Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brockes, Barthold Heinrich: Jrdisches Vergnügen in Gott. Bd. 5. Hamburg, 1736.

Bild:
<< vorherige Seite
Nothwendigkeit die gegenwärtige Zeit, etc.
Allein, wie fängt man es denn an, von diesem Unglück zu
genesen,
Das alles Unglücks Urqvell ist? Es macht uns die Gewohn-
heit blind
Und taub und fühl-los. Unser Geist, als der von einem
regen Wesen,
Kann gantz unmöglich müßig seyn. Die feurigen Begierden
sind
Dadurch bey uns gleich wilden Pferden, die nimmer stille
stehen können,
Den Ort, woselbst sie sind, nicht achten und stets nach
fernem Ziele rennen;
Ja durch die allerschönsten Wiesen, ohn' alles, was aus
ihnen schön,
Ergetz- und nützlich zu geniessen, zu sehen, immer weiter
gehn.
Wir schieben den Genuß von allem, was wir besitzen, im-
mer auf,
Und gleichen Geitzigen, die scharren in ihrem gantzen Le-
bens-Lauf,
Biß an den Tod, um sich so dann an ihren eingeschlossnen
Schätzen
Den Rest des Lebens zu ergetzen.
Wann wir bey diesem Zustand nun die Flüchtigkeit der
Zeit betrachten,
Und, bey derselben schnellen Flucht, auf unsre kurtze Dauer
achten,
Erwegen, was wir einst geschrieben: Wir scheinen fast
in unserm Leben
Mit einem stetem Nichts umgeben;
Er-
Nothwendigkeit die gegenwaͤrtige Zeit, ꝛc.
Allein, wie faͤngt man es denn an, von dieſem Ungluͤck zu
geneſen,
Das alles Ungluͤcks Urqvell iſt? Es macht uns die Gewohn-
heit blind
Und taub und fuͤhl-los. Unſer Geiſt, als der von einem
regen Weſen,
Kann gantz unmoͤglich muͤßig ſeyn. Die feurigen Begierden
ſind
Dadurch bey uns gleich wilden Pferden, die nimmer ſtille
ſtehen koͤnnen,
Den Ort, woſelbſt ſie ſind, nicht achten und ſtets nach
fernem Ziele rennen;
Ja durch die allerſchoͤnſten Wieſen, ohn’ alles, was aus
ihnen ſchoͤn,
Ergetz- und nuͤtzlich zu genieſſen, zu ſehen, immer weiter
gehn.
Wir ſchieben den Genuß von allem, was wir beſitzen, im-
mer auf,
Und gleichen Geitzigen, die ſcharren in ihrem gantzen Le-
bens-Lauf,
Biß an den Tod, um ſich ſo dann an ihren eingeſchloſſnen
Schaͤtzen
Den Reſt des Lebens zu ergetzen.
Wann wir bey dieſem Zuſtand nun die Fluͤchtigkeit der
Zeit betrachten,
Und, bey derſelben ſchnellen Flucht, auf unſre kurtze Dauer
achten,
Erwegen, was wir einſt geſchrieben: Wir ſcheinen faſt
in unſerm Leben
Mit einem ſtetem Nichts umgeben;
Er-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0250" n="234"/>
        <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">Nothwendigkeit die gegenwa&#x0364;rtige Zeit, &#xA75B;c.</hi> </fw><lb/>
        <lg type="poem">
          <l>Allein, wie fa&#x0364;ngt man es denn an, von die&#x017F;em Unglu&#x0364;ck zu</l><lb/>
          <l> <hi rendition="#et">gene&#x017F;en,</hi> </l><lb/>
          <l>Das alles Unglu&#x0364;cks Urqvell i&#x017F;t? Es macht uns die Gewohn-</l><lb/>
          <l> <hi rendition="#et">heit blind</hi> </l><lb/>
          <l>Und taub und fu&#x0364;hl-los. Un&#x017F;er Gei&#x017F;t, als der von einem</l><lb/>
          <l> <hi rendition="#et">regen We&#x017F;en,</hi> </l><lb/>
          <l>Kann gantz unmo&#x0364;glich mu&#x0364;ßig &#x017F;eyn. Die feurigen Begierden</l><lb/>
          <l> <hi rendition="#et">&#x017F;ind</hi> </l><lb/>
          <l>Dadurch bey uns gleich wilden Pferden, die nimmer &#x017F;tille</l><lb/>
          <l> <hi rendition="#et">&#x017F;tehen ko&#x0364;nnen,</hi> </l><lb/>
          <l>Den Ort, wo&#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;ie &#x017F;ind, nicht achten und &#x017F;tets nach</l><lb/>
          <l> <hi rendition="#et">fernem Ziele rennen;</hi> </l><lb/>
          <l>Ja durch die aller&#x017F;cho&#x0364;n&#x017F;ten Wie&#x017F;en, ohn&#x2019; alles, was aus</l><lb/>
          <l> <hi rendition="#et">ihnen &#x017F;cho&#x0364;n,</hi> </l><lb/>
          <l>Ergetz- und nu&#x0364;tzlich zu genie&#x017F;&#x017F;en, zu &#x017F;ehen, immer weiter</l><lb/>
          <l> <hi rendition="#et">gehn.</hi> </l><lb/>
          <l>Wir &#x017F;chieben den Genuß von allem, was wir be&#x017F;itzen, im-</l><lb/>
          <l> <hi rendition="#et">mer auf,</hi> </l><lb/>
          <l>Und gleichen Geitzigen, die &#x017F;charren in ihrem gantzen Le-</l><lb/>
          <l> <hi rendition="#et">bens-Lauf,</hi> </l><lb/>
          <l>Biß an den Tod, um &#x017F;ich &#x017F;o dann an ihren einge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;nen</l><lb/>
          <l> <hi rendition="#et">Scha&#x0364;tzen</hi> </l><lb/>
          <l>Den Re&#x017F;t des Lebens zu ergetzen.</l><lb/>
          <l>Wann wir bey die&#x017F;em Zu&#x017F;tand nun die Flu&#x0364;chtigkeit der</l><lb/>
          <l> <hi rendition="#et">Zeit betrachten,</hi> </l><lb/>
          <l>Und, bey der&#x017F;elben &#x017F;chnellen Flucht, auf un&#x017F;re kurtze Dauer</l><lb/>
          <l> <hi rendition="#et">achten,</hi> </l><lb/>
          <l>Erwegen, was wir ein&#x017F;t ge&#x017F;chrieben: Wir &#x017F;cheinen fa&#x017F;t</l><lb/>
          <l> <hi rendition="#et">in un&#x017F;erm Leben</hi> </l><lb/>
          <l>Mit einem &#x017F;tetem Nichts umgeben;</l>
        </lg><lb/>
        <fw place="bottom" type="catch">Er-</fw><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[234/0250] Nothwendigkeit die gegenwaͤrtige Zeit, ꝛc. Allein, wie faͤngt man es denn an, von dieſem Ungluͤck zu geneſen, Das alles Ungluͤcks Urqvell iſt? Es macht uns die Gewohn- heit blind Und taub und fuͤhl-los. Unſer Geiſt, als der von einem regen Weſen, Kann gantz unmoͤglich muͤßig ſeyn. Die feurigen Begierden ſind Dadurch bey uns gleich wilden Pferden, die nimmer ſtille ſtehen koͤnnen, Den Ort, woſelbſt ſie ſind, nicht achten und ſtets nach fernem Ziele rennen; Ja durch die allerſchoͤnſten Wieſen, ohn’ alles, was aus ihnen ſchoͤn, Ergetz- und nuͤtzlich zu genieſſen, zu ſehen, immer weiter gehn. Wir ſchieben den Genuß von allem, was wir beſitzen, im- mer auf, Und gleichen Geitzigen, die ſcharren in ihrem gantzen Le- bens-Lauf, Biß an den Tod, um ſich ſo dann an ihren eingeſchloſſnen Schaͤtzen Den Reſt des Lebens zu ergetzen. Wann wir bey dieſem Zuſtand nun die Fluͤchtigkeit der Zeit betrachten, Und, bey derſelben ſchnellen Flucht, auf unſre kurtze Dauer achten, Erwegen, was wir einſt geſchrieben: Wir ſcheinen faſt in unſerm Leben Mit einem ſtetem Nichts umgeben; Er-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen05_1736
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen05_1736/250
Zitationshilfe: Brockes, Barthold Heinrich: Jrdisches Vergnügen in Gott. Bd. 5. Hamburg, 1736, S. 234. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brockes_vergnuegen05_1736/250>, abgerufen am 04.05.2024.