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Brockes, Barthold Heinrich: Jrdisches Vergnügen in Gott. Bd. 5. Hamburg, 1736.

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Vermuthliche Beschaffenheit der Seelen.
Vermuthliche Beschaffenheit der Seelen.
Unwiedersprechlich ist es ja, daß wir aus Seel' und
Leib bestehen;
Der Leib aus immer neuen Theilen; die Seele zeuget stets
Jdeen.
Wie nun der Leib von seinem Wesen durch Ausdunst im-
mer was verliehrt,
Die Theilchen aber nicht vergehen, verwesen oder sich
zerreiben,
Und stets dem allgemeinen Stoff sich, so zu reden, einver-
leiben;
So scheinet auch, daß unsre Seele beständig einen Abgang
spührt,
Durch ihrer Kinder, der Gedancken, verfliegende Ver-
gessenheit,
Die doch kein völliger Beweis von völliger Vergänglichkeit;
Allein es düncket mich, ob hier mit Recht nicht diese Frag'
entstehe?
Ob nicht der allgemeine Stoff durch Kleinheit der Materie,
Die immer feiner zu ihm fliesset, in sich sich nicht verbessere?
Jmgleichen, ob auf gleiche Weise in der Natur das Geistige
Sich, durch entstandene Gedancken (von welchen, daß sie
nicht vergehen
Und wir sie zu erhalten fähig, in Schriften wir ein Bey-
spiel sehen)
Auch, durch derselben steten Zufluß, wo nicht verbessre,
doch sich mehre?
Bey unsrer Einfalt scheint es meistens, als ob es nicht un-
möglich wäre.


Ver-
T 4
Vermuthliche Beſchaffenheit der Seelen.
Vermuthliche Beſchaffenheit der Seelen.
Unwiederſprechlich iſt es ja, daß wir aus Seel’ und
Leib beſtehen;
Der Leib aus immer neuen Theilen; die Seele zeuget ſtets
Jdeen.
Wie nun der Leib von ſeinem Weſen durch Ausdunſt im-
mer was verliehrt,
Die Theilchen aber nicht vergehen, verweſen oder ſich
zerreiben,
Und ſtets dem allgemeinen Stoff ſich, ſo zu reden, einver-
leiben;
So ſcheinet auch, daß unſre Seele beſtaͤndig einen Abgang
ſpuͤhrt,
Durch ihrer Kinder, der Gedancken, verfliegende Ver-
geſſenheit,
Die doch kein voͤlliger Beweis von voͤlliger Vergaͤnglichkeit;
Allein es duͤncket mich, ob hier mit Recht nicht dieſe Frag’
entſtehe?
Ob nicht der allgemeine Stoff durch Kleinheit der Materie,
Die immer feiner zu ihm flieſſet, in ſich ſich nicht verbeſſere?
Jmgleichen, ob auf gleiche Weiſe in der Natur das Geiſtige
Sich, durch entſtandene Gedancken (von welchen, daß ſie
nicht vergehen
Und wir ſie zu erhalten faͤhig, in Schriften wir ein Bey-
ſpiel ſehen)
Auch, durch derſelben ſteten Zufluß, wo nicht verbeſſre,
doch ſich mehre?
Bey unſrer Einfalt ſcheint es meiſtens, als ob es nicht un-
moͤglich waͤre.


Ver-
T 4
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[295/0311] Vermuthliche Beſchaffenheit der Seelen. Vermuthliche Beſchaffenheit der Seelen. Unwiederſprechlich iſt es ja, daß wir aus Seel’ und Leib beſtehen; Der Leib aus immer neuen Theilen; die Seele zeuget ſtets Jdeen. Wie nun der Leib von ſeinem Weſen durch Ausdunſt im- mer was verliehrt, Die Theilchen aber nicht vergehen, verweſen oder ſich zerreiben, Und ſtets dem allgemeinen Stoff ſich, ſo zu reden, einver- leiben; So ſcheinet auch, daß unſre Seele beſtaͤndig einen Abgang ſpuͤhrt, Durch ihrer Kinder, der Gedancken, verfliegende Ver- geſſenheit, Die doch kein voͤlliger Beweis von voͤlliger Vergaͤnglichkeit; Allein es duͤncket mich, ob hier mit Recht nicht dieſe Frag’ entſtehe? Ob nicht der allgemeine Stoff durch Kleinheit der Materie, Die immer feiner zu ihm flieſſet, in ſich ſich nicht verbeſſere? Jmgleichen, ob auf gleiche Weiſe in der Natur das Geiſtige Sich, durch entſtandene Gedancken (von welchen, daß ſie nicht vergehen Und wir ſie zu erhalten faͤhig, in Schriften wir ein Bey- ſpiel ſehen) Auch, durch derſelben ſteten Zufluß, wo nicht verbeſſre, doch ſich mehre? Bey unſrer Einfalt ſcheint es meiſtens, als ob es nicht un- moͤglich waͤre. Ver- T 4

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Zitationshilfe: Brockes, Barthold Heinrich: Jrdisches Vergnügen in Gott. Bd. 5. Hamburg, 1736, S. 295. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen05_1736/311>, abgerufen am 22.11.2024.