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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853.

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nicht nur als Künstler in einem Kunstwerke, sondern auch
theoretisch in einer eigenen Schrift, dem Kanon, darzulegen.
Sein Augenmerk war dabei hauptsächlich auf die Proportionen
des menschlichen Körpers gerichtet, als auf welchen die wahre
Schönheit desselben vorzugsweise beruhe. Nach Chrysipp bei
Galen 1) waren in der Schrift alle Symmetrien des Körpers
dargelegt, d. h. das wechselseitige Verhältniss aller verschie-
denen Theile zu einander, wie "des Fingers zum Finger, aller
Finger zur flachen Hand, der Hand zur Handwurzel, der
Handwurzel zum Ellnbogen, des Ellnbogens zum Arm und
so jedes Theiles zum andern." Genau nach diesen Regeln hatte
nun Polyklet einen Körper, den Kanon, wirklich gebildet, und
zwar von solcher Vorzüglichkeit, dass er den nachfolgenden
Künstlern lange Zeit als Norm und Regel galt und eifrig stu-
dirt wurde; ja dass man sogar sagte: ihm allein sei es gelun-
gen, die Kunst selbst in einem Kunstwerke darzustellen (so-
lusque hominum artem ipsam fecisse artis opere iudicatur:
Plin. 34, 55).

Wir suchen jetzt das Wesen dieses Kanon näher zu be-
stimmen, und benutzen zu diesem Zwecke zunächst eine Stelle
des Lucian 2), in welcher er uns zeigen will, wie ein Tänzer
körperlich beschaffen sein müsse. Dies glaubt er nicht besser
thun zu können, als wenn er dabei von dem Kanon des Polyklet
ausgeht: er soll nicht zu hoch und nicht übermässig lang, aber
auch nicht klein und zwerghaft, sondern streng ebenmässig
sein (emmetros akribos), nicht zu fleischig, denn das wäre
ungehörig, aber auch nicht übermässig mager, denn das würde
ihm ein skelett- oder todtenartiges Ansehen geben. Damit
verbinden wir die Bemerkungen Galen's an einer andern Stelle 3).
Wie er summetron nennt, oper ekaterou ton akron ison ape-
khei, so bezeichnet er noch besonders das richtige Verhältniss
der Theile zu einander, auf welches es in dem Kanon des
Polyklet abgesehen sei, als to meson en ekeino to genei, als
dasjenige Maass, welches je bei einem bestimmten Geschlechte
einem Menschen, einem Pferde, einem Stiere u. s. w., zwischen
den zwei Extremen jedesmal die rechte Mitte halte. Denken
wir dabei an die Werke Polyklet's zurück, unter denen die
Jünglingsgestalten in ruhiger Haltung oder in geringer Bewe-

1) p. ton k. Ipp. k. Pl. V, 3.
2) de saltat. 75.
3) p. kras. I, 9.

nicht nur als Künstler in einem Kunstwerke, sondern auch
theoretisch in einer eigenen Schrift, dem Kanon, darzulegen.
Sein Augenmerk war dabei hauptsächlich auf die Proportionen
des menschlichen Körpers gerichtet, als auf welchen die wahre
Schönheit desselben vorzugsweise beruhe. Nach Chrysipp bei
Galen 1) waren in der Schrift alle Symmetrien des Körpers
dargelegt, d. h. das wechselseitige Verhältniss aller verschie-
denen Theile zu einander, wie „des Fingers zum Finger, aller
Finger zur flachen Hand, der Hand zur Handwurzel, der
Handwurzel zum Ellnbogen, des Ellnbogens zum Arm und
so jedes Theiles zum andern.” Genau nach diesen Regeln hatte
nun Polyklet einen Körper, den Kanon, wirklich gebildet, und
zwar von solcher Vorzüglichkeit, dass er den nachfolgenden
Künstlern lange Zeit als Norm und Regel galt und eifrig stu-
dirt wurde; ja dass man sogar sagte: ihm allein sei es gelun-
gen, die Kunst selbst in einem Kunstwerke darzustellen (so-
lusque hominum artem ipsam fecisse artis opere iudicatur:
Plin. 34, 55).

Wir suchen jetzt das Wesen dieses Kanon näher zu be-
stimmen, und benutzen zu diesem Zwecke zunächst eine Stelle
des Lucian 2), in welcher er uns zeigen will, wie ein Tänzer
körperlich beschaffen sein müsse. Dies glaubt er nicht besser
thun zu können, als wenn er dabei von dem Kanon des Polyklet
ausgeht: er soll nicht zu hoch und nicht übermässig lang, aber
auch nicht klein und zwerghaft, sondern streng ebenmässig
sein (ἔμμετρος ἀκριβῶς), nicht zu fleischig, denn das wäre
ungehörig, aber auch nicht übermässig mager, denn das würde
ihm ein skelett- oder todtenartiges Ansehen geben. Damit
verbinden wir die Bemerkungen Galen’s an einer andern Stelle 3).
Wie er σύμμετρον nennt, ὅπερ ἑκατέρου τῶν ἄκρων ἶσον ἀπέ-
χει, so bezeichnet er noch besonders das richtige Verhältniss
der Theile zu einander, auf welches es in dem Kanon des
Polyklet abgesehen sei, als τὸ μέσον ἐν ἐκείνῳ τῷ γένει, als
dasjenige Maass, welches je bei einem bestimmten Geschlechte
einem Menschen, einem Pferde, einem Stiere u. s. w., zwischen
den zwei Extremen jedesmal die rechte Mitte halte. Denken
wir dabei an die Werke Polyklet’s zurück, unter denen die
Jünglingsgestalten in ruhiger Haltung oder in geringer Bewe-

1) π. τῶν κ. Ἱππ. κ. Πλ. V, 3.
2) de saltat. 75.
3) π. κρασ. I, 9.
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[219/0232] nicht nur als Künstler in einem Kunstwerke, sondern auch theoretisch in einer eigenen Schrift, dem Kanon, darzulegen. Sein Augenmerk war dabei hauptsächlich auf die Proportionen des menschlichen Körpers gerichtet, als auf welchen die wahre Schönheit desselben vorzugsweise beruhe. Nach Chrysipp bei Galen 1) waren in der Schrift alle Symmetrien des Körpers dargelegt, d. h. das wechselseitige Verhältniss aller verschie- denen Theile zu einander, wie „des Fingers zum Finger, aller Finger zur flachen Hand, der Hand zur Handwurzel, der Handwurzel zum Ellnbogen, des Ellnbogens zum Arm und so jedes Theiles zum andern.” Genau nach diesen Regeln hatte nun Polyklet einen Körper, den Kanon, wirklich gebildet, und zwar von solcher Vorzüglichkeit, dass er den nachfolgenden Künstlern lange Zeit als Norm und Regel galt und eifrig stu- dirt wurde; ja dass man sogar sagte: ihm allein sei es gelun- gen, die Kunst selbst in einem Kunstwerke darzustellen (so- lusque hominum artem ipsam fecisse artis opere iudicatur: Plin. 34, 55). Wir suchen jetzt das Wesen dieses Kanon näher zu be- stimmen, und benutzen zu diesem Zwecke zunächst eine Stelle des Lucian 2), in welcher er uns zeigen will, wie ein Tänzer körperlich beschaffen sein müsse. Dies glaubt er nicht besser thun zu können, als wenn er dabei von dem Kanon des Polyklet ausgeht: er soll nicht zu hoch und nicht übermässig lang, aber auch nicht klein und zwerghaft, sondern streng ebenmässig sein (ἔμμετρος ἀκριβῶς), nicht zu fleischig, denn das wäre ungehörig, aber auch nicht übermässig mager, denn das würde ihm ein skelett- oder todtenartiges Ansehen geben. Damit verbinden wir die Bemerkungen Galen’s an einer andern Stelle 3). Wie er σύμμετρον nennt, ὅπερ ἑκατέρου τῶν ἄκρων ἶσον ἀπέ- χει, so bezeichnet er noch besonders das richtige Verhältniss der Theile zu einander, auf welches es in dem Kanon des Polyklet abgesehen sei, als τὸ μέσον ἐν ἐκείνῳ τῷ γένει, als dasjenige Maass, welches je bei einem bestimmten Geschlechte einem Menschen, einem Pferde, einem Stiere u. s. w., zwischen den zwei Extremen jedesmal die rechte Mitte halte. Denken wir dabei an die Werke Polyklet’s zurück, unter denen die Jünglingsgestalten in ruhiger Haltung oder in geringer Bewe- 1) π. τῶν κ. Ἱππ. κ. Πλ. V, 3. 2) de saltat. 75. 3) π. κρασ. I, 9.

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/232>, abgerufen am 22.11.2024.