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Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853.

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Anziehungskraft, dass, bei dem Mangel eines bestimmten, in-
dividuellen Ausdrucks und bei der verhältnissmässig geringen
geistigen Bedeutung der Handlung, dennoch in diesem Kopfe
sich ein sehr hoher Adel ausspricht. Dieser beruht aber eben
sowohl in der vollkommenen physischen Ausbildung des Baues,
als besonders noch in dem Hauche des Lebens, der alle Formen
durchdringt. Animi sensus non expressit, aber animam aere
comprehendit. Denn animus est quo sapimus, anima qua
vivimus 1). Animus ist das geistige, anima das physische, ani-
malische Leben. Erst jetzt werden wir auch richtig verstehen,
was an der Statue des Ladas so bewundernswürdig befunden
ward: nicht sowohl der geistige Ausdruck, als der Ausdruck
des Lebens, dessen letzter Rest nur noch als ein flüchtiger
Hauch auf den Lippen zu schweben schien.

Aber, müssen wir jetzt weiter fragen, ist es möglich,
einen so bedeutsamen Moment, einen so feinen und doch so
bestimmt abgegrenzten Ausdruck allein in der Bildung der
Lippen auszuprägen? Gewiss nicht: an den Lippen vermag
sich nur eben die letzte flüchtige Aeusserung dieses Hauches
zu zeigen. Sollen wir aber diese in ihrer ganzen Bedeutung
verstehen, so müssen wir in ihr nur eine Folge der vorher-
gehenden Wirkung erkennen, welche der Athem auf die ge-
sammte Thätigkeit des übrigen Körpers ausgeübt hat. Und
dies war wirklich der Fall bei Myron's Statue des Ladas:
akrois d' epi kheilesin asthma
emphainei koilon endothen ek lagonon.

Man erkannte die grosse Anstrengung des Laufens, welche
die Weichen zusammenzieht und den Athem nach oben drängt,
so dass er im Moment der höchsten Spannung ganz von den
Lippen zu entweichen drohte. Der Ausdruck der höchsten
Lebendigkeit beruhte also hier hauptsächlich auf dem scharfen
Erfassen der Wechselwirkung aller Theile in einem einzigen
Momente, in welchem die gesammte Lebensthätigkeit wie auf
einen Punkt zusammengedrängt erscheint. -- Ein ähnliches
Verdienst werden wir auch dem Diskobol zuzuerkennen keinen
Anstand nehmen. Es würde sehr lehrreich sein, hier aber zu
weit führen, dieses Werk einmal bis in das Einzelnste zu zer-
gliedern. Davon jedoch können wir uns überzeugt halten,

1) Nonius. p. 426.

Anziehungskraft, dass, bei dem Mangel eines bestimmten, in-
dividuellen Ausdrucks und bei der verhältnissmässig geringen
geistigen Bedeutung der Handlung, dennoch in diesem Kopfe
sich ein sehr hoher Adel ausspricht. Dieser beruht aber eben
sowohl in der vollkommenen physischen Ausbildung des Baues,
als besonders noch in dem Hauche des Lebens, der alle Formen
durchdringt. Animi sensus non expressit, aber animam aere
comprehendit. Denn animus est quo sapimus, anima qua
vivimus 1). Animus ist das geistige, anima das physische, ani-
malische Leben. Erst jetzt werden wir auch richtig verstehen,
was an der Statue des Ladas so bewundernswürdig befunden
ward: nicht sowohl der geistige Ausdruck, als der Ausdruck
des Lebens, dessen letzter Rest nur noch als ein flüchtiger
Hauch auf den Lippen zu schweben schien.

Aber, müssen wir jetzt weiter fragen, ist es möglich,
einen so bedeutsamen Moment, einen so feinen und doch so
bestimmt abgegrenzten Ausdruck allein in der Bildung der
Lippen auszuprägen? Gewiss nicht: an den Lippen vermag
sich nur eben die letzte flüchtige Aeusserung dieses Hauches
zu zeigen. Sollen wir aber diese in ihrer ganzen Bedeutung
verstehen, so müssen wir in ihr nur eine Folge der vorher-
gehenden Wirkung erkennen, welche der Athem auf die ge-
sammte Thätigkeit des übrigen Körpers ausgeübt hat. Und
dies war wirklich der Fall bei Myron’s Statue des Ladas:
ἄκροις δ᾽ ἐπὶ χείλεσιν ἆσϑμα
ἐμφαίνει κοίλων ἔνδοϑεν ἐκ λαγόνων.

Man erkannte die grosse Anstrengung des Laufens, welche
die Weichen zusammenzieht und den Athem nach oben drängt,
so dass er im Moment der höchsten Spannung ganz von den
Lippen zu entweichen drohte. Der Ausdruck der höchsten
Lebendigkeit beruhte also hier hauptsächlich auf dem scharfen
Erfassen der Wechselwirkung aller Theile in einem einzigen
Momente, in welchem die gesammte Lebensthätigkeit wie auf
einen Punkt zusammengedrängt erscheint. — Ein ähnliches
Verdienst werden wir auch dem Diskobol zuzuerkennen keinen
Anstand nehmen. Es würde sehr lehrreich sein, hier aber zu
weit führen, dieses Werk einmal bis in das Einzelnste zu zer-
gliedern. Davon jedoch können wir uns überzeugt halten,

1) Nonius. p. 426.
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[150/0163] Anziehungskraft, dass, bei dem Mangel eines bestimmten, in- dividuellen Ausdrucks und bei der verhältnissmässig geringen geistigen Bedeutung der Handlung, dennoch in diesem Kopfe sich ein sehr hoher Adel ausspricht. Dieser beruht aber eben sowohl in der vollkommenen physischen Ausbildung des Baues, als besonders noch in dem Hauche des Lebens, der alle Formen durchdringt. Animi sensus non expressit, aber animam aere comprehendit. Denn animus est quo sapimus, anima qua vivimus 1). Animus ist das geistige, anima das physische, ani- malische Leben. Erst jetzt werden wir auch richtig verstehen, was an der Statue des Ladas so bewundernswürdig befunden ward: nicht sowohl der geistige Ausdruck, als der Ausdruck des Lebens, dessen letzter Rest nur noch als ein flüchtiger Hauch auf den Lippen zu schweben schien. Aber, müssen wir jetzt weiter fragen, ist es möglich, einen so bedeutsamen Moment, einen so feinen und doch so bestimmt abgegrenzten Ausdruck allein in der Bildung der Lippen auszuprägen? Gewiss nicht: an den Lippen vermag sich nur eben die letzte flüchtige Aeusserung dieses Hauches zu zeigen. Sollen wir aber diese in ihrer ganzen Bedeutung verstehen, so müssen wir in ihr nur eine Folge der vorher- gehenden Wirkung erkennen, welche der Athem auf die ge- sammte Thätigkeit des übrigen Körpers ausgeübt hat. Und dies war wirklich der Fall bei Myron’s Statue des Ladas: ἄκροις δ᾽ ἐπὶ χείλεσιν ἆσϑμα ἐμφαίνει κοίλων ἔνδοϑεν ἐκ λαγόνων. Man erkannte die grosse Anstrengung des Laufens, welche die Weichen zusammenzieht und den Athem nach oben drängt, so dass er im Moment der höchsten Spannung ganz von den Lippen zu entweichen drohte. Der Ausdruck der höchsten Lebendigkeit beruhte also hier hauptsächlich auf dem scharfen Erfassen der Wechselwirkung aller Theile in einem einzigen Momente, in welchem die gesammte Lebensthätigkeit wie auf einen Punkt zusammengedrängt erscheint. — Ein ähnliches Verdienst werden wir auch dem Diskobol zuzuerkennen keinen Anstand nehmen. Es würde sehr lehrreich sein, hier aber zu weit führen, dieses Werk einmal bis in das Einzelnste zu zer- gliedern. Davon jedoch können wir uns überzeugt halten, 1) Nonius. p. 426.

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Zitationshilfe: Brunn, Heinrich von: Geschichte der griechischen Künstler. Bd. 1. Braunschweig: Schwetschke, 1853, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunn_griechen01_1853/163>, abgerufen am 27.04.2024.