reinsalzigen Wasser eine Vegetation von Ulven, Seegräsern, Algen und Tangen fortkommt, ist mit untrüglicher Sicherheit auch eine Bevölkerung von Turbellarien vorauszusagen, im Eismeere sowohl, wie unter den Tropen. Manche halten sich nur zwischen den zar- ten Zweigen der Algen auf, in geschützten, dem Wellenschlage nicht sehr ausgesetzten Buchten; andere trifft man zwischen den Aesten der harten Corallinen und Kalkalgen, zwischen denen ihr gebrech- licher Körper den stärksten Schlägen der Brandung trotzt. Wenn aber eine steile Küste so bröcklich ist, daß Pflanzen sich nicht an- siedeln können, so sind die Strudelwürmer gleichwohl da, indem sie in den feinsten, kaum dem Auge bemerkbaren Riefen und Rissen sich verbergen. Nimmt man nun dazu, daß eine, wenn auch kleine Abtheilung auf dem Lande lebt, wo nämlich unter Baumrinde, in Treibhäusern, auf den Blättern in feuchten Tropenwäldern ihre Haut vor der Austrocknung geschützt ist, ja, daß eine Art die Regenwürmer in Brasilien unter der Erde aufsucht, so muß man über die Biegsamkeit dieser Art von Organismen erstaunen. Wenn die Zusammenstellung der Zwergspitzmaus mit dem Elephanten oder Grönlandwal imponirt, so können wir aus den Turbellarien mit noch viel anständigern Verhältnissen aufwarten. Es gibt ein- zelne Species aus der Unterordnung der Schnurwürmer von 30 Fuß Länge. Sie verhalten sich in dieser Dimension zu den klein- sten etwa wie 45,000 zu 1.
Wenden wir uns nun zu diesen Schnurwürmern (Nemer- tina). Sie haben alle einen auffallend gestreckten, fast nie ganz flachen, sondern nur an der Bauchseite etwas abgeplatteten Körper. Auf dem Vorderende tragen sie gewöhnlich zwei Haufen von Augen. Am Kopfende, gewöhnlich an der Unterseite, befinden sich zwei Oeff- nungen; die eine führt in den Darmkanal, die andere, obere, in eine Höhle, in welcher ein sehr eigenthümlicher Rüssel verborgen liegt. Derselbe kann nämlich mit großer Schnelligkeit und über- raschend weit, oft auf die Länge von zwei Dritttheilen des ganzen Thiers hervorgestoßen werden und wird als ein Saugorgan benutzt. Bei einer Anzahl von Gattungen (der Abtheilung Anopla) tritt bei der Ausstülpung des Rüssels eine Kalkspitze hervor. Ein sorg- samer Beobachter dieser Thiere, Max Schultze, fah wiederholt, wie das kleine in der Ostsee vorkommende Tetrastemma obscu- rum, 1 Zoll lang, seinen Rüssel mit Blitzesschnelle bis an das Stilet hervorstieß und damit in die Nähe kommende Thiere, z. B. Flohkrebse, verwundete. "Jst das zu ergreifende Thier angespießt, so wird der Rüssel allmälig wieder zurückgebracht, ohne jedoch seine Beute loszulassen, und nun kriecht die ganze Nemertine durch die vermittelst des Rüssels gemachte Oeffnung in das verwundete Thier hinein, um dasselbe auszufressen. Von Krustaceen bleibt nur das hohle Chitinskelet zurück. Nicht selten versammeln sich um ein so gespießtes größeres Thier
Strudelwürmer. Schnurwürmer.
unerſchöpflicher Fülle erſt im Meere vor. Wo an irgend einer Meeresküſte im brakiſchen oder
reinſalzigen Waſſer eine Vegetation von Ulven, Seegräſern, Algen und Tangen fortkommt, iſt mit untrüglicher Sicherheit auch eine Bevölkerung von Turbellarien vorauszuſagen, im Eismeere ſowohl, wie unter den Tropen. Manche halten ſich nur zwiſchen den zar- ten Zweigen der Algen auf, in geſchützten, dem Wellenſchlage nicht ſehr ausgeſetzten Buchten; andere trifft man zwiſchen den Aeſten der harten Corallinen und Kalkalgen, zwiſchen denen ihr gebrech- licher Körper den ſtärkſten Schlägen der Brandung trotzt. Wenn aber eine ſteile Küſte ſo bröcklich iſt, daß Pflanzen ſich nicht an- ſiedeln können, ſo ſind die Strudelwürmer gleichwohl da, indem ſie in den feinſten, kaum dem Auge bemerkbaren Riefen und Riſſen ſich verbergen. Nimmt man nun dazu, daß eine, wenn auch kleine Abtheilung auf dem Lande lebt, wo nämlich unter Baumrinde, in Treibhäuſern, auf den Blättern in feuchten Tropenwäldern ihre Haut vor der Austrocknung geſchützt iſt, ja, daß eine Art die Regenwürmer in Braſilien unter der Erde aufſucht, ſo muß man über die Biegſamkeit dieſer Art von Organismen erſtaunen. Wenn die Zuſammenſtellung der Zwergſpitzmaus mit dem Elephanten oder Grönlandwal imponirt, ſo können wir aus den Turbellarien mit noch viel anſtändigern Verhältniſſen aufwarten. Es gibt ein- zelne Species aus der Unterordnung der Schnurwürmer von 30 Fuß Länge. Sie verhalten ſich in dieſer Dimenſion zu den klein- ſten etwa wie 45,000 zu 1.
Wenden wir uns nun zu dieſen Schnurwürmern (Nemer- tina). Sie haben alle einen auffallend geſtreckten, faſt nie ganz flachen, ſondern nur an der Bauchſeite etwas abgeplatteten Körper. Auf dem Vorderende tragen ſie gewöhnlich zwei Haufen von Augen. Am Kopfende, gewöhnlich an der Unterſeite, befinden ſich zwei Oeff- nungen; die eine führt in den Darmkanal, die andere, obere, in eine Höhle, in welcher ein ſehr eigenthümlicher Rüſſel verborgen liegt. Derſelbe kann nämlich mit großer Schnelligkeit und über- raſchend weit, oft auf die Länge von zwei Dritttheilen des ganzen Thiers hervorgeſtoßen werden und wird als ein Saugorgan benutzt. Bei einer Anzahl von Gattungen (der Abtheilung Anopla) tritt bei der Ausſtülpung des Rüſſels eine Kalkſpitze hervor. Ein ſorg- ſamer Beobachter dieſer Thiere, Max Schultze, fah wiederholt, wie das kleine in der Oſtſee vorkommende Tetrastemma obscu- rum, 1 Zoll lang, ſeinen Rüſſel mit Blitzesſchnelle bis an das Stilet hervorſtieß und damit in die Nähe kommende Thiere, z. B. Flohkrebſe, verwundete. „Jſt das zu ergreifende Thier angeſpießt, ſo wird der Rüſſel allmälig wieder zurückgebracht, ohne jedoch ſeine Beute loszulaſſen, und nun kriecht die ganze Nemertine durch die vermittelſt des Rüſſels gemachte Oeffnung in das verwundete Thier hinein, um daſſelbe auszufreſſen. Von Kruſtaceen bleibt nur das hohle Chitinſkelet zurück. Nicht ſelten verſammeln ſich um ein ſo geſpießtes größeres Thier
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[730/0774]
Strudelwürmer. Schnurwürmer.
unerſchöpflicher Fülle erſt im Meere vor. Wo an irgend einer Meeresküſte im brakiſchen oder
[Abbildung Nemertine Vierange
(Tetrastomma obscurum).
Vergrößert.]
reinſalzigen Waſſer eine Vegetation von Ulven, Seegräſern, Algen
und Tangen fortkommt, iſt mit untrüglicher Sicherheit auch eine
Bevölkerung von Turbellarien vorauszuſagen, im Eismeere ſowohl,
wie unter den Tropen. Manche halten ſich nur zwiſchen den zar-
ten Zweigen der Algen auf, in geſchützten, dem Wellenſchlage nicht
ſehr ausgeſetzten Buchten; andere trifft man zwiſchen den Aeſten
der harten Corallinen und Kalkalgen, zwiſchen denen ihr gebrech-
licher Körper den ſtärkſten Schlägen der Brandung trotzt. Wenn
aber eine ſteile Küſte ſo bröcklich iſt, daß Pflanzen ſich nicht an-
ſiedeln können, ſo ſind die Strudelwürmer gleichwohl da, indem
ſie in den feinſten, kaum dem Auge bemerkbaren Riefen und Riſſen
ſich verbergen. Nimmt man nun dazu, daß eine, wenn auch kleine
Abtheilung auf dem Lande lebt, wo nämlich unter Baumrinde, in
Treibhäuſern, auf den Blättern in feuchten Tropenwäldern ihre
Haut vor der Austrocknung geſchützt iſt, ja, daß eine Art die
Regenwürmer in Braſilien unter der Erde aufſucht, ſo muß man
über die Biegſamkeit dieſer Art von Organismen erſtaunen. Wenn
die Zuſammenſtellung der Zwergſpitzmaus mit dem Elephanten
oder Grönlandwal imponirt, ſo können wir aus den Turbellarien
mit noch viel anſtändigern Verhältniſſen aufwarten. Es gibt ein-
zelne Species aus der Unterordnung der Schnurwürmer von 30
Fuß Länge. Sie verhalten ſich in dieſer Dimenſion zu den klein-
ſten etwa wie 45,000 zu 1.
Wenden wir uns nun zu dieſen Schnurwürmern (Nemer-
tina). Sie haben alle einen auffallend geſtreckten, faſt nie ganz
flachen, ſondern nur an der Bauchſeite etwas abgeplatteten Körper.
Auf dem Vorderende tragen ſie gewöhnlich zwei Haufen von Augen.
Am Kopfende, gewöhnlich an der Unterſeite, befinden ſich zwei Oeff-
nungen; die eine führt in den Darmkanal, die andere, obere, in
eine Höhle, in welcher ein ſehr eigenthümlicher Rüſſel verborgen
liegt. Derſelbe kann nämlich mit großer Schnelligkeit und über-
raſchend weit, oft auf die Länge von zwei Dritttheilen des ganzen
Thiers hervorgeſtoßen werden und wird als ein Saugorgan benutzt.
Bei einer Anzahl von Gattungen (der Abtheilung Anopla) tritt
bei der Ausſtülpung des Rüſſels eine Kalkſpitze hervor. Ein ſorg-
ſamer Beobachter dieſer Thiere, Max Schultze, fah wiederholt,
wie das kleine in der Oſtſee vorkommende Tetrastemma obscu-
rum, 1 Zoll lang, ſeinen Rüſſel mit Blitzesſchnelle bis an das
Stilet hervorſtieß und damit in die Nähe kommende Thiere, z. B.
Flohkrebſe, verwundete. „Jſt das zu ergreifende Thier angeſpießt,
ſo wird der Rüſſel allmälig wieder zurückgebracht, ohne jedoch
ſeine Beute loszulaſſen, und nun kriecht die ganze Nemertine durch
die vermittelſt des Rüſſels gemachte Oeffnung in das verwundete
Thier hinein, um daſſelbe auszufreſſen. Von Kruſtaceen bleibt nur
das hohle Chitinſkelet zurück. Nicht ſelten verſammeln ſich um ein ſo geſpießtes größeres Thier
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 6. Hildburghausen, 1869, S. 730. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben06_1869/774>, abgerufen am 24.11.2024.
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