Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brockes, Barthold Heinrich: Physikalische und moralische Gedanken über die drey Reiche der Natur. Bd. 9. Hamburg u. a., 1748.

Bild:
<< vorherige Seite

Vermischte Gedichte

Gedächtniß ohne Phantasey auch ohn Verstand zu einem
Brauch

Der Seelen jemals dienen könnte; so scheint ein Wille,
den wir frey

Und gleichsam unumschränket halten, auch ebenfalls kein
solches Wesen,

Das sonder Phantasey, Verstand, und ohn Gedächtniß
könn' erlesen

Und auch verwerfen vor sich selbst, was ihm misfällt.
Hingegen scheint

Des Willens Kraft, mit andern Kräften der Seelen,
dergestalt vereint,

Daß sie viel eh' für eine Folge von der Vernunft ist an-
zusehen,

Als daß man ihm fast einen Thron für sich alleine zu-
gestehen,

Als König ihn verehren müsse. Laßt uns in unser
Jnnres gehn,

Und auf das uns verborgne Wesen des Geistes die Ge-
danken lenken,

Und gleichsam unsre Seele selbst in unsrer Seelen Tiefe
senken!

Wir finden, daß von unsern Sinnen die Wurzel in der
Seele liegen,

Da, ohne Geist, der Leib nicht sinnlich. Wie sich die-
selbigen nun fügen

Und sich in dem Gefühl vereinen;
So deucht mich, daß die Seelenkräfte fast geist'ge Sinn-
lichkeiten scheinen,

Die in der Phantasie sich binden, und, nur mit ihr ver-
einet, wirken,

So etwan, wie in dem Gefühl die andern Sinnen sich
vereinen.

Kann

Vermiſchte Gedichte

Gedaͤchtniß ohne Phantaſey auch ohn Verſtand zu einem
Brauch

Der Seelen jemals dienen koͤnnte; ſo ſcheint ein Wille,
den wir frey

Und gleichſam unumſchraͤnket halten, auch ebenfalls kein
ſolches Weſen,

Das ſonder Phantaſey, Verſtand, und ohn Gedaͤchtniß
koͤnn’ erleſen

Und auch verwerfen vor ſich ſelbſt, was ihm misfaͤllt.
Hingegen ſcheint

Des Willens Kraft, mit andern Kraͤften der Seelen,
dergeſtalt vereint,

Daß ſie viel eh’ fuͤr eine Folge von der Vernunft iſt an-
zuſehen,

Als daß man ihm faſt einen Thron fuͤr ſich alleine zu-
geſtehen,

Als Koͤnig ihn verehren muͤſſe. Laßt uns in unſer
Jnnres gehn,

Und auf das uns verborgne Weſen des Geiſtes die Ge-
danken lenken,

Und gleichſam unſre Seele ſelbſt in unſrer Seelen Tiefe
ſenken!

Wir finden, daß von unſern Sinnen die Wurzel in der
Seele liegen,

Da, ohne Geiſt, der Leib nicht ſinnlich. Wie ſich die-
ſelbigen nun fuͤgen

Und ſich in dem Gefuͤhl vereinen;
So deucht mich, daß die Seelenkraͤfte faſt geiſt’ge Sinn-
lichkeiten ſcheinen,

Die in der Phantaſie ſich binden, und, nur mit ihr ver-
einet, wirken,

So etwan, wie in dem Gefuͤhl die andern Sinnen ſich
vereinen.

Kann
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <lg n="14">
            <l>
              <pb facs="#f0484" n="464"/>
              <fw place="top" type="header">Vermi&#x017F;chte Gedichte</fw>
            </l><lb/>
            <l>Geda&#x0364;chtniß ohne Phanta&#x017F;ey auch ohn Ver&#x017F;tand zu einem<lb/><hi rendition="#et">Brauch</hi></l><lb/>
            <l>Der Seelen jemals dienen ko&#x0364;nnte; &#x017F;o &#x017F;cheint ein Wille,<lb/><hi rendition="#et">den wir frey</hi></l><lb/>
            <l>Und gleich&#x017F;am unum&#x017F;chra&#x0364;nket halten, auch ebenfalls kein<lb/><hi rendition="#et">&#x017F;olches We&#x017F;en,</hi></l><lb/>
            <l>Das &#x017F;onder Phanta&#x017F;ey, Ver&#x017F;tand, und ohn Geda&#x0364;chtniß<lb/><hi rendition="#et">ko&#x0364;nn&#x2019; erle&#x017F;en</hi></l><lb/>
            <l>Und auch verwerfen vor &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t, was ihm misfa&#x0364;llt.<lb/><hi rendition="#et">Hingegen &#x017F;cheint</hi></l><lb/>
            <l>Des Willens Kraft, mit andern Kra&#x0364;ften der Seelen,<lb/><hi rendition="#et">derge&#x017F;talt vereint,</hi></l><lb/>
            <l>Daß &#x017F;ie viel eh&#x2019; fu&#x0364;r eine Folge von der Vernunft i&#x017F;t an-<lb/><hi rendition="#et">zu&#x017F;ehen,</hi></l><lb/>
            <l>Als daß man ihm fa&#x017F;t einen Thron fu&#x0364;r &#x017F;ich alleine zu-<lb/><hi rendition="#et">ge&#x017F;tehen,</hi></l><lb/>
            <l>Als Ko&#x0364;nig ihn verehren mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e. Laßt uns in un&#x017F;er<lb/><hi rendition="#et">Jnnres gehn,</hi></l><lb/>
            <l>Und auf das uns verborgne We&#x017F;en des Gei&#x017F;tes die Ge-<lb/><hi rendition="#et">danken lenken,</hi></l><lb/>
            <l>Und gleich&#x017F;am un&#x017F;re Seele &#x017F;elb&#x017F;t in un&#x017F;rer Seelen Tiefe<lb/><hi rendition="#et">&#x017F;enken!</hi></l><lb/>
            <l>Wir finden, daß von un&#x017F;ern Sinnen die Wurzel in der<lb/><hi rendition="#et">Seele liegen,</hi></l><lb/>
            <l>Da, ohne Gei&#x017F;t, der Leib nicht &#x017F;innlich. Wie &#x017F;ich die-<lb/><hi rendition="#et">&#x017F;elbigen nun fu&#x0364;gen</hi></l><lb/>
            <l>Und &#x017F;ich in dem Gefu&#x0364;hl vereinen;</l><lb/>
            <l>So deucht mich, daß die Seelenkra&#x0364;fte fa&#x017F;t gei&#x017F;t&#x2019;ge Sinn-<lb/><hi rendition="#et">lichkeiten &#x017F;cheinen,</hi></l><lb/>
            <l>Die in der Phanta&#x017F;ie &#x017F;ich binden, und, nur mit ihr ver-<lb/><hi rendition="#et">einet, wirken,</hi></l><lb/>
            <l>So etwan, wie in dem Gefu&#x0364;hl die andern Sinnen &#x017F;ich<lb/><hi rendition="#et">vereinen.</hi><lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Kann</fw><lb/></l>
          </lg>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[464/0484] Vermiſchte Gedichte Gedaͤchtniß ohne Phantaſey auch ohn Verſtand zu einem Brauch Der Seelen jemals dienen koͤnnte; ſo ſcheint ein Wille, den wir frey Und gleichſam unumſchraͤnket halten, auch ebenfalls kein ſolches Weſen, Das ſonder Phantaſey, Verſtand, und ohn Gedaͤchtniß koͤnn’ erleſen Und auch verwerfen vor ſich ſelbſt, was ihm misfaͤllt. Hingegen ſcheint Des Willens Kraft, mit andern Kraͤften der Seelen, dergeſtalt vereint, Daß ſie viel eh’ fuͤr eine Folge von der Vernunft iſt an- zuſehen, Als daß man ihm faſt einen Thron fuͤr ſich alleine zu- geſtehen, Als Koͤnig ihn verehren muͤſſe. Laßt uns in unſer Jnnres gehn, Und auf das uns verborgne Weſen des Geiſtes die Ge- danken lenken, Und gleichſam unſre Seele ſelbſt in unſrer Seelen Tiefe ſenken! Wir finden, daß von unſern Sinnen die Wurzel in der Seele liegen, Da, ohne Geiſt, der Leib nicht ſinnlich. Wie ſich die- ſelbigen nun fuͤgen Und ſich in dem Gefuͤhl vereinen; So deucht mich, daß die Seelenkraͤfte faſt geiſt’ge Sinn- lichkeiten ſcheinen, Die in der Phantaſie ſich binden, und, nur mit ihr ver- einet, wirken, So etwan, wie in dem Gefuͤhl die andern Sinnen ſich vereinen. Kann

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen09_1748
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen09_1748/484
Zitationshilfe: Brockes, Barthold Heinrich: Physikalische und moralische Gedanken über die drey Reiche der Natur. Bd. 9. Hamburg u. a., 1748, S. 464. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen09_1748/484>, abgerufen am 22.11.2024.