Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brentano, Clemens: Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. [107]–162. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

Bild:
<< vorherige Seite

meint. Aber man soll keinen guten Willen von sich weisen, wenn er Einem auch gerade nicht Noth thut, sonst möchte der liebe Freund ausbleiben, wenn er ein andermal gar willkommen wäre; bleibe Er drum immer sitzen und sehe Er, was Er mir helfen kann. Ich will Ihm erzählen, was mich in die Stadt den weiten Weg hertreibt. Ich hätt' es nicht gedacht, wieder hieher zu kommen. Es sind siebzig Jahre, daß ich hier im Hause als Magd gedient habe, auf dessen Schwelle ich sitze, seitdem war ich nicht mehr in der Stadt; was die Zeit herumgeht! Es ist, als wenn man eine Hand umwendet. Wie oft habe ich hier am Abend gesessen vor siebzig Jahren und habe auf meinen Schatz gewartet, der bei der Garde stand. Hier haben wir uns auch versprochen. Wenn er hier -- aber still, da kömmt die Runde vorbei.

Da hob sie an mit gemäßigter Stimme, wie etwa junge Mägde und Diener in schönen Mondnächten, vor der Thüre zu singen, und ich hörte mit innigem Vergnügen folgendes schöne alte Lied von ihr:

"Wann der jüngste Tag wird werden,
Dann fallen die Sternelein auf die Erden.
Ihr Todten, ihr Todten sollt auferstehn,
Ihr sollt vor das jüngste Gerichte gehn;
Ihr sollt treten auf die Spitzen,
Da die lieben Engelein sitzen.
Da kam der liebe Gott gezogen
Mit einem schönen Regenbogen.

meint. Aber man soll keinen guten Willen von sich weisen, wenn er Einem auch gerade nicht Noth thut, sonst möchte der liebe Freund ausbleiben, wenn er ein andermal gar willkommen wäre; bleibe Er drum immer sitzen und sehe Er, was Er mir helfen kann. Ich will Ihm erzählen, was mich in die Stadt den weiten Weg hertreibt. Ich hätt' es nicht gedacht, wieder hieher zu kommen. Es sind siebzig Jahre, daß ich hier im Hause als Magd gedient habe, auf dessen Schwelle ich sitze, seitdem war ich nicht mehr in der Stadt; was die Zeit herumgeht! Es ist, als wenn man eine Hand umwendet. Wie oft habe ich hier am Abend gesessen vor siebzig Jahren und habe auf meinen Schatz gewartet, der bei der Garde stand. Hier haben wir uns auch versprochen. Wenn er hier — aber still, da kömmt die Runde vorbei.

Da hob sie an mit gemäßigter Stimme, wie etwa junge Mägde und Diener in schönen Mondnächten, vor der Thüre zu singen, und ich hörte mit innigem Vergnügen folgendes schöne alte Lied von ihr:

„Wann der jüngste Tag wird werden,
Dann fallen die Sternelein auf die Erden.
Ihr Todten, ihr Todten sollt auferstehn,
Ihr sollt vor das jüngste Gerichte gehn;
Ihr sollt treten auf die Spitzen,
Da die lieben Engelein sitzen.
Da kam der liebe Gott gezogen
Mit einem schönen Regenbogen.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0014"/>
meint. Aber man soll keinen guten Willen von sich weisen, wenn er                Einem auch gerade nicht Noth thut, sonst möchte der liebe Freund ausbleiben, wenn er                ein andermal gar willkommen wäre; bleibe Er drum immer sitzen und sehe Er, was Er mir                helfen kann. Ich will Ihm erzählen, was mich in die Stadt den weiten Weg hertreibt.                Ich hätt' es nicht gedacht, wieder hieher zu kommen. Es sind siebzig Jahre, daß ich                hier im Hause als Magd gedient habe, auf dessen Schwelle ich sitze, seitdem war ich                nicht mehr in der Stadt; was die Zeit herumgeht! Es ist, als wenn man eine Hand                umwendet. Wie oft habe ich hier am Abend gesessen vor siebzig Jahren und habe auf                meinen Schatz gewartet, der bei der Garde stand. Hier haben wir uns auch versprochen.                Wenn er hier &#x2014; aber still, da kömmt die Runde vorbei.</p><lb/>
        <p>Da hob sie an mit gemäßigter Stimme, wie etwa junge Mägde und Diener in schönen                Mondnächten, vor der Thüre zu singen, und ich hörte mit innigem Vergnügen folgendes                schöne alte Lied von ihr:</p><lb/>
        <lg type="poem">
          <l>&#x201E;Wann der jüngste Tag wird werden,</l><lb/>
          <l>Dann fallen die Sternelein auf die Erden.</l><lb/>
          <l>Ihr Todten, ihr Todten sollt auferstehn,</l><lb/>
          <l>Ihr sollt vor das jüngste Gerichte gehn;</l><lb/>
          <l>Ihr sollt treten auf die Spitzen,</l><lb/>
          <l>Da die lieben Engelein sitzen.</l><lb/>
          <l>Da kam der liebe Gott gezogen</l><lb/>
          <l>Mit einem schönen Regenbogen.</l><lb/>
        </lg>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0014] meint. Aber man soll keinen guten Willen von sich weisen, wenn er Einem auch gerade nicht Noth thut, sonst möchte der liebe Freund ausbleiben, wenn er ein andermal gar willkommen wäre; bleibe Er drum immer sitzen und sehe Er, was Er mir helfen kann. Ich will Ihm erzählen, was mich in die Stadt den weiten Weg hertreibt. Ich hätt' es nicht gedacht, wieder hieher zu kommen. Es sind siebzig Jahre, daß ich hier im Hause als Magd gedient habe, auf dessen Schwelle ich sitze, seitdem war ich nicht mehr in der Stadt; was die Zeit herumgeht! Es ist, als wenn man eine Hand umwendet. Wie oft habe ich hier am Abend gesessen vor siebzig Jahren und habe auf meinen Schatz gewartet, der bei der Garde stand. Hier haben wir uns auch versprochen. Wenn er hier — aber still, da kömmt die Runde vorbei. Da hob sie an mit gemäßigter Stimme, wie etwa junge Mägde und Diener in schönen Mondnächten, vor der Thüre zu singen, und ich hörte mit innigem Vergnügen folgendes schöne alte Lied von ihr: „Wann der jüngste Tag wird werden, Dann fallen die Sternelein auf die Erden. Ihr Todten, ihr Todten sollt auferstehn, Ihr sollt vor das jüngste Gerichte gehn; Ihr sollt treten auf die Spitzen, Da die lieben Engelein sitzen. Da kam der liebe Gott gezogen Mit einem schönen Regenbogen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-14T13:27:19Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-14T13:27:19Z)

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: nein; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brentano_annerl_1910
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brentano_annerl_1910/14
Zitationshilfe: Brentano, Clemens: Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 1. München, [1871], S. [107]–162. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brentano_annerl_1910/14>, abgerufen am 21.11.2024.