phidias gegangen zu sein,
und ist er auch aller Wahrscheinlichkeit nach nicht gegangen,
da bei der Würde seiner Göttergestalten ein geringeres Maass
von Leichtigkeit der Haltung sogar der Idee des Künstlers
entsprechender sein musste. Aber auch selbst den Fall ge-
setzt, dass dieser Fortschritt dem Phidias in einzelnen seiner
Werke nicht fremd geblieben sei, so ist es immer noch Eigen-
thümlichkeit genug für Polyklet, diesen Punkt im Princip fest-
gestellt und nach demselben ausschliesslich oder mit Vorliebe
gehandelt zu haben. Wer seinen eigenen Augen mehr, als
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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/236>, abgerufen am 22.11.2024.
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