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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 6. Hildburghausen, 1869.

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Die Geradflügler. Wasserjungfern.
auch nicht mehr fern. Die bisher matten Augen werden glänzend und durchsichtig, die Haut an
allen Theilen des Körpers wird immer trockner und zerreißt endlich vom Nacken bis vorn auf
den Kopf. Diese Theile kommen nun zunächst heraus, dann folgen die Beine, welche durch Zurück-
biegen der vorderen Körpertheile den obersten Platz einnehmen und lebhaft in der Luft umher
fechten, bis endlich durch die Ermattung eine allgemeine Ruhe eintritt. Jetzt beginnt der zweite
Akt. Mit einem Ruck erhebt sich der bis dahin herabhängende freie Körpertheil, die Füße setzen
sich an den Kopftheil der hier hellen Puppenhaut fest und nun wird der Hinterleib herausgezogen.
So ruht die Neugeborne auf ihrer bis auf den Längsriß vorn unversehrten Puppenhülse. Die
Flügel sind naß, eingeschrumpft, längs- und querfaltig, allein zusehends glättet sich eine Falte nach
der andern und in kaum einer halben Stunde hängen sie in ihrer vollen Größe, an einandergelegt
auf der scharfen Kante stehend, ohne allen Halt, aber wie Silber glänzend, längs des Körpers
herab. Zwei Stunden vergehen noch, ehe die Luft ihnen alle überflüssige Feuchtigkeit benimmt
und mit dem Trocknen die zum Gebrauch nöthige Steifheit verleiht; zur völligen Ausfärbung
bedarf es aber noch längerer Zeit. Sind jedoch erst die Flügel trocken, so schwingt sich "die Teufels-
nadel" mit ihnen in die Lüste und beginnt ihr Räuberhandwerk in diesen mit noch größerer Energie
und Gewandtheit als bisher in ihrem unvollkommeneren Wasserleben.

Man kennt zur Zeit zwischen Tausend und elfhundert Arten, welche über alle Erdtheile ver-
breitet sind, in den Tropen aber reichlicher, wenn auch mit nur wenigen Ausnahmen nicht schöner
und größer, als in den gemäßigten und kalten Erdstrichen vorkommen. Von jener Anzahl ernährt
Europa ungesähr hundert und darunter solche, die auch anderwärts heimaten, wie beispielsweise
Libellula pedemontana in Sibirien, Aeschna juncea in Transkaukasien, Anax Parthenope in
Afrika; Anax formosus findet sich von Schweden und dem Uralgebirge an durch ganz Europa
und Afrika.

Die Seejungfern (Calopteryx) gehören zur Sippe der Agrioniden (Agrionidae), welche
durch einen breiten, hammerförmigen Kopf, einen drehrunden, dünnen Hinterleib, eine zwischen
den inneren Laden tief ausgeschnittene Unterlippe im vollendeten Zustande, durch Schwanzkiemen
und eine flache Maske im Larvenstande charakterisirt werden. Bei der genannten Gattung ver-
schmälern sich die engmaschigen Flügel allmälig nach der Wurzel, unterscheiden sich je nach dem
Geschlecht in der Färbung und ermangeln beim Männchen eines Males. Bei dieser Gattung
nehmen außerdem die Raife Zangenform an. Die anatomischen Untersuchungen haben ergeben,
daß die Larven nicht nur durch Schwanz-, sondern gleichzeitig durch Darmkiemen athmen. Jene
bestehen aus drei langen Flossen, zwei fast dreikantigen äußeren, tiefer stehenden und einer etwas
kürzeren und höher gerückten in der Mitte. Eine vorn gespaltene Maske, vor den Augen auf
kantigem, kräftigem Grundgliede eingelenkte Fühler, welche in ihren sieben Gliedern den Kopf an
Länge übertreffen, und Nebenangen charakterisiren überdies diese schlanken, langbeinigen Thiere,
deren Form in gleicher Weise bei keiner andern Gattung vorkommt. Eine der häufigsten und
verbreitetsten Arten ist die gemeine Seejungfer (O. virgo). Das Weibchen hat branne Flügel
mit weißem Male und einen metallisch schmaragdgrünen Körper, das Männchen dagegen, das wir
auf dem Bilde "Eierlegen einer Schlankjungfer" fliegend erblicken, erscheint durchaus wie in Stahl
gekleidet, intensiv dunkelblau. Genau genommen sehen die Flügel auch braun aus, schillern aber
der Regel nach in jener Farbe mit Ausnahme der lichteren Spitze; doch finden sich auch Jndivi-
dnen -- man hat sie "unreise" genannt, C. vesta Charpentier's -- bei denen der Schiller voll-
ständig wegbleibt und die branne Grundfarbe zur Geltung kommt. Die Körperlänge beträgt
20 bis 22 Linien. Mit der gemeinen Seejungfer darf die im Juli und August gleichzeitig fliegende
C. splendens nicht verwechselt werden; ihre Flügel sind schmäler, durchsichtig und haben beim
Männchen eine blaue Querbinde vor der Spitze, beim Weibchen grünes Geäder.

Die Gattung Lestes (Schlankjungfer) charakterisiren schmälere Flügel, welche an der
Wurzel deutlich gestielt sind, weitere, zum Theil fünfeckige Maschen und im Vergleich zu diesen

Die Geradflügler. Waſſerjungfern.
auch nicht mehr fern. Die bisher matten Augen werden glänzend und durchſichtig, die Haut an
allen Theilen des Körpers wird immer trockner und zerreißt endlich vom Nacken bis vorn auf
den Kopf. Dieſe Theile kommen nun zunächſt heraus, dann folgen die Beine, welche durch Zurück-
biegen der vorderen Körpertheile den oberſten Platz einnehmen und lebhaft in der Luft umher
fechten, bis endlich durch die Ermattung eine allgemeine Ruhe eintritt. Jetzt beginnt der zweite
Akt. Mit einem Ruck erhebt ſich der bis dahin herabhängende freie Körpertheil, die Füße ſetzen
ſich an den Kopftheil der hier hellen Puppenhaut feſt und nun wird der Hinterleib herausgezogen.
So ruht die Neugeborne auf ihrer bis auf den Längsriß vorn unverſehrten Puppenhülſe. Die
Flügel ſind naß, eingeſchrumpft, längs- und querfaltig, allein zuſehends glättet ſich eine Falte nach
der andern und in kaum einer halben Stunde hängen ſie in ihrer vollen Größe, an einandergelegt
auf der ſcharfen Kante ſtehend, ohne allen Halt, aber wie Silber glänzend, längs des Körpers
herab. Zwei Stunden vergehen noch, ehe die Luft ihnen alle überflüſſige Feuchtigkeit benimmt
und mit dem Trocknen die zum Gebrauch nöthige Steifheit verleiht; zur völligen Ausfärbung
bedarf es aber noch längerer Zeit. Sind jedoch erſt die Flügel trocken, ſo ſchwingt ſich „die Teufels-
nadel“ mit ihnen in die Lüſte und beginnt ihr Räuberhandwerk in dieſen mit noch größerer Energie
und Gewandtheit als bisher in ihrem unvollkommeneren Waſſerleben.

Man kennt zur Zeit zwiſchen Tauſend und elfhundert Arten, welche über alle Erdtheile ver-
breitet ſind, in den Tropen aber reichlicher, wenn auch mit nur wenigen Ausnahmen nicht ſchöner
und größer, als in den gemäßigten und kalten Erdſtrichen vorkommen. Von jener Anzahl ernährt
Europa ungeſähr hundert und darunter ſolche, die auch anderwärts heimaten, wie beiſpielsweiſe
Libellula pedemontana in Sibirien, Aeschna juncea in Transkaukaſien, Anax Parthenope in
Afrika; Anax formosus findet ſich von Schweden und dem Uralgebirge an durch ganz Europa
und Afrika.

Die Seejungfern (Calopteryx) gehören zur Sippe der Agrioniden (Agrionidae), welche
durch einen breiten, hammerförmigen Kopf, einen drehrunden, dünnen Hinterleib, eine zwiſchen
den inneren Laden tief ausgeſchnittene Unterlippe im vollendeten Zuſtande, durch Schwanzkiemen
und eine flache Maske im Larvenſtande charakteriſirt werden. Bei der genannten Gattung ver-
ſchmälern ſich die engmaſchigen Flügel allmälig nach der Wurzel, unterſcheiden ſich je nach dem
Geſchlecht in der Färbung und ermangeln beim Männchen eines Males. Bei dieſer Gattung
nehmen außerdem die Raife Zangenform an. Die anatomiſchen Unterſuchungen haben ergeben,
daß die Larven nicht nur durch Schwanz-, ſondern gleichzeitig durch Darmkiemen athmen. Jene
beſtehen aus drei langen Floſſen, zwei faſt dreikantigen äußeren, tiefer ſtehenden und einer etwas
kürzeren und höher gerückten in der Mitte. Eine vorn geſpaltene Maske, vor den Augen auf
kantigem, kräftigem Grundgliede eingelenkte Fühler, welche in ihren ſieben Gliedern den Kopf an
Länge übertreffen, und Nebenangen charakteriſiren überdies dieſe ſchlanken, langbeinigen Thiere,
deren Form in gleicher Weiſe bei keiner andern Gattung vorkommt. Eine der häufigſten und
verbreitetſten Arten iſt die gemeine Seejungfer (O. virgo). Das Weibchen hat branne Flügel
mit weißem Male und einen metalliſch ſchmaragdgrünen Körper, das Männchen dagegen, das wir
auf dem Bilde „Eierlegen einer Schlankjungfer“ fliegend erblicken, erſcheint durchaus wie in Stahl
gekleidet, intenſiv dunkelblau. Genau genommen ſehen die Flügel auch braun aus, ſchillern aber
der Regel nach in jener Farbe mit Ausnahme der lichteren Spitze; doch finden ſich auch Jndivi-
dnen — man hat ſie „unreiſe“ genannt, C. vesta Charpentier’s — bei denen der Schiller voll-
ſtändig wegbleibt und die branne Grundfarbe zur Geltung kommt. Die Körperlänge beträgt
20 bis 22 Linien. Mit der gemeinen Seejungfer darf die im Juli und Auguſt gleichzeitig fliegende
C. splendens nicht verwechſelt werden; ihre Flügel ſind ſchmäler, durchſichtig und haben beim
Männchen eine blaue Querbinde vor der Spitze, beim Weibchen grünes Geäder.

Die Gattung Lestes (Schlankjungfer) charakteriſiren ſchmälere Flügel, welche an der
Wurzel deutlich geſtielt ſind, weitere, zum Theil fünfeckige Maſchen und im Vergleich zu dieſen

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[448/0476] Die Geradflügler. Waſſerjungfern. auch nicht mehr fern. Die bisher matten Augen werden glänzend und durchſichtig, die Haut an allen Theilen des Körpers wird immer trockner und zerreißt endlich vom Nacken bis vorn auf den Kopf. Dieſe Theile kommen nun zunächſt heraus, dann folgen die Beine, welche durch Zurück- biegen der vorderen Körpertheile den oberſten Platz einnehmen und lebhaft in der Luft umher fechten, bis endlich durch die Ermattung eine allgemeine Ruhe eintritt. Jetzt beginnt der zweite Akt. Mit einem Ruck erhebt ſich der bis dahin herabhängende freie Körpertheil, die Füße ſetzen ſich an den Kopftheil der hier hellen Puppenhaut feſt und nun wird der Hinterleib herausgezogen. So ruht die Neugeborne auf ihrer bis auf den Längsriß vorn unverſehrten Puppenhülſe. Die Flügel ſind naß, eingeſchrumpft, längs- und querfaltig, allein zuſehends glättet ſich eine Falte nach der andern und in kaum einer halben Stunde hängen ſie in ihrer vollen Größe, an einandergelegt auf der ſcharfen Kante ſtehend, ohne allen Halt, aber wie Silber glänzend, längs des Körpers herab. Zwei Stunden vergehen noch, ehe die Luft ihnen alle überflüſſige Feuchtigkeit benimmt und mit dem Trocknen die zum Gebrauch nöthige Steifheit verleiht; zur völligen Ausfärbung bedarf es aber noch längerer Zeit. Sind jedoch erſt die Flügel trocken, ſo ſchwingt ſich „die Teufels- nadel“ mit ihnen in die Lüſte und beginnt ihr Räuberhandwerk in dieſen mit noch größerer Energie und Gewandtheit als bisher in ihrem unvollkommeneren Waſſerleben. Man kennt zur Zeit zwiſchen Tauſend und elfhundert Arten, welche über alle Erdtheile ver- breitet ſind, in den Tropen aber reichlicher, wenn auch mit nur wenigen Ausnahmen nicht ſchöner und größer, als in den gemäßigten und kalten Erdſtrichen vorkommen. Von jener Anzahl ernährt Europa ungeſähr hundert und darunter ſolche, die auch anderwärts heimaten, wie beiſpielsweiſe Libellula pedemontana in Sibirien, Aeschna juncea in Transkaukaſien, Anax Parthenope in Afrika; Anax formosus findet ſich von Schweden und dem Uralgebirge an durch ganz Europa und Afrika. Die Seejungfern (Calopteryx) gehören zur Sippe der Agrioniden (Agrionidae), welche durch einen breiten, hammerförmigen Kopf, einen drehrunden, dünnen Hinterleib, eine zwiſchen den inneren Laden tief ausgeſchnittene Unterlippe im vollendeten Zuſtande, durch Schwanzkiemen und eine flache Maske im Larvenſtande charakteriſirt werden. Bei der genannten Gattung ver- ſchmälern ſich die engmaſchigen Flügel allmälig nach der Wurzel, unterſcheiden ſich je nach dem Geſchlecht in der Färbung und ermangeln beim Männchen eines Males. Bei dieſer Gattung nehmen außerdem die Raife Zangenform an. Die anatomiſchen Unterſuchungen haben ergeben, daß die Larven nicht nur durch Schwanz-, ſondern gleichzeitig durch Darmkiemen athmen. Jene beſtehen aus drei langen Floſſen, zwei faſt dreikantigen äußeren, tiefer ſtehenden und einer etwas kürzeren und höher gerückten in der Mitte. Eine vorn geſpaltene Maske, vor den Augen auf kantigem, kräftigem Grundgliede eingelenkte Fühler, welche in ihren ſieben Gliedern den Kopf an Länge übertreffen, und Nebenangen charakteriſiren überdies dieſe ſchlanken, langbeinigen Thiere, deren Form in gleicher Weiſe bei keiner andern Gattung vorkommt. Eine der häufigſten und verbreitetſten Arten iſt die gemeine Seejungfer (O. virgo). Das Weibchen hat branne Flügel mit weißem Male und einen metalliſch ſchmaragdgrünen Körper, das Männchen dagegen, das wir auf dem Bilde „Eierlegen einer Schlankjungfer“ fliegend erblicken, erſcheint durchaus wie in Stahl gekleidet, intenſiv dunkelblau. Genau genommen ſehen die Flügel auch braun aus, ſchillern aber der Regel nach in jener Farbe mit Ausnahme der lichteren Spitze; doch finden ſich auch Jndivi- dnen — man hat ſie „unreiſe“ genannt, C. vesta Charpentier’s — bei denen der Schiller voll- ſtändig wegbleibt und die branne Grundfarbe zur Geltung kommt. Die Körperlänge beträgt 20 bis 22 Linien. Mit der gemeinen Seejungfer darf die im Juli und Auguſt gleichzeitig fliegende C. splendens nicht verwechſelt werden; ihre Flügel ſind ſchmäler, durchſichtig und haben beim Männchen eine blaue Querbinde vor der Spitze, beim Weibchen grünes Geäder. Die Gattung Lestes (Schlankjungfer) charakteriſiren ſchmälere Flügel, welche an der Wurzel deutlich geſtielt ſind, weitere, zum Theil fünfeckige Maſchen und im Vergleich zu dieſen

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 6. Hildburghausen, 1869, S. 448. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben06_1869/476>, abgerufen am 24.11.2024.