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Breitscheid, Tony: Die Notwendigkeit der Forderung des allgemeinen, gleichen, direkten, geheimen Wahlrechts (= Schriften des Preußischen Landesvereins für Frauenstimmrecht, Bd. 4). Berlin, 1909.

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Mängel des Dreiklassenwahlsystems gesehen, wie sehr die Frauen
durch eine solche Bestimmung geschädigt würden. Es ist aber auch
eine Ungerechtigkeit, wie man sie schlimmer kaum ausdenken kann,
Leuten, die ohnehin schon in einer günstigeren Lage sind als die
Angehörigen der minder bemittelten Schichten der Bevölkerung, das
Proletariat und die kleinen Bürger, nun noch größere politische Rechte
zuzugestehen und dadurch ihren Einfluß zu verstärken.

Jn der Forderung einer weiteren Stimme für diejenigen, die
eine höhere Schule durchgemacht haben, liegt aber außer der Be-
nachteiligung der unteren Stände noch eine besondere der Frau, selbst
für die Frauen der wohlhabenden Kreise. Das gesamte Mädchen-
schulwesen wird doch heute zu dem niederen Unterrichtswesen gerechnet.
Und wieviel Frauen absolvieren denn heute in Preußen das Abiturienten-
oder gar das Staatsexamen? Das sind doch verhältnismäßig wenige,
in der Hauptsache die Lehrerinnen und Aerztinnen. Aber bedeutet
denn überhaupt die bessere Schulbildung und die Universitätsbildung
zugleich die bessere politische Bildung? Unsere Abiturienten und
Studenten, ja vielfach auch die jungen Leute, die das eigentliche
Studium hinter sich haben, wissen meist so außerordentlich wenig von
den politischen Ereignissen und Notwendigkeiten, nur ein geringer Teil
hat wirkliches Jnteresse für die Politik. Aber auch selbst wenn sie
sich politische Bildung aneigneten, was für ein Grund läge wohl vor,
ihnen ein größeres politisches Recht einzuräumen als dem gleichaltrigen
Arbeiter oder Angestellten, der kein Examen gemacht hat, aber
dafür in seiner Berufsarbeit und durch seine Berufsarbeit tagtäglich
auf die Forderungen hingewiesen wird, die er für sich in seinem
eigenen und seiner Arbeitsgenossen Jnteresse an die Politik stellen
muß. Jhm geht sehr rasch ein Verständnis dafür auf, wie Handels-
und Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik, Schulpolitik usw. Hand in Hand
gehen, und weshalb er danach streben muß, einen Einfluß auf die
Zusammensetzung der gesetzgebenden Körperschaften ausüben zu können.
Zudem aber ist heute in Preußen und Deutschland die Möglichkeit
einer besseren Schulbildung doch auch an die finanzielle Leistungs-
fähigkeit der Familie gebunden; die Abstufung der Stimmenzahl nach
Bildung bedeutet also am letzten Ende ebenfalls eine Abstufung nach
dem Besitz.

Die Verleihung mehrerer Stimmen auf Grund des abgedienten
Militärdienstjahres ist ebenfalls zu verwerfen. Auch das Dienstjahr
bedeutet keine bessere politische Vorbildung; und die Arbeit, die An-
gestellte, Beamte, Lehrer und Arbeiter leisten, schafft doch mindestens
soviel Nutzen für den Staat, wenn nicht mehr wie der Drill der

Mängel des Dreiklassenwahlsystems gesehen, wie sehr die Frauen
durch eine solche Bestimmung geschädigt würden. Es ist aber auch
eine Ungerechtigkeit, wie man sie schlimmer kaum ausdenken kann,
Leuten, die ohnehin schon in einer günstigeren Lage sind als die
Angehörigen der minder bemittelten Schichten der Bevölkerung, das
Proletariat und die kleinen Bürger, nun noch größere politische Rechte
zuzugestehen und dadurch ihren Einfluß zu verstärken.

Jn der Forderung einer weiteren Stimme für diejenigen, die
eine höhere Schule durchgemacht haben, liegt aber außer der Be-
nachteiligung der unteren Stände noch eine besondere der Frau, selbst
für die Frauen der wohlhabenden Kreise. Das gesamte Mädchen-
schulwesen wird doch heute zu dem niederen Unterrichtswesen gerechnet.
Und wieviel Frauen absolvieren denn heute in Preußen das Abiturienten-
oder gar das Staatsexamen? Das sind doch verhältnismäßig wenige,
in der Hauptsache die Lehrerinnen und Aerztinnen. Aber bedeutet
denn überhaupt die bessere Schulbildung und die Universitätsbildung
zugleich die bessere politische Bildung? Unsere Abiturienten und
Studenten, ja vielfach auch die jungen Leute, die das eigentliche
Studium hinter sich haben, wissen meist so außerordentlich wenig von
den politischen Ereignissen und Notwendigkeiten, nur ein geringer Teil
hat wirkliches Jnteresse für die Politik. Aber auch selbst wenn sie
sich politische Bildung aneigneten, was für ein Grund läge wohl vor,
ihnen ein größeres politisches Recht einzuräumen als dem gleichaltrigen
Arbeiter oder Angestellten, der kein Examen gemacht hat, aber
dafür in seiner Berufsarbeit und durch seine Berufsarbeit tagtäglich
auf die Forderungen hingewiesen wird, die er für sich in seinem
eigenen und seiner Arbeitsgenossen Jnteresse an die Politik stellen
muß. Jhm geht sehr rasch ein Verständnis dafür auf, wie Handels-
und Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik, Schulpolitik usw. Hand in Hand
gehen, und weshalb er danach streben muß, einen Einfluß auf die
Zusammensetzung der gesetzgebenden Körperschaften ausüben zu können.
Zudem aber ist heute in Preußen und Deutschland die Möglichkeit
einer besseren Schulbildung doch auch an die finanzielle Leistungs-
fähigkeit der Familie gebunden; die Abstufung der Stimmenzahl nach
Bildung bedeutet also am letzten Ende ebenfalls eine Abstufung nach
dem Besitz.

Die Verleihung mehrerer Stimmen auf Grund des abgedienten
Militärdienstjahres ist ebenfalls zu verwerfen. Auch das Dienstjahr
bedeutet keine bessere politische Vorbildung; und die Arbeit, die An-
gestellte, Beamte, Lehrer und Arbeiter leisten, schafft doch mindestens
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Anna Pfundt: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-10-19T09:11:18Z)

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Zitationshilfe: Breitscheid, Tony: Die Notwendigkeit der Forderung des allgemeinen, gleichen, direkten, geheimen Wahlrechts (= Schriften des Preußischen Landesvereins für Frauenstimmrecht, Bd. 4). Berlin, 1909, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/breitscheid_notwendigkeit_1909/11>, abgerufen am 24.11.2024.