ken haben wir bereits kennen gelernt: die Kuh, den Ladas, den Diskobol und jene trunkene alte Frau, in welcher wir zum ersten Male ein reines Genrebild vor uns haben. -- Be- trachten wir nun die folgenden Worte des Plinius, so müssen sie nach dem Znsammenhange der grammatischen Construction eine nähere Bestimmung und Erläuterung des ersten Satzes enthalten. Schon das verbietet uns, den Ausdruck numerosus hier für eine Uebertragung des griechischen euruthmos zu hal- ten, wenn ich auch nicht läugnen will, dass er in anderem Zusammenhange eine solche Deutung zulässt. Dazu kommt, dass Plinius öfters numerosus in wirklicher, nicht übertrage- ner Bedeutung gebraucht; so von Antidotus: ipse diligentior quam numerosior 1); von Aristophon: numerosaque tabula, in qua sunt Priamus Helena Credulitas Ulixes Deiphobus Do- lus 2); von Pausias: ad numerosissimam florum varietatem perduxit artem illam coronarum pingendarum 3); endlich: mul- lum exspirantem versicolori quadam et numerosa varietate spe- ctari 4). Ueberall denken wir hier zunächst an die Bedeutung der Mannigfaltigkeit. Eine weitere Bestätigung liefert uns ferner Quintilian 5): Quo apparet omnem ad scribendum desti- natam materiam ita (argumentum) appellari. Nec mirum, cum id inter opifices quoque vulgatum sit ... vulgoque paullo nu- merosius opus dicitur argumentosum. Gerade dieser mehr vulgäre Ausdruck argumentosus würde das Wesen des Myron vortrefflich bezeichnen; und in diesem Sinne bildet numerosior die passendste Erläuterung des multiplicasse veritatem, zu- gleich aber auch einen schlagenden Gegensatz zu dem, was Plinius kurz vorher über Polyklet bemerkt: seine Werke seien paene ad unum exemplum.
Bis hierher ist also alles in der besten Ordnung. Am meisten hat man aber an den letzten Worten Anstoss genom- men: et in symmetria diligentior; und ich selbst muss mich anklagen, früher an ihnen gerüttelt zu haben. Man glaubte einen zu grossen Widerspruch darin zu finden, dass Myron in der Symmetrie, den Proportionen, sorgfältiger gewesen sein sollte, als Polyklet, welcher in seinem Kanon dafür ein Mu- sterbild, praktisch und theoretisch zugleich, aufgestellt habe.
1) 35, 130.
2) ib. 138.
3) ib 125.
4) 9, 66.
5) V, 10, 9.
ken haben wir bereits kennen gelernt: die Kuh, den Ladas, den Diskobol und jene trunkene alte Frau, in welcher wir zum ersten Male ein reines Genrebild vor uns haben. — Be- trachten wir nun die folgenden Worte des Plinius, so müssen sie nach dem Znsammenhange der grammatischen Construction eine nähere Bestimmung und Erläuterung des ersten Satzes enthalten. Schon das verbietet uns, den Ausdruck numerosus hier für eine Uebertragung des griechischen εὔρυϑμος zu hal- ten, wenn ich auch nicht läugnen will, dass er in anderem Zusammenhange eine solche Deutung zulässt. Dazu kommt, dass Plinius öfters numerosus in wirklicher, nicht übertrage- ner Bedeutung gebraucht; so von Antidotus: ipse diligentior quam numerosior 1); von Aristophon: numerosaque tabula, in qua sunt Priamus Helena Credulitas Ulixes Deiphobus Do- lus 2); von Pausias: ad numerosissimam florum varietatem perduxit artem illam coronarum pingendarum 3); endlich: mul- lum exspirantem versicolori quadam et numerosa varietate spe- ctari 4). Ueberall denken wir hier zunächst an die Bedeutung der Mannigfaltigkeit. Eine weitere Bestätigung liefert uns ferner Quintilian 5): Quo apparet omnem ad scribendum desti- natam materiam ita (argumentum) appellari. Nec mirum, cum id inter opifices quoque vulgatum sit ... vulgoque paullo nu- merosius opus dicitur argumentosum. Gerade dieser mehr vulgäre Ausdruck argumentosus würde das Wesen des Myron vortrefflich bezeichnen; und in diesem Sinne bildet numerosior die passendste Erläuterung des multiplicasse veritatem, zu- gleich aber auch einen schlagenden Gegensatz zu dem, was Plinius kurz vorher über Polyklet bemerkt: seine Werke seien paene ad unum exemplum.
Bis hierher ist also alles in der besten Ordnung. Am meisten hat man aber an den letzten Worten Anstoss genom- men: et in symmetria diligentior; und ich selbst muss mich anklagen, früher an ihnen gerüttelt zu haben. Man glaubte einen zu grossen Widerspruch darin zu finden, dass Myron in der Symmetrie, den Proportionen, sorgfältiger gewesen sein sollte, als Polyklet, welcher in seinem Kanon dafür ein Mu- sterbild, praktisch und theoretisch zugleich, aufgestellt habe.
1) 35, 130.
2) ib. 138.
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ken haben wir bereits kennen gelernt: die Kuh, den Ladas,
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zum ersten Male ein reines Genrebild vor uns haben. — Be-
trachten wir nun die folgenden Worte des Plinius, so müssen
sie nach dem Znsammenhange der grammatischen Construction
eine nähere Bestimmung und Erläuterung des ersten Satzes
enthalten. Schon das verbietet uns, den Ausdruck numerosus
hier für eine Uebertragung des griechischen εὔρυϑμος zu hal-
ten, wenn ich auch nicht läugnen will, dass er in anderem
Zusammenhange eine solche Deutung zulässt. Dazu kommt,
dass Plinius öfters numerosus in wirklicher, nicht übertrage-
ner Bedeutung gebraucht; so von Antidotus: ipse diligentior
quam numerosior 1); von Aristophon: numerosaque tabula, in
qua sunt Priamus Helena Credulitas Ulixes Deiphobus Do-
lus 2); von Pausias: ad numerosissimam florum varietatem
perduxit artem illam coronarum pingendarum 3); endlich: mul-
lum exspirantem versicolori quadam et numerosa varietate spe-
ctari 4). Ueberall denken wir hier zunächst an die Bedeutung
der Mannigfaltigkeit. Eine weitere Bestätigung liefert uns
ferner Quintilian 5): Quo apparet omnem ad scribendum desti-
natam materiam ita (argumentum) appellari. Nec mirum, cum
id inter opifices quoque vulgatum sit ... vulgoque paullo nu-
merosius opus dicitur argumentosum. Gerade dieser mehr
vulgäre Ausdruck argumentosus würde das Wesen des Myron
vortrefflich bezeichnen; und in diesem Sinne bildet numerosior
die passendste Erläuterung des multiplicasse veritatem, zu-
gleich aber auch einen schlagenden Gegensatz zu dem, was
Plinius kurz vorher über Polyklet bemerkt: seine Werke seien
paene ad unum exemplum.
Bis hierher ist also alles in der besten Ordnung. Am
meisten hat man aber an den letzten Worten Anstoss genom-
men: et in symmetria diligentior; und ich selbst muss mich
anklagen, früher an ihnen gerüttelt zu haben. Man glaubte
einen zu grossen Widerspruch darin zu finden, dass Myron
in der Symmetrie, den Proportionen, sorgfältiger gewesen sein
sollte, als Polyklet, welcher in seinem Kanon dafür ein Mu-
sterbild, praktisch und theoretisch zugleich, aufgestellt habe.
1) 35, 130.
2) ib. 138.
3) ib 125.
4) 9, 66.
5) V, 10, 9.
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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 152. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/165>, abgerufen am 22.11.2024.
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