auf den Kasten, dann aber drehte ich den Ring Salomonis gar flehentlich am Finger:
"Salomo du weiser König, Dem die Geister unterthänig, Bring doch all den Weizen wieder, Der da auf den Weg fiel nieder Und von Vogeln ward gefressen, Und von Füßen ward zertreten, All den Weizen ungemessen, Den sie auf das Steinfeld säeten, Wo, so schnell er aufgeblüht, In der Sonne er verglüht, Bring zurück die Weizenkörner, Die erstickten durch die Dörner; Was in guten Grund gefallen, Laße fruchtend überwallen, Daß der Weizen dreißigfältig, Sechzigfältig, hundertfältig Alles Unkraut überwältig', Das der Feind hineingesäet. Schnell, o schnell, es ist schon spät! Ringlein, Ringlein dreh dich um, Fruchte schnell, ich bitt' dich drum."
Kaum hatte ich den Ring drehend, diesen Wunsch aus¬ gesprochen, und mitleidig nach dem Knaben hingeschaut, als ich etwas gar Rührendes sah. Er blickte mich, ohne den Kopf zu heben, mit stillem Danke an, Thränenströme ran¬ nen von seinen Augen auf die Garbe unter seinem Haupte nieder, und alle die Thränen waren Weizenkörnlein, und die Garbe wuchs und mehrte sich; und als ob sie mit dem Kna¬ ben weine, gossen sich aus ihren Aehren hundertfältige Wei¬ zenkörnlein nieder und aus allen Blättern des Buches ran¬ nen Fruchtkörner heraus, und mein Herz war so bewegt, daß auch ich auf einer Garbe sitzend gar reich und mildig¬ lich weinte, und Verena, die neben mir betend kniete, weinte auch und alle unsre Thränen waren Weizenkörner, und sie
auf den Kaſten, dann aber drehte ich den Ring Salomonis gar flehentlich am Finger:
„Salomo du weiſer Koͤnig, Dem die Geiſter unterthaͤnig, Bring doch all den Weizen wieder, Der da auf den Weg fiel nieder Und von Vogeln ward gefreſſen, Und von Fuͤßen ward zertreten, All den Weizen ungemeſſen, Den ſie auf das Steinfeld ſaͤeten, Wo, ſo ſchnell er aufgebluͤht, In der Sonne er vergluͤht, Bring zuruͤck die Weizenkoͤrner, Die erſtickten durch die Doͤrner; Was in guten Grund gefallen, Laße fruchtend uͤberwallen, Daß der Weizen dreißigfaͤltig, Sechzigfaͤltig, hundertfaͤltig Alles Unkraut uͤberwaͤltig', Das der Feind hineingeſaͤet. Schnell, o ſchnell, es iſt ſchon ſpaͤt! Ringlein, Ringlein dreh dich um, Fruchte ſchnell, ich bitt' dich drum.“
Kaum hatte ich den Ring drehend, dieſen Wunſch aus¬ geſprochen, und mitleidig nach dem Knaben hingeſchaut, als ich etwas gar Ruͤhrendes ſah. Er blickte mich, ohne den Kopf zu heben, mit ſtillem Danke an, Thraͤnenſtroͤme ran¬ nen von ſeinen Augen auf die Garbe unter ſeinem Haupte nieder, und alle die Thraͤnen waren Weizenkoͤrnlein, und die Garbe wuchs und mehrte ſich; und als ob ſie mit dem Kna¬ ben weine, goſſen ſich aus ihren Aehren hundertfaͤltige Wei¬ zenkoͤrnlein nieder und aus allen Blaͤttern des Buches ran¬ nen Fruchtkoͤrner heraus, und mein Herz war ſo bewegt, daß auch ich auf einer Garbe ſitzend gar reich und mildig¬ lich weinte, und Verena, die neben mir betend kniete, weinte auch und alle unſre Thraͤnen waren Weizenkoͤrner, und ſie
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0389"n="333"/>
auf den Kaſten, dann aber drehte ich den Ring Salomonis<lb/>
gar flehentlich am Finger:</p><lb/><lgtype="poem"><l>„Salomo du weiſer Koͤnig,</l><lb/><l>Dem die Geiſter unterthaͤnig,</l><lb/><l>Bring doch all den Weizen wieder,</l><lb/><l>Der da auf den Weg fiel nieder</l><lb/><l>Und von Vogeln ward gefreſſen,</l><lb/><l>Und von Fuͤßen ward zertreten,</l><lb/><l>All den Weizen ungemeſſen,</l><lb/><l>Den ſie auf das Steinfeld ſaͤeten,</l><lb/><l>Wo, ſo ſchnell er aufgebluͤht,</l><lb/><l>In der Sonne er vergluͤht,</l><lb/><l>Bring zuruͤck die Weizenkoͤrner,</l><lb/><l>Die erſtickten durch die Doͤrner;</l><lb/><l>Was in guten Grund gefallen,</l><lb/><l>Laße fruchtend uͤberwallen,</l><lb/><l>Daß der Weizen dreißigfaͤltig,</l><lb/><l>Sechzigfaͤltig, hundertfaͤltig</l><lb/><l>Alles Unkraut uͤberwaͤltig',</l><lb/><l>Das der Feind hineingeſaͤet.</l><lb/><l>Schnell, o ſchnell, es iſt ſchon ſpaͤt!</l><lb/><l>Ringlein, Ringlein dreh dich um,</l><lb/><l>Fruchte ſchnell, ich bitt' dich drum.“</l><lb/></lg><p>Kaum hatte ich den Ring drehend, dieſen Wunſch aus¬<lb/>
geſprochen, und mitleidig nach dem Knaben hingeſchaut, als<lb/>
ich etwas gar Ruͤhrendes ſah. Er blickte mich, ohne den<lb/>
Kopf zu heben, mit ſtillem Danke an, Thraͤnenſtroͤme ran¬<lb/>
nen von ſeinen Augen auf die Garbe unter ſeinem Haupte<lb/>
nieder, und alle die Thraͤnen waren Weizenkoͤrnlein, und die<lb/>
Garbe wuchs und mehrte ſich; und als ob ſie mit dem Kna¬<lb/>
ben weine, goſſen ſich aus ihren Aehren hundertfaͤltige Wei¬<lb/>
zenkoͤrnlein nieder und aus allen Blaͤttern des Buches ran¬<lb/>
nen Fruchtkoͤrner heraus, und mein Herz war ſo bewegt,<lb/>
daß auch ich auf einer Garbe ſitzend gar reich und mildig¬<lb/>
lich weinte, und Verena, die neben mir betend kniete, weinte<lb/>
auch und alle unſre Thraͤnen waren Weizenkoͤrner, und ſie<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[333/0389]
auf den Kaſten, dann aber drehte ich den Ring Salomonis
gar flehentlich am Finger:
„Salomo du weiſer Koͤnig,
Dem die Geiſter unterthaͤnig,
Bring doch all den Weizen wieder,
Der da auf den Weg fiel nieder
Und von Vogeln ward gefreſſen,
Und von Fuͤßen ward zertreten,
All den Weizen ungemeſſen,
Den ſie auf das Steinfeld ſaͤeten,
Wo, ſo ſchnell er aufgebluͤht,
In der Sonne er vergluͤht,
Bring zuruͤck die Weizenkoͤrner,
Die erſtickten durch die Doͤrner;
Was in guten Grund gefallen,
Laße fruchtend uͤberwallen,
Daß der Weizen dreißigfaͤltig,
Sechzigfaͤltig, hundertfaͤltig
Alles Unkraut uͤberwaͤltig',
Das der Feind hineingeſaͤet.
Schnell, o ſchnell, es iſt ſchon ſpaͤt!
Ringlein, Ringlein dreh dich um,
Fruchte ſchnell, ich bitt' dich drum.“
Kaum hatte ich den Ring drehend, dieſen Wunſch aus¬
geſprochen, und mitleidig nach dem Knaben hingeſchaut, als
ich etwas gar Ruͤhrendes ſah. Er blickte mich, ohne den
Kopf zu heben, mit ſtillem Danke an, Thraͤnenſtroͤme ran¬
nen von ſeinen Augen auf die Garbe unter ſeinem Haupte
nieder, und alle die Thraͤnen waren Weizenkoͤrnlein, und die
Garbe wuchs und mehrte ſich; und als ob ſie mit dem Kna¬
ben weine, goſſen ſich aus ihren Aehren hundertfaͤltige Wei¬
zenkoͤrnlein nieder und aus allen Blaͤttern des Buches ran¬
nen Fruchtkoͤrner heraus, und mein Herz war ſo bewegt,
daß auch ich auf einer Garbe ſitzend gar reich und mildig¬
lich weinte, und Verena, die neben mir betend kniete, weinte
auch und alle unſre Thraͤnen waren Weizenkoͤrner, und ſie
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Brentano, Clemens: Gockel, Hinkel und Gackeleia. Frankfurt, 1838, S. 333. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brentano_gockel_1838/389>, abgerufen am 17.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.