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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853.

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keit des Gegenstandes bedingt ist, eine andere ein Läufer,
wie Ladas, wieder eine andere ein Faustkämpfer. Die veritas
muss stets eine andere sein, und eben so die Symmetrie; in der
reichen Mannigfaltigkeit beider aber, verbunden mit einer sorg-
fältigen Berechnung je für den besonderen Zweck ist das Ver-
dienst des Myron, ist sein Vorzug vor Polyklet begründet,
dessen Werke trotz makelloser Reinheit, wie oben bemerkt
wurde, paene ad unum exemplum gebildet schienen.

Die hohe Vortrefflichkeit des Myron ist durch die bisher
behandelten Zeugnisse ausser Zweifel gesetzt; und wir könn-
ten dadurch leicht verleitet werden, sein Verdienst zu über-
schätzen, kämen uns nicht zwei Urtheile zu Hülfe, welche
unsere Anerkennung auf das richtige Maass zurückzuführen
geeignet sind. Es sind dies die schon einigemale angeführten
vergleichenden Urtheile des Cicero 1) und Quintilian 2). Erste-
rer nennt die Werke des Kanachos starr, die des Kalamis
zwar hart, aber doch weicher als die des Kanachos, die des
Myron noch nicht hinlänglich der Wahrheit genähert, aber
doch so, dass man nicht anstehe, sie schön zu nennen; schö-
ner endlich und nach seiner Meinung ganz vollendet findet er
die Werke des Polyklet. In ähnlicher Reihenfolge stehen bei
Quintilian Kallon und Hegesias, Kalamis, Myron, welchem im
Verhältniss zu seinen Vorgängern zwar eine grössere Weich-
heit zuerkannt, sein Platz aber doch nur unter Polyklet ein-
geräumt wird. Bei der Würdigung dieser Urtheile in ihrem
Verhältnisse zu denen des Plinius dürfen wir uns wohl er-
lauben, in Betreff ihrer Auctorität einen Unterschied zu machen.
Plinius theilt uns aus seinen vortrefflichen Quellen (hier aus
Varro, der indessen wieder aus griechischen Quellen schöpfte)
ein wirkliches künstlerisches Kennerurtheil mit, die beiden
Rhetoren halten sich mehr an das Urtheil des Kunstgeschmackes
ihrer Zeit, mehr der ästhetischen, nicht streng künstlerisch gebil-
ten Kunstliebhaber. Daraus wird sich nun erklären, warum
Cicero dem Myron die volle veritas noch nicht zuerkennen
will, während wir doch als das Hauptverdienst seiner Werke
die lebensvollste Naturwahrheit erkannt haben. Wir zeigten,
dass dieselbe auf der schärfsten Auffassung aller Bewegungen
nach ihren strengen organischen Gesetzen beruhte. Gerade

1) Brut, 18.
2) XII, 10, 7.

keit des Gegenstandes bedingt ist, eine andere ein Läufer,
wie Ladas, wieder eine andere ein Faustkämpfer. Die veritas
muss stets eine andere sein, und eben so die Symmetrie; in der
reichen Mannigfaltigkeit beider aber, verbunden mit einer sorg-
fältigen Berechnung je für den besonderen Zweck ist das Ver-
dienst des Myron, ist sein Vorzug vor Polyklet begründet,
dessen Werke trotz makelloser Reinheit, wie oben bemerkt
wurde, paene ad unum exemplum gebildet schienen.

Die hohe Vortrefflichkeit des Myron ist durch die bisher
behandelten Zeugnisse ausser Zweifel gesetzt; und wir könn-
ten dadurch leicht verleitet werden, sein Verdienst zu über-
schätzen, kämen uns nicht zwei Urtheile zu Hülfe, welche
unsere Anerkennung auf das richtige Maass zurückzuführen
geeignet sind. Es sind dies die schon einigemale angeführten
vergleichenden Urtheile des Cicero 1) und Quintilian 2). Erste-
rer nennt die Werke des Kanachos starr, die des Kalamis
zwar hart, aber doch weicher als die des Kanachos, die des
Myron noch nicht hinlänglich der Wahrheit genähert, aber
doch so, dass man nicht anstehe, sie schön zu nennen; schö-
ner endlich und nach seiner Meinung ganz vollendet findet er
die Werke des Polyklet. In ähnlicher Reihenfolge stehen bei
Quintilian Kallon und Hegesias, Kalamis, Myron, welchem im
Verhältniss zu seinen Vorgängern zwar eine grössere Weich-
heit zuerkannt, sein Platz aber doch nur unter Polyklet ein-
geräumt wird. Bei der Würdigung dieser Urtheile in ihrem
Verhältnisse zu denen des Plinius dürfen wir uns wohl er-
lauben, in Betreff ihrer Auctorität einen Unterschied zu machen.
Plinius theilt uns aus seinen vortrefflichen Quellen (hier aus
Varro, der indessen wieder aus griechischen Quellen schöpfte)
ein wirkliches künstlerisches Kennerurtheil mit, die beiden
Rhetoren halten sich mehr an das Urtheil des Kunstgeschmackes
ihrer Zeit, mehr der ästhetischen, nicht streng künstlerisch gebil-
ten Kunstliebhaber. Daraus wird sich nun erklären, warum
Cicero dem Myron die volle veritas noch nicht zuerkennen
will, während wir doch als das Hauptverdienst seiner Werke
die lebensvollste Naturwahrheit erkannt haben. Wir zeigten,
dass dieselbe auf der schärfsten Auffassung aller Bewegungen
nach ihren strengen organischen Gesetzen beruhte. Gerade

1) Brut, 18.
2) XII, 10, 7.
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[154/0167] keit des Gegenstandes bedingt ist, eine andere ein Läufer, wie Ladas, wieder eine andere ein Faustkämpfer. Die veritas muss stets eine andere sein, und eben so die Symmetrie; in der reichen Mannigfaltigkeit beider aber, verbunden mit einer sorg- fältigen Berechnung je für den besonderen Zweck ist das Ver- dienst des Myron, ist sein Vorzug vor Polyklet begründet, dessen Werke trotz makelloser Reinheit, wie oben bemerkt wurde, paene ad unum exemplum gebildet schienen. Die hohe Vortrefflichkeit des Myron ist durch die bisher behandelten Zeugnisse ausser Zweifel gesetzt; und wir könn- ten dadurch leicht verleitet werden, sein Verdienst zu über- schätzen, kämen uns nicht zwei Urtheile zu Hülfe, welche unsere Anerkennung auf das richtige Maass zurückzuführen geeignet sind. Es sind dies die schon einigemale angeführten vergleichenden Urtheile des Cicero 1) und Quintilian 2). Erste- rer nennt die Werke des Kanachos starr, die des Kalamis zwar hart, aber doch weicher als die des Kanachos, die des Myron noch nicht hinlänglich der Wahrheit genähert, aber doch so, dass man nicht anstehe, sie schön zu nennen; schö- ner endlich und nach seiner Meinung ganz vollendet findet er die Werke des Polyklet. In ähnlicher Reihenfolge stehen bei Quintilian Kallon und Hegesias, Kalamis, Myron, welchem im Verhältniss zu seinen Vorgängern zwar eine grössere Weich- heit zuerkannt, sein Platz aber doch nur unter Polyklet ein- geräumt wird. Bei der Würdigung dieser Urtheile in ihrem Verhältnisse zu denen des Plinius dürfen wir uns wohl er- lauben, in Betreff ihrer Auctorität einen Unterschied zu machen. Plinius theilt uns aus seinen vortrefflichen Quellen (hier aus Varro, der indessen wieder aus griechischen Quellen schöpfte) ein wirkliches künstlerisches Kennerurtheil mit, die beiden Rhetoren halten sich mehr an das Urtheil des Kunstgeschmackes ihrer Zeit, mehr der ästhetischen, nicht streng künstlerisch gebil- ten Kunstliebhaber. Daraus wird sich nun erklären, warum Cicero dem Myron die volle veritas noch nicht zuerkennen will, während wir doch als das Hauptverdienst seiner Werke die lebensvollste Naturwahrheit erkannt haben. Wir zeigten, dass dieselbe auf der schärfsten Auffassung aller Bewegungen nach ihren strengen organischen Gesetzen beruhte. Gerade 1) Brut, 18. 2) XII, 10, 7.

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 154. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/167>, abgerufen am 27.04.2024.