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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 6. Hildburghausen, 1869.

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Die Spinnenthiere. Echte Spinnen. Wolfsspinnen.
werden können und darum von den Schriftstellern öfter mit obigem Namen belegt wurden, ohne
ihn in der That zu verdienen. Diese Sackspinnen leben an feuchten und trocknen, sonnigen
Stellen, und ich wage nicht zu entscheiden, ob man nach dem Aufenthalte einen einigermaßen
sichern Schluß auf die bestimmte Art ziehen könne, glaube vielmehr, daß sie alle mehr oder
weniger untermischt vorkommen.

Es dürfte schwerlich über den giftigen Biß irgend eines Thieres mehr Geschrei erhoben,
mehr Unwahres verbreitet worden sein, als über den der Tarantel, einer Spinne, oder richtiger
gesagt, mehrerer zur alten Gattung Lycosa gehörenden Arten. Der Name ist dem Jtalienischen
entlehnt, wo man unter Tarantola ursprünglich eine giftige Spinne (auch Solofizzi genannt)
begreift, welche vorzugsweise bei Tarent (Taranto) lebt und deren Biß die wunderlichsten Erschei-
nungen zugeschrieben wurden. Ulysses Aldrovandi, welcher in seiner Naturgeschichte der
Jnsekten (1602) Alles gesammelt hat, was bis dahin auch über die Spinnen geschrieben worden
war, verbreitet sich ausführlich über die Wirkungen des Tarantelstiches und die Mittel ihn zu
heilen. Nach ihm gibt es kaum ein menschliches Gebaren, so kindisch und albern es auch sein
möge, welches man nicht der Wirkung dieses Bisses zugeschrieben hätte; denn er sagt u. a. von
den Gestochenen, "tarantulati": die Einen singen fortwährend, die Andern lachen, weinen, jammern,
die Einen verfallen in Schlassucht, die Andern in Schlaflosigkeit, die meisten leiden an Erbrechen,
einige tanzen, andere schwitzen, noch andere bekommen Zittern oder Herzpochen und andere werden
von andern Beschwerden befallen, zu denen auch gehört, daß sie den Anblick der schwarzen und
blauen Farbe nicht ertragen können, während die rothe und grüne sie erfreut. Um die "taran-
tulati"
zu heilen, spielt man ihnen auf irgend einem Jnstrumente zwei Melodien vor, die "Pastorale"
und die "Tarantola", Tänze, welche auf das Sorgfältigste in den verschiedenen Werken über diesen
Gegenstand aufgezeichnet sind. Darauf fängt der Kranke an zu tanzen, bis heftiger Schweiß
ausbricht und völlige Erschöpfung ihn zu Boden wirft. Man bringt ihn zu Bett, läßt ihn aus-
schlafen und nach dem Erwachen ist er geheilt, weiß aber nichts von alle dem, was mit ihm
vorgegangen ist. Es treten indeß auch Rückfälle ein, welche sich 20, 30 Jahre, ja mitunter während
der ganzen Lebenszeit wiederholen. Man behauptet weiter, daß der Biß während der Hundstage
am gefährlichsten sei, von der einen Spinne mehr schade, als von einer andern, ja daß die
gefährliche Spinne von Apulien keine schädlichen Bisse austheilen könne, wenn man sie nach Rom
oder noch nördlicher bringe. Solche und ähnliche Thorheiten wurden bis in dieses Jahrhundert
hinein nicht nur von der Volksmenge, sondern auch von einzelnen, grundgelehrten Aerzten für wahr
gehalten, hatten aber den Vortheil, daß mehr und mehr verständige Leute sich um das fabelhaste
Thier bekümmerten und die Wirkungen seines Bisses auf das richtige Maaß zurückführten.
Herr v. Borch, ein polnischer Edelmann, vermochte gegen Ende des vorigen Jahrhunderts einen
Neapolitaner gegen ein Geschenk, sich in seiner Gegenwart in den Finger beißen zu lassen. Die
Hand entzündete sich zwar, die Finger schwollen an und juckten empfindlich, aber der Kranke war bald
wieder völlig hergestellt. Leon Dufour und neuerdings Joseph Erker bestätigen nach an sich
selbst gemachten Versuchen die Unschädlichkeit des Tarantelbisses. Verschiedene Mittheilungen deuten
darauf hin, daß müssige Umhertreiber, Strolche und Bettler, an denen es in jenem Lande nicht fehlt,
die eigentlichen Erfinderder ganzen Geschichte vom Tarantelstiche sind, um sie zu ihrem Vortheile
auszubeuten, sei es, das Mitleiden zu erwecken und milde Gaben zu erpressen, sei es, um sich in
dem Hause eines Gebissenen, wo sich junge Leute aus der Nachbarschaft versammelten, zu belustigen;
denn schon Kircher behauptet, daß sich bei dieser Gelegenheit "sonst ehrbare Frauen", aller Scham
und Sitte entkleidet hätten und die Ausgelassenheit maaßlos gewesen sei.

Neuerdings hat man den Linne'schen Beinamen tarantula der apulischen Tarantel zum
Gattungsnamen erhoben und unter demselben alle Wolfsspinnen zusammengefaßt, welche in
folgenden Merkmalen übereinstimmen: die vordere Kopffläche fällt steil ab und trägt verhältniß-
mäßig hoch oben auf einer Querschwiele die vier vordersten, fast unter sich gleichen und kleinen

Die Spinnenthiere. Echte Spinnen. Wolfsſpinnen.
werden können und darum von den Schriftſtellern öfter mit obigem Namen belegt wurden, ohne
ihn in der That zu verdienen. Dieſe Sackſpinnen leben an feuchten und trocknen, ſonnigen
Stellen, und ich wage nicht zu entſcheiden, ob man nach dem Aufenthalte einen einigermaßen
ſichern Schluß auf die beſtimmte Art ziehen könne, glaube vielmehr, daß ſie alle mehr oder
weniger untermiſcht vorkommen.

Es dürfte ſchwerlich über den giftigen Biß irgend eines Thieres mehr Geſchrei erhoben,
mehr Unwahres verbreitet worden ſein, als über den der Tarantel, einer Spinne, oder richtiger
geſagt, mehrerer zur alten Gattung Lycosa gehörenden Arten. Der Name iſt dem Jtalieniſchen
entlehnt, wo man unter Tarantola urſprünglich eine giftige Spinne (auch Solofizzi genannt)
begreift, welche vorzugsweiſe bei Tarent (Taranto) lebt und deren Biß die wunderlichſten Erſchei-
nungen zugeſchrieben wurden. Ulyſſes Aldrovandi, welcher in ſeiner Naturgeſchichte der
Jnſekten (1602) Alles geſammelt hat, was bis dahin auch über die Spinnen geſchrieben worden
war, verbreitet ſich ausführlich über die Wirkungen des Tarantelſtiches und die Mittel ihn zu
heilen. Nach ihm gibt es kaum ein menſchliches Gebaren, ſo kindiſch und albern es auch ſein
möge, welches man nicht der Wirkung dieſes Biſſes zugeſchrieben hätte; denn er ſagt u. a. von
den Geſtochenen, „tarantulati“: die Einen ſingen fortwährend, die Andern lachen, weinen, jammern,
die Einen verfallen in Schlaſſucht, die Andern in Schlafloſigkeit, die meiſten leiden an Erbrechen,
einige tanzen, andere ſchwitzen, noch andere bekommen Zittern oder Herzpochen und andere werden
von andern Beſchwerden befallen, zu denen auch gehört, daß ſie den Anblick der ſchwarzen und
blauen Farbe nicht ertragen können, während die rothe und grüne ſie erfreut. Um die „taran-
tulati“
zu heilen, ſpielt man ihnen auf irgend einem Jnſtrumente zwei Melodien vor, die „Paſtorale“
und die „Tarantola“, Tänze, welche auf das Sorgfältigſte in den verſchiedenen Werken über dieſen
Gegenſtand aufgezeichnet ſind. Darauf fängt der Kranke an zu tanzen, bis heftiger Schweiß
ausbricht und völlige Erſchöpfung ihn zu Boden wirft. Man bringt ihn zu Bett, läßt ihn aus-
ſchlafen und nach dem Erwachen iſt er geheilt, weiß aber nichts von alle dem, was mit ihm
vorgegangen iſt. Es treten indeß auch Rückfälle ein, welche ſich 20, 30 Jahre, ja mitunter während
der ganzen Lebenszeit wiederholen. Man behauptet weiter, daß der Biß während der Hundstage
am gefährlichſten ſei, von der einen Spinne mehr ſchade, als von einer andern, ja daß die
gefährliche Spinne von Apulien keine ſchädlichen Biſſe austheilen könne, wenn man ſie nach Rom
oder noch nördlicher bringe. Solche und ähnliche Thorheiten wurden bis in dieſes Jahrhundert
hinein nicht nur von der Volksmenge, ſondern auch von einzelnen, grundgelehrten Aerzten für wahr
gehalten, hatten aber den Vortheil, daß mehr und mehr verſtändige Leute ſich um das fabelhaſte
Thier bekümmerten und die Wirkungen ſeines Biſſes auf das richtige Maaß zurückführten.
Herr v. Borch, ein polniſcher Edelmann, vermochte gegen Ende des vorigen Jahrhunderts einen
Neapolitaner gegen ein Geſchenk, ſich in ſeiner Gegenwart in den Finger beißen zu laſſen. Die
Hand entzündete ſich zwar, die Finger ſchwollen an und juckten empfindlich, aber der Kranke war bald
wieder völlig hergeſtellt. Leon Dufour und neuerdings Joſeph Erker beſtätigen nach an ſich
ſelbſt gemachten Verſuchen die Unſchädlichkeit des Tarantelbiſſes. Verſchiedene Mittheilungen deuten
darauf hin, daß müſſige Umhertreiber, Strolche und Bettler, an denen es in jenem Lande nicht fehlt,
die eigentlichen Erfinderder ganzen Geſchichte vom Tarantelſtiche ſind, um ſie zu ihrem Vortheile
auszubeuten, ſei es, das Mitleiden zu erwecken und milde Gaben zu erpreſſen, ſei es, um ſich in
dem Hauſe eines Gebiſſenen, wo ſich junge Leute aus der Nachbarſchaft verſammelten, zu beluſtigen;
denn ſchon Kircher behauptet, daß ſich bei dieſer Gelegenheit „ſonſt ehrbare Frauen“, aller Scham
und Sitte entkleidet hätten und die Ausgelaſſenheit maaßlos geweſen ſei.

Neuerdings hat man den Linné’ſchen Beinamen tarantula der apuliſchen Tarantel zum
Gattungsnamen erhoben und unter demſelben alle Wolfsſpinnen zuſammengefaßt, welche in
folgenden Merkmalen übereinſtimmen: die vordere Kopffläche fällt ſteil ab und trägt verhältniß-
mäßig hoch oben auf einer Querſchwiele die vier vorderſten, faſt unter ſich gleichen und kleinen

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[596/0634] Die Spinnenthiere. Echte Spinnen. Wolfsſpinnen. werden können und darum von den Schriftſtellern öfter mit obigem Namen belegt wurden, ohne ihn in der That zu verdienen. Dieſe Sackſpinnen leben an feuchten und trocknen, ſonnigen Stellen, und ich wage nicht zu entſcheiden, ob man nach dem Aufenthalte einen einigermaßen ſichern Schluß auf die beſtimmte Art ziehen könne, glaube vielmehr, daß ſie alle mehr oder weniger untermiſcht vorkommen. Es dürfte ſchwerlich über den giftigen Biß irgend eines Thieres mehr Geſchrei erhoben, mehr Unwahres verbreitet worden ſein, als über den der Tarantel, einer Spinne, oder richtiger geſagt, mehrerer zur alten Gattung Lycosa gehörenden Arten. Der Name iſt dem Jtalieniſchen entlehnt, wo man unter Tarantola urſprünglich eine giftige Spinne (auch Solofizzi genannt) begreift, welche vorzugsweiſe bei Tarent (Taranto) lebt und deren Biß die wunderlichſten Erſchei- nungen zugeſchrieben wurden. Ulyſſes Aldrovandi, welcher in ſeiner Naturgeſchichte der Jnſekten (1602) Alles geſammelt hat, was bis dahin auch über die Spinnen geſchrieben worden war, verbreitet ſich ausführlich über die Wirkungen des Tarantelſtiches und die Mittel ihn zu heilen. Nach ihm gibt es kaum ein menſchliches Gebaren, ſo kindiſch und albern es auch ſein möge, welches man nicht der Wirkung dieſes Biſſes zugeſchrieben hätte; denn er ſagt u. a. von den Geſtochenen, „tarantulati“: die Einen ſingen fortwährend, die Andern lachen, weinen, jammern, die Einen verfallen in Schlaſſucht, die Andern in Schlafloſigkeit, die meiſten leiden an Erbrechen, einige tanzen, andere ſchwitzen, noch andere bekommen Zittern oder Herzpochen und andere werden von andern Beſchwerden befallen, zu denen auch gehört, daß ſie den Anblick der ſchwarzen und blauen Farbe nicht ertragen können, während die rothe und grüne ſie erfreut. Um die „taran- tulati“ zu heilen, ſpielt man ihnen auf irgend einem Jnſtrumente zwei Melodien vor, die „Paſtorale“ und die „Tarantola“, Tänze, welche auf das Sorgfältigſte in den verſchiedenen Werken über dieſen Gegenſtand aufgezeichnet ſind. Darauf fängt der Kranke an zu tanzen, bis heftiger Schweiß ausbricht und völlige Erſchöpfung ihn zu Boden wirft. Man bringt ihn zu Bett, läßt ihn aus- ſchlafen und nach dem Erwachen iſt er geheilt, weiß aber nichts von alle dem, was mit ihm vorgegangen iſt. Es treten indeß auch Rückfälle ein, welche ſich 20, 30 Jahre, ja mitunter während der ganzen Lebenszeit wiederholen. Man behauptet weiter, daß der Biß während der Hundstage am gefährlichſten ſei, von der einen Spinne mehr ſchade, als von einer andern, ja daß die gefährliche Spinne von Apulien keine ſchädlichen Biſſe austheilen könne, wenn man ſie nach Rom oder noch nördlicher bringe. Solche und ähnliche Thorheiten wurden bis in dieſes Jahrhundert hinein nicht nur von der Volksmenge, ſondern auch von einzelnen, grundgelehrten Aerzten für wahr gehalten, hatten aber den Vortheil, daß mehr und mehr verſtändige Leute ſich um das fabelhaſte Thier bekümmerten und die Wirkungen ſeines Biſſes auf das richtige Maaß zurückführten. Herr v. Borch, ein polniſcher Edelmann, vermochte gegen Ende des vorigen Jahrhunderts einen Neapolitaner gegen ein Geſchenk, ſich in ſeiner Gegenwart in den Finger beißen zu laſſen. Die Hand entzündete ſich zwar, die Finger ſchwollen an und juckten empfindlich, aber der Kranke war bald wieder völlig hergeſtellt. Leon Dufour und neuerdings Joſeph Erker beſtätigen nach an ſich ſelbſt gemachten Verſuchen die Unſchädlichkeit des Tarantelbiſſes. Verſchiedene Mittheilungen deuten darauf hin, daß müſſige Umhertreiber, Strolche und Bettler, an denen es in jenem Lande nicht fehlt, die eigentlichen Erfinderder ganzen Geſchichte vom Tarantelſtiche ſind, um ſie zu ihrem Vortheile auszubeuten, ſei es, das Mitleiden zu erwecken und milde Gaben zu erpreſſen, ſei es, um ſich in dem Hauſe eines Gebiſſenen, wo ſich junge Leute aus der Nachbarſchaft verſammelten, zu beluſtigen; denn ſchon Kircher behauptet, daß ſich bei dieſer Gelegenheit „ſonſt ehrbare Frauen“, aller Scham und Sitte entkleidet hätten und die Ausgelaſſenheit maaßlos geweſen ſei. Neuerdings hat man den Linné’ſchen Beinamen tarantula der apuliſchen Tarantel zum Gattungsnamen erhoben und unter demſelben alle Wolfsſpinnen zuſammengefaßt, welche in folgenden Merkmalen übereinſtimmen: die vordere Kopffläche fällt ſteil ab und trägt verhältniß- mäßig hoch oben auf einer Querſchwiele die vier vorderſten, faſt unter ſich gleichen und kleinen

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 6. Hildburghausen, 1869, S. 596. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben06_1869/634>, abgerufen am 10.06.2024.