Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brentano, Clemens: Gockel, Hinkel und Gackeleia. Frankfurt, 1838.

Bild:
<< vorherige Seite

gur nach, die einen guten Vorsprung hatte. Da wir aber in
den dichten Wald kamen, hinderten sie öfter Gras und Ge¬
sträuch im Lauf, und ich war ihr endlich so nah, daß ich
die Hand ausstreckte, sie zu ergreifen, aber in demselben
Augenblick entschlüpfte sie zwischen zwei Felsstücken in eine
kleine Höhle. -- Ich war in der größten Betrübniß, ich
konnte ihr nicht nach; ich kniete vor der Oeffnung nieder und
rief zu ihr hinein: "Klandestinchen, Klandestinchen! wie
handelst du so undankbar gegen mich, ich habe dich so lieb,
so lieb, daß ich lieber die schimpflichste Strafe über mich
ergehen ließ, als dich zu verlassen, und jetzt versteckst du
dich vor mir, als wenn ich deine ärgste Feindin wäre."

"Als ich diese Worte gesprochen hatte, fiel mir auch
erst ein, wie sehr weit ich von Euch, liebe Aeltern, fortge¬
laufen war; ich sah die Sonne bereits sinken und war außer
allem Weg und Steg. Weinend schrie ich in den Wald
hinein: "Vater Gockel, Mutter Hinkel!" aber Alles war
vergebens, nur das Echo antwortete mir. Dann fiel mir
ein, daß jetzt die Stunde sey, wo der alte Mann gesagt,
daß die Puppe etwas müsse zu knuppern haben; ich holte
etwas Zuckerbrod aus meinem Körbchen und legte es auf
ein reines Blatt vor die kleine Höhle und füllte meinen Fin¬
gerhut in einem nahen Quell und stellte ihn aufrecht in den
feuchten Sand gedrückt darneben, dann rief ich in das Höhl¬
chen hinein: "Klandestinchen, wenn's gefällig ist, es ist ser¬
virt." -- Ich dachte, der Alte hat von ihrem guten Appetit
gesprochen, sie hat Bewegung genug gehabt, es sollte ihr wohl
schmecken, wenn sie merkt, daß aufgetragen ist. Ich selbst hatte
Hunger, und nahm ein Stück hartes Brod aus meinem Bettel¬
sack, tauchte es ins Wasser und aß in einiger Entfernung, weil
ich gehört hatte, daß sie sich nicht gern beim Essen zusehen
lasse. -- Ach ich war so müd, so müd, Hände und Füße zuck¬
ten mir, ich lag im Gras, der Schlaf krabbelte mir den
Rücken herauf und machte mir die Augendeckelchen zu, denn

gur nach, die einen guten Vorſprung hatte. Da wir aber in
den dichten Wald kamen, hinderten ſie oͤfter Gras und Ge¬
ſtraͤuch im Lauf, und ich war ihr endlich ſo nah, daß ich
die Hand ausſtreckte, ſie zu ergreifen, aber in demſelben
Augenblick entſchluͤpfte ſie zwiſchen zwei Felsſtuͤcken in eine
kleine Hoͤhle. — Ich war in der groͤßten Betruͤbniß, ich
konnte ihr nicht nach; ich kniete vor der Oeffnung nieder und
rief zu ihr hinein: „Klandeſtinchen, Klandeſtinchen! wie
handelſt du ſo undankbar gegen mich, ich habe dich ſo lieb,
ſo lieb, daß ich lieber die ſchimpflichſte Strafe uͤber mich
ergehen ließ, als dich zu verlaſſen, und jetzt verſteckſt du
dich vor mir, als wenn ich deine aͤrgſte Feindin waͤre.“

„Als ich dieſe Worte geſprochen hatte, fiel mir auch
erſt ein, wie ſehr weit ich von Euch, liebe Aeltern, fortge¬
laufen war; ich ſah die Sonne bereits ſinken und war außer
allem Weg und Steg. Weinend ſchrie ich in den Wald
hinein: „Vater Gockel, Mutter Hinkel!“ aber Alles war
vergebens, nur das Echo antwortete mir. Dann fiel mir
ein, daß jetzt die Stunde ſey, wo der alte Mann geſagt,
daß die Puppe etwas muͤſſe zu knuppern haben; ich holte
etwas Zuckerbrod aus meinem Koͤrbchen und legte es auf
ein reines Blatt vor die kleine Hoͤhle und fuͤllte meinen Fin¬
gerhut in einem nahen Quell und ſtellte ihn aufrecht in den
feuchten Sand gedruͤckt darneben, dann rief ich in das Hoͤhl¬
chen hinein: „Klandeſtinchen, wenn's gefaͤllig iſt, es iſt ſer¬
virt.“ — Ich dachte, der Alte hat von ihrem guten Appetit
geſprochen, ſie hat Bewegung genug gehabt, es ſollte ihr wohl
ſchmecken, wenn ſie merkt, daß aufgetragen iſt. Ich ſelbſt hatte
Hunger, und nahm ein Stuͤck hartes Brod aus meinem Bettel¬
ſack, tauchte es ins Waſſer und aß in einiger Entfernung, weil
ich gehoͤrt hatte, daß ſie ſich nicht gern beim Eſſen zuſehen
laſſe. — Ach ich war ſo muͤd, ſo muͤd, Haͤnde und Fuͤße zuck¬
ten mir, ich lag im Gras, der Schlaf krabbelte mir den
Ruͤcken herauf und machte mir die Augendeckelchen zu, denn

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0189" n="143"/>
gur nach, die einen guten Vor&#x017F;prung hatte. Da wir aber in<lb/>
den dichten Wald kamen, hinderten &#x017F;ie o&#x0364;fter Gras und Ge¬<lb/>
&#x017F;tra&#x0364;uch im Lauf, und ich war ihr endlich &#x017F;o nah, daß ich<lb/>
die Hand aus&#x017F;treckte, &#x017F;ie zu ergreifen, aber in dem&#x017F;elben<lb/>
Augenblick ent&#x017F;chlu&#x0364;pfte &#x017F;ie zwi&#x017F;chen zwei Fels&#x017F;tu&#x0364;cken in eine<lb/>
kleine Ho&#x0364;hle. &#x2014; Ich war in der gro&#x0364;ßten Betru&#x0364;bniß, ich<lb/>
konnte ihr nicht nach; ich kniete vor der Oeffnung nieder und<lb/>
rief zu ihr hinein: &#x201E;Klande&#x017F;tinchen, Klande&#x017F;tinchen! wie<lb/>
handel&#x017F;t du &#x017F;o undankbar gegen mich, ich habe dich &#x017F;o lieb,<lb/>
&#x017F;o lieb, daß ich lieber die &#x017F;chimpflich&#x017F;te Strafe u&#x0364;ber mich<lb/>
ergehen ließ, als dich zu verla&#x017F;&#x017F;en, und jetzt ver&#x017F;teck&#x017F;t du<lb/>
dich vor mir, als wenn ich deine a&#x0364;rg&#x017F;te Feindin wa&#x0364;re.&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Als ich die&#x017F;e Worte ge&#x017F;prochen hatte, fiel mir auch<lb/>
er&#x017F;t ein, wie &#x017F;ehr weit ich von Euch, liebe Aeltern, fortge¬<lb/>
laufen war; ich &#x017F;ah die Sonne bereits &#x017F;inken und war außer<lb/>
allem Weg und Steg. Weinend &#x017F;chrie ich in den Wald<lb/>
hinein: &#x201E;Vater Gockel, Mutter Hinkel!&#x201C; aber Alles war<lb/>
vergebens, nur das Echo antwortete mir. Dann fiel mir<lb/>
ein, daß jetzt die Stunde &#x017F;ey, wo der alte Mann ge&#x017F;agt,<lb/>
daß die Puppe etwas mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e zu knuppern haben; ich holte<lb/>
etwas Zuckerbrod aus meinem Ko&#x0364;rbchen und legte es auf<lb/>
ein reines Blatt vor die kleine Ho&#x0364;hle und fu&#x0364;llte meinen Fin¬<lb/>
gerhut in einem nahen Quell und &#x017F;tellte ihn aufrecht in den<lb/>
feuchten Sand gedru&#x0364;ckt darneben, dann rief ich in das Ho&#x0364;hl¬<lb/>
chen hinein: &#x201E;Klande&#x017F;tinchen, wenn's gefa&#x0364;llig i&#x017F;t, es i&#x017F;t &#x017F;er¬<lb/>
virt.&#x201C; &#x2014; Ich dachte, der Alte hat von ihrem guten Appetit<lb/>
ge&#x017F;prochen, &#x017F;ie hat Bewegung genug gehabt, es &#x017F;ollte ihr wohl<lb/>
&#x017F;chmecken, wenn &#x017F;ie merkt, daß aufgetragen i&#x017F;t. Ich &#x017F;elb&#x017F;t hatte<lb/>
Hunger, und nahm ein Stu&#x0364;ck hartes Brod aus meinem Bettel¬<lb/>
&#x017F;ack, tauchte es ins Wa&#x017F;&#x017F;er und aß in einiger Entfernung, weil<lb/>
ich geho&#x0364;rt hatte, daß &#x017F;ie &#x017F;ich nicht gern beim E&#x017F;&#x017F;en zu&#x017F;ehen<lb/>
la&#x017F;&#x017F;e. &#x2014; Ach ich war &#x017F;o mu&#x0364;d, &#x017F;o mu&#x0364;d, Ha&#x0364;nde und Fu&#x0364;ße zuck¬<lb/>
ten mir, ich lag im Gras, der Schlaf krabbelte mir den<lb/>
Ru&#x0364;cken herauf und machte mir die Augendeckelchen zu, denn<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[143/0189] gur nach, die einen guten Vorſprung hatte. Da wir aber in den dichten Wald kamen, hinderten ſie oͤfter Gras und Ge¬ ſtraͤuch im Lauf, und ich war ihr endlich ſo nah, daß ich die Hand ausſtreckte, ſie zu ergreifen, aber in demſelben Augenblick entſchluͤpfte ſie zwiſchen zwei Felsſtuͤcken in eine kleine Hoͤhle. — Ich war in der groͤßten Betruͤbniß, ich konnte ihr nicht nach; ich kniete vor der Oeffnung nieder und rief zu ihr hinein: „Klandeſtinchen, Klandeſtinchen! wie handelſt du ſo undankbar gegen mich, ich habe dich ſo lieb, ſo lieb, daß ich lieber die ſchimpflichſte Strafe uͤber mich ergehen ließ, als dich zu verlaſſen, und jetzt verſteckſt du dich vor mir, als wenn ich deine aͤrgſte Feindin waͤre.“ „Als ich dieſe Worte geſprochen hatte, fiel mir auch erſt ein, wie ſehr weit ich von Euch, liebe Aeltern, fortge¬ laufen war; ich ſah die Sonne bereits ſinken und war außer allem Weg und Steg. Weinend ſchrie ich in den Wald hinein: „Vater Gockel, Mutter Hinkel!“ aber Alles war vergebens, nur das Echo antwortete mir. Dann fiel mir ein, daß jetzt die Stunde ſey, wo der alte Mann geſagt, daß die Puppe etwas muͤſſe zu knuppern haben; ich holte etwas Zuckerbrod aus meinem Koͤrbchen und legte es auf ein reines Blatt vor die kleine Hoͤhle und fuͤllte meinen Fin¬ gerhut in einem nahen Quell und ſtellte ihn aufrecht in den feuchten Sand gedruͤckt darneben, dann rief ich in das Hoͤhl¬ chen hinein: „Klandeſtinchen, wenn's gefaͤllig iſt, es iſt ſer¬ virt.“ — Ich dachte, der Alte hat von ihrem guten Appetit geſprochen, ſie hat Bewegung genug gehabt, es ſollte ihr wohl ſchmecken, wenn ſie merkt, daß aufgetragen iſt. Ich ſelbſt hatte Hunger, und nahm ein Stuͤck hartes Brod aus meinem Bettel¬ ſack, tauchte es ins Waſſer und aß in einiger Entfernung, weil ich gehoͤrt hatte, daß ſie ſich nicht gern beim Eſſen zuſehen laſſe. — Ach ich war ſo muͤd, ſo muͤd, Haͤnde und Fuͤße zuck¬ ten mir, ich lag im Gras, der Schlaf krabbelte mir den Ruͤcken herauf und machte mir die Augendeckelchen zu, denn

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brentano_gockel_1838
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brentano_gockel_1838/189
Zitationshilfe: Brentano, Clemens: Gockel, Hinkel und Gackeleia. Frankfurt, 1838, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brentano_gockel_1838/189>, abgerufen am 19.04.2024.