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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 6. Hildburghausen, 1869.

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Geographische Verbreitung.
tiefen Veränderungen des Aufenthaltsortes keine bedeutenden Umwandlungen im Aeußeren der
betreffenden Arten im Gefolge gehabt, während wir doch bei vielen Landschnecken sehr auffallende
Varietätenbildungen nach der Verschiedenheit der Standorte treffen, ist merkwürdig. Es darf
aber nicht übersehen werden, daß, wenn man die spanische Molluskenfanna mit der algierischen
zusammenstellt, sich zwar eine fast vollständige Uebereinstimmung findet, wodurch diese algierische
Thierwelt als ein bloßer Anhang der spanischen erscheint und Spanien als das "Schöpfungs-
centrum", dessen Strahlen einst auch über die "Halbinsel" Algier sich ausbreitete, daß, sagen wir,
zahlreiche spanische Arten in Algier nur durch sogenannte "analoge Arten" vertreten sind. Ver-
bindet man mit diesem Ausdruck keinen weiteren Gedanken, als Bourguignat, nämlich, daß
gewisse spanische Arten zwar nicht selbst in Algier vorkommen, wohl aber durch ihnen systematisch
sehr nahe stehende Formen repräsentirt sind, so ist damit sehr wenig gesagt, weil bloß ein that-
sächliches Verhältniß umschrieben wird. Man erklärt aber die Thatsache, wenn man mit den
Anhängern der Umwandlungslehre annehmen darf, daß eine der beiden analogen Formen eine
wirkliche durch klimatische Verhältnisse und Anpassung hervorgerufene Abzweigung der anderen ist,
oder daß beide direkt von einer dritten Form abstammen. Die Wissenschaft ist noch lange nicht
in der Lage, diesen Beweis der Abstammung immer wirklich antreten und führen zu können,
wenn aber die Forschung von diesem Gedanken sich beseelen läßt und an Stelle des Wunders das
Begreifliche setzen zu können hofft, wird die Wissenschaft selbst dadurch erhoben und das Jnteresse
an den Erfolgen der Wissenschaft im großen Kreise ihrer Freunde gefördert. Uebrigens will wohl
auch Bourguignat die Sache nahezu so aufgefaßt wissen, indem er an einer anderen Stelle
zugibt, daß eine Schnecke, welche von ihrem gebirgigen Ausgangspunkte in die Ebene hinabsteigt,
im Laufe der Jahrhunderte solchen modificirenden Einflüssen unterworfen sein könne, daß die
Neuerungen, welche sich an ihr bemerklich machen, nach und nach sich fixiren und das bilden,
"was man thatsächlich eine (neue) Art nennt".

Wir halten diese höhere Auffassung des Thierlebens für so ungemein wichtig und in unserer
Aufgabe durch die gegenwärtigen Streitfragen der Zoologie für so geboten, daß wir für die
darauf bezüglichen scheinbaren Abschweifungen von unserem nächsten Thema mehr als entschuldigt
zu sein glauben.

Ohne der Verbreitung der Lungenschnecken über die ganze Erdoberfläche nachzugehn, wollen
wir wenigstens im Anschluß an das oben Angeführte den Charakter der großen, uns am meisten
interessirenden europäisch-asiatischen Provinz nach Keferstein angeben. "Diese größte aller
Pulmonaten-Provinzen umfaßt ganz Europa, Afrika nördlich vom Atlas, Nordegypten, Klein-
asien, Syrien, Persien, Asien nördlich vom Himalaya und die sich zur Mitte Chinas hinein
erstreckenden Gebirge: sie nimmt also die ganze nördliche alte Welt bis fast zu 30° nördlicher
Breite ein. Durch kein Hinderniß beschränkt hat sich eine typisch gleiche Pulmonatenfauna über
dieß ungeheure Gebiet ausgebreitet, und wie der Ural fast für keine Thierordnung eine natürliche
Grenze bildet, so vermochten auch die Alpen, Balkan und Kaukasus der Verbreitung der Pulmonaten
keinen wesentlichen Widerstand zu leisten. Von Jnseln gehören zu dieser Provinz, außer den im
Mittelmeer belegenen, Großbritannien und Jrland, die in einer früheren Zeit unserer Jetzt-
schöpfung ohne Frage mit dem Continent zusammenhingen, und Jsland, während Grönland sich
näher an Amerika anschließt, und Japan, so weit man es beurtheilen kann, eine selbstständige
Provinz bilden muß. Von den warmen Klimaten Algiers erstreckt sich unsere Provinz also durch
die Länder gemäßigter Temperatur bis zu den kältesten Gegenden Lapplands und Nordsibiriens,
und es ist klar, daß durch die großen Klimaunterschiede eine große Verschiedenheit der Reich-
haltigkeit der Pulmonatenfaunen bedingt sein muß. Finden wir aber auch in den Mittelmeer-
ländern an 800 Pulmonaten, in Deutschland nur 200, in Norwegen nur 50, in Lappland endlich
nur 16 und im äußersten Norden Sibiriens nur etwa 5 Arten, so erweisen sich doch bei genauer
Betrachtung die Pulmonatenfaunen jener kälteren Länder nur als verarmte Faunen der wärmeren

Geographiſche Verbreitung.
tiefen Veränderungen des Aufenthaltsortes keine bedeutenden Umwandlungen im Aeußeren der
betreffenden Arten im Gefolge gehabt, während wir doch bei vielen Landſchnecken ſehr auffallende
Varietätenbildungen nach der Verſchiedenheit der Standorte treffen, iſt merkwürdig. Es darf
aber nicht überſehen werden, daß, wenn man die ſpaniſche Molluskenfanna mit der algieriſchen
zuſammenſtellt, ſich zwar eine faſt vollſtändige Uebereinſtimmung findet, wodurch dieſe algieriſche
Thierwelt als ein bloßer Anhang der ſpaniſchen erſcheint und Spanien als das „Schöpfungs-
centrum“, deſſen Strahlen einſt auch über die „Halbinſel“ Algier ſich ausbreitete, daß, ſagen wir,
zahlreiche ſpaniſche Arten in Algier nur durch ſogenannte „analoge Arten“ vertreten ſind. Ver-
bindet man mit dieſem Ausdruck keinen weiteren Gedanken, als Bourguignat, nämlich, daß
gewiſſe ſpaniſche Arten zwar nicht ſelbſt in Algier vorkommen, wohl aber durch ihnen ſyſtematiſch
ſehr nahe ſtehende Formen repräſentirt ſind, ſo iſt damit ſehr wenig geſagt, weil bloß ein that-
ſächliches Verhältniß umſchrieben wird. Man erklärt aber die Thatſache, wenn man mit den
Anhängern der Umwandlungslehre annehmen darf, daß eine der beiden analogen Formen eine
wirkliche durch klimatiſche Verhältniſſe und Anpaſſung hervorgerufene Abzweigung der anderen iſt,
oder daß beide direkt von einer dritten Form abſtammen. Die Wiſſenſchaft iſt noch lange nicht
in der Lage, dieſen Beweis der Abſtammung immer wirklich antreten und führen zu können,
wenn aber die Forſchung von dieſem Gedanken ſich beſeelen läßt und an Stelle des Wunders das
Begreifliche ſetzen zu können hofft, wird die Wiſſenſchaft ſelbſt dadurch erhoben und das Jntereſſe
an den Erfolgen der Wiſſenſchaft im großen Kreiſe ihrer Freunde gefördert. Uebrigens will wohl
auch Bourguignat die Sache nahezu ſo aufgefaßt wiſſen, indem er an einer anderen Stelle
zugibt, daß eine Schnecke, welche von ihrem gebirgigen Ausgangspunkte in die Ebene hinabſteigt,
im Laufe der Jahrhunderte ſolchen modificirenden Einflüſſen unterworfen ſein könne, daß die
Neuerungen, welche ſich an ihr bemerklich machen, nach und nach ſich fixiren und das bilden,
„was man thatſächlich eine (neue) Art nennt“.

Wir halten dieſe höhere Auffaſſung des Thierlebens für ſo ungemein wichtig und in unſerer
Aufgabe durch die gegenwärtigen Streitfragen der Zoologie für ſo geboten, daß wir für die
darauf bezüglichen ſcheinbaren Abſchweifungen von unſerem nächſten Thema mehr als entſchuldigt
zu ſein glauben.

Ohne der Verbreitung der Lungenſchnecken über die ganze Erdoberfläche nachzugehn, wollen
wir wenigſtens im Anſchluß an das oben Angeführte den Charakter der großen, uns am meiſten
intereſſirenden europäiſch-aſiatiſchen Provinz nach Keferſtein angeben. „Dieſe größte aller
Pulmonaten-Provinzen umfaßt ganz Europa, Afrika nördlich vom Atlas, Nordegypten, Klein-
aſien, Syrien, Perſien, Aſien nördlich vom Himalaya und die ſich zur Mitte Chinas hinein
erſtreckenden Gebirge: ſie nimmt alſo die ganze nördliche alte Welt bis faſt zu 30° nördlicher
Breite ein. Durch kein Hinderniß beſchränkt hat ſich eine typiſch gleiche Pulmonatenfauna über
dieß ungeheure Gebiet ausgebreitet, und wie der Ural faſt für keine Thierordnung eine natürliche
Grenze bildet, ſo vermochten auch die Alpen, Balkan und Kaukaſus der Verbreitung der Pulmonaten
keinen weſentlichen Widerſtand zu leiſten. Von Jnſeln gehören zu dieſer Provinz, außer den im
Mittelmeer belegenen, Großbritannien und Jrland, die in einer früheren Zeit unſerer Jetzt-
ſchöpfung ohne Frage mit dem Continent zuſammenhingen, und Jsland, während Grönland ſich
näher an Amerika anſchließt, und Japan, ſo weit man es beurtheilen kann, eine ſelbſtſtändige
Provinz bilden muß. Von den warmen Klimaten Algiers erſtreckt ſich unſere Provinz alſo durch
die Länder gemäßigter Temperatur bis zu den kälteſten Gegenden Lapplands und Nordſibiriens,
und es iſt klar, daß durch die großen Klimaunterſchiede eine große Verſchiedenheit der Reich-
haltigkeit der Pulmonatenfaunen bedingt ſein muß. Finden wir aber auch in den Mittelmeer-
ländern an 800 Pulmonaten, in Deutſchland nur 200, in Norwegen nur 50, in Lappland endlich
nur 16 und im äußerſten Norden Sibiriens nur etwa 5 Arten, ſo erweiſen ſich doch bei genauer
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[811/0859] Geographiſche Verbreitung. tiefen Veränderungen des Aufenthaltsortes keine bedeutenden Umwandlungen im Aeußeren der betreffenden Arten im Gefolge gehabt, während wir doch bei vielen Landſchnecken ſehr auffallende Varietätenbildungen nach der Verſchiedenheit der Standorte treffen, iſt merkwürdig. Es darf aber nicht überſehen werden, daß, wenn man die ſpaniſche Molluskenfanna mit der algieriſchen zuſammenſtellt, ſich zwar eine faſt vollſtändige Uebereinſtimmung findet, wodurch dieſe algieriſche Thierwelt als ein bloßer Anhang der ſpaniſchen erſcheint und Spanien als das „Schöpfungs- centrum“, deſſen Strahlen einſt auch über die „Halbinſel“ Algier ſich ausbreitete, daß, ſagen wir, zahlreiche ſpaniſche Arten in Algier nur durch ſogenannte „analoge Arten“ vertreten ſind. Ver- bindet man mit dieſem Ausdruck keinen weiteren Gedanken, als Bourguignat, nämlich, daß gewiſſe ſpaniſche Arten zwar nicht ſelbſt in Algier vorkommen, wohl aber durch ihnen ſyſtematiſch ſehr nahe ſtehende Formen repräſentirt ſind, ſo iſt damit ſehr wenig geſagt, weil bloß ein that- ſächliches Verhältniß umſchrieben wird. Man erklärt aber die Thatſache, wenn man mit den Anhängern der Umwandlungslehre annehmen darf, daß eine der beiden analogen Formen eine wirkliche durch klimatiſche Verhältniſſe und Anpaſſung hervorgerufene Abzweigung der anderen iſt, oder daß beide direkt von einer dritten Form abſtammen. Die Wiſſenſchaft iſt noch lange nicht in der Lage, dieſen Beweis der Abſtammung immer wirklich antreten und führen zu können, wenn aber die Forſchung von dieſem Gedanken ſich beſeelen läßt und an Stelle des Wunders das Begreifliche ſetzen zu können hofft, wird die Wiſſenſchaft ſelbſt dadurch erhoben und das Jntereſſe an den Erfolgen der Wiſſenſchaft im großen Kreiſe ihrer Freunde gefördert. Uebrigens will wohl auch Bourguignat die Sache nahezu ſo aufgefaßt wiſſen, indem er an einer anderen Stelle zugibt, daß eine Schnecke, welche von ihrem gebirgigen Ausgangspunkte in die Ebene hinabſteigt, im Laufe der Jahrhunderte ſolchen modificirenden Einflüſſen unterworfen ſein könne, daß die Neuerungen, welche ſich an ihr bemerklich machen, nach und nach ſich fixiren und das bilden, „was man thatſächlich eine (neue) Art nennt“. Wir halten dieſe höhere Auffaſſung des Thierlebens für ſo ungemein wichtig und in unſerer Aufgabe durch die gegenwärtigen Streitfragen der Zoologie für ſo geboten, daß wir für die darauf bezüglichen ſcheinbaren Abſchweifungen von unſerem nächſten Thema mehr als entſchuldigt zu ſein glauben. Ohne der Verbreitung der Lungenſchnecken über die ganze Erdoberfläche nachzugehn, wollen wir wenigſtens im Anſchluß an das oben Angeführte den Charakter der großen, uns am meiſten intereſſirenden europäiſch-aſiatiſchen Provinz nach Keferſtein angeben. „Dieſe größte aller Pulmonaten-Provinzen umfaßt ganz Europa, Afrika nördlich vom Atlas, Nordegypten, Klein- aſien, Syrien, Perſien, Aſien nördlich vom Himalaya und die ſich zur Mitte Chinas hinein erſtreckenden Gebirge: ſie nimmt alſo die ganze nördliche alte Welt bis faſt zu 30° nördlicher Breite ein. Durch kein Hinderniß beſchränkt hat ſich eine typiſch gleiche Pulmonatenfauna über dieß ungeheure Gebiet ausgebreitet, und wie der Ural faſt für keine Thierordnung eine natürliche Grenze bildet, ſo vermochten auch die Alpen, Balkan und Kaukaſus der Verbreitung der Pulmonaten keinen weſentlichen Widerſtand zu leiſten. Von Jnſeln gehören zu dieſer Provinz, außer den im Mittelmeer belegenen, Großbritannien und Jrland, die in einer früheren Zeit unſerer Jetzt- ſchöpfung ohne Frage mit dem Continent zuſammenhingen, und Jsland, während Grönland ſich näher an Amerika anſchließt, und Japan, ſo weit man es beurtheilen kann, eine ſelbſtſtändige Provinz bilden muß. Von den warmen Klimaten Algiers erſtreckt ſich unſere Provinz alſo durch die Länder gemäßigter Temperatur bis zu den kälteſten Gegenden Lapplands und Nordſibiriens, und es iſt klar, daß durch die großen Klimaunterſchiede eine große Verſchiedenheit der Reich- haltigkeit der Pulmonatenfaunen bedingt ſein muß. Finden wir aber auch in den Mittelmeer- ländern an 800 Pulmonaten, in Deutſchland nur 200, in Norwegen nur 50, in Lappland endlich nur 16 und im äußerſten Norden Sibiriens nur etwa 5 Arten, ſo erweiſen ſich doch bei genauer Betrachtung die Pulmonatenfaunen jener kälteren Länder nur als verarmte Faunen der wärmeren

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 6. Hildburghausen, 1869, S. 811. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben06_1869/859>, abgerufen am 24.11.2024.