Ueber dem hier in der Ueberschrift befindlichen Namen waltet das in der Naturgeschichte leider nicht seltene Verhängniß, daß er, sofern er eine charakteristische Eigenthümlichkeit der Thier- gruppe, welcher er gegeben, bezeichnen soll, gänzlich falsch ist. Die Weichthiere, zu denen wir uns hier wenden, haben weder Arme noch Füße, weder Arme, die sich mit den um den Mund gestellten Fang- und Gehwerkzeugen der Cephalopoden, noch einen Fuß, welcher sich mit der Sohle der Schnecke oder mit dem Keilfuß der Muscheln vergleichen läßt. Die früheren Natur- forscher haben ihnen eine Beziehung angedichtet, welche nicht existiert, und nach welcher man deßhalb greifen zu können glaubte, weil eine andre, ebenfalls ungerechtfertigte Analogie dazu verleitete. Man bezeichnet nämlich mit dem obigen Namen der Armfüßer oder Brachiopoda eine in den früheren vorweltlichen Perioden viel zahlreicher als jetzt vertretene Thiergruppe, welche durch ein zweiklappiges Gehäus sich auf das engste an die Muschelthiere anzuschließen scheint, so eng, daß man bis in die neuere Zeit hinein sie als eine bloße, den Rang einer Ordnung einnehmende Unterabtheilung jener Klasse anzusehen gewohnt war. Jn zwei spiralig eingerollten Organen, welche neben der Mundöffnung entspringen, glaubte man die zum Herbei- holen der Nahrung verwendbaren Werkzeuge erblicken zu müssen, indem man vielleicht unwill- kürlich an die damals von Cuvier auch für Weichthiere gehaltenen Rankeufüßer (siehe Seite 668) dachte. Das Mißverständniß konnte um so eher sich einnisten, als bis vor einem Jahrzehnt die Thiere fast nie lebend beobachtet wurden, und erst diese neueste Periode die Aufklärung brachte, jene vermeintlichen Fangarme seien gar nicht im Stande, diesen Dienst zu verrichten, und seien in Wahrheit die Kiemen. Aus diesen wenigen Worten geht hervor, daß von den Lebensäußerungen und den Thaten dieser Thiere wenig zu berichten sein wird, ja, die wenigsten Zoologen von Fach haben je eine Brachiopode lebendig gesehen, und ich, der ich mehrere Arten aus der Tiefe des Meeres mit dem Schleppnetz hervorgeholt und für die Beobachtung in meinen Gläsern gehalten, kann versichern, daß man nicht viel daran verliert, indem sie zu den langweiligsten und ver- schlossensten Mitgliedern der großen Lebewelt gehören.
Glücklicher Weise sind andere Seiten an ihnen der Beachtung und Betrachtung höchst werth. Zuerst will Komposition und Stil ihres Körpers verstanden sein, und indem uns dieß zum größten Theil gelingen wird, sinden wir in den Armfüßern das verkörperte Stabilitätsprincip. Jn ihrer ungemeinen Passivität haben sie seit den ältesten Perioden der thierischen Schöpfung, welche uns näher bekannt sind, die Wogen und den Druck des Meeres über sich hingehen lassen und ertragen, ohne sich wesentlich zu verändern. Die Blüthezeit der Klasse ist längst vorüber; nicht nur in Arten, sondern noch viel mehr in Jndividuenzahl wucherten sie einst so, daß stellen- weise aus ihren Anhäufungen dicke Felsenschichten entstanden, und daß dem Geognosten ihr Vor- kommen ein unentbehrliches Hilfsmittel zur näheren Bestimmung der Reihenfolge in den älteren
Die Armfüßer.
Ueber dem hier in der Ueberſchrift befindlichen Namen waltet das in der Naturgeſchichte leider nicht ſeltene Verhängniß, daß er, ſofern er eine charakteriſtiſche Eigenthümlichkeit der Thier- gruppe, welcher er gegeben, bezeichnen ſoll, gänzlich falſch iſt. Die Weichthiere, zu denen wir uns hier wenden, haben weder Arme noch Füße, weder Arme, die ſich mit den um den Mund geſtellten Fang- und Gehwerkzeugen der Cephalopoden, noch einen Fuß, welcher ſich mit der Sohle der Schnecke oder mit dem Keilfuß der Muſcheln vergleichen läßt. Die früheren Natur- forſcher haben ihnen eine Beziehung angedichtet, welche nicht exiſtiert, und nach welcher man deßhalb greifen zu können glaubte, weil eine andre, ebenfalls ungerechtfertigte Analogie dazu verleitete. Man bezeichnet nämlich mit dem obigen Namen der Armfüßer oder Brachiopoda eine in den früheren vorweltlichen Perioden viel zahlreicher als jetzt vertretene Thiergruppe, welche durch ein zweiklappiges Gehäus ſich auf das engſte an die Muſchelthiere anzuſchließen ſcheint, ſo eng, daß man bis in die neuere Zeit hinein ſie als eine bloße, den Rang einer Ordnung einnehmende Unterabtheilung jener Klaſſe anzuſehen gewohnt war. Jn zwei ſpiralig eingerollten Organen, welche neben der Mundöffnung entſpringen, glaubte man die zum Herbei- holen der Nahrung verwendbaren Werkzeuge erblicken zu müſſen, indem man vielleicht unwill- kürlich an die damals von Cuvier auch für Weichthiere gehaltenen Rankeufüßer (ſiehe Seite 668) dachte. Das Mißverſtändniß konnte um ſo eher ſich einniſten, als bis vor einem Jahrzehnt die Thiere faſt nie lebend beobachtet wurden, und erſt dieſe neueſte Periode die Aufklärung brachte, jene vermeintlichen Fangarme ſeien gar nicht im Stande, dieſen Dienſt zu verrichten, und ſeien in Wahrheit die Kiemen. Aus dieſen wenigen Worten geht hervor, daß von den Lebensäußerungen und den Thaten dieſer Thiere wenig zu berichten ſein wird, ja, die wenigſten Zoologen von Fach haben je eine Brachiopode lebendig geſehen, und ich, der ich mehrere Arten aus der Tiefe des Meeres mit dem Schleppnetz hervorgeholt und für die Beobachtung in meinen Gläſern gehalten, kann verſichern, daß man nicht viel daran verliert, indem ſie zu den langweiligſten und ver- ſchloſſenſten Mitgliedern der großen Lebewelt gehören.
Glücklicher Weiſe ſind andere Seiten an ihnen der Beachtung und Betrachtung höchſt werth. Zuerſt will Kompoſition und Stil ihres Körpers verſtanden ſein, und indem uns dieß zum größten Theil gelingen wird, ſinden wir in den Armfüßern das verkörperte Stabilitätsprincip. Jn ihrer ungemeinen Paſſivität haben ſie ſeit den älteſten Perioden der thieriſchen Schöpfung, welche uns näher bekannt ſind, die Wogen und den Druck des Meeres über ſich hingehen laſſen und ertragen, ohne ſich weſentlich zu verändern. Die Blüthezeit der Klaſſe iſt längſt vorüber; nicht nur in Arten, ſondern noch viel mehr in Jndividuenzahl wucherten ſie einſt ſo, daß ſtellen- weiſe aus ihren Anhäufungen dicke Felſenſchichten entſtanden, und daß dem Geognoſten ihr Vor- kommen ein unentbehrliches Hilfsmittel zur näheren Beſtimmung der Reihenfolge in den älteren
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[[958]/1006]
Die Armfüßer.
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leider nicht ſeltene Verhängniß, daß er, ſofern er eine charakteriſtiſche Eigenthümlichkeit der Thier-
gruppe, welcher er gegeben, bezeichnen ſoll, gänzlich falſch iſt. Die Weichthiere, zu denen wir
uns hier wenden, haben weder Arme noch Füße, weder Arme, die ſich mit den um den Mund
geſtellten Fang- und Gehwerkzeugen der Cephalopoden, noch einen Fuß, welcher ſich mit der
Sohle der Schnecke oder mit dem Keilfuß der Muſcheln vergleichen läßt. Die früheren Natur-
forſcher haben ihnen eine Beziehung angedichtet, welche nicht exiſtiert, und nach welcher man
deßhalb greifen zu können glaubte, weil eine andre, ebenfalls ungerechtfertigte Analogie dazu
verleitete. Man bezeichnet nämlich mit dem obigen Namen der Armfüßer oder Brachiopoda
eine in den früheren vorweltlichen Perioden viel zahlreicher als jetzt vertretene Thiergruppe,
welche durch ein zweiklappiges Gehäus ſich auf das engſte an die Muſchelthiere anzuſchließen
ſcheint, ſo eng, daß man bis in die neuere Zeit hinein ſie als eine bloße, den Rang einer
Ordnung einnehmende Unterabtheilung jener Klaſſe anzuſehen gewohnt war. Jn zwei ſpiralig
eingerollten Organen, welche neben der Mundöffnung entſpringen, glaubte man die zum Herbei-
holen der Nahrung verwendbaren Werkzeuge erblicken zu müſſen, indem man vielleicht unwill-
kürlich an die damals von Cuvier auch für Weichthiere gehaltenen Rankeufüßer (ſiehe Seite 668)
dachte. Das Mißverſtändniß konnte um ſo eher ſich einniſten, als bis vor einem Jahrzehnt die
Thiere faſt nie lebend beobachtet wurden, und erſt dieſe neueſte Periode die Aufklärung brachte,
jene vermeintlichen Fangarme ſeien gar nicht im Stande, dieſen Dienſt zu verrichten, und ſeien
in Wahrheit die Kiemen. Aus dieſen wenigen Worten geht hervor, daß von den Lebensäußerungen
und den Thaten dieſer Thiere wenig zu berichten ſein wird, ja, die wenigſten Zoologen von Fach
haben je eine Brachiopode lebendig geſehen, und ich, der ich mehrere Arten aus der Tiefe des
Meeres mit dem Schleppnetz hervorgeholt und für die Beobachtung in meinen Gläſern gehalten,
kann verſichern, daß man nicht viel daran verliert, indem ſie zu den langweiligſten und ver-
ſchloſſenſten Mitgliedern der großen Lebewelt gehören.
Glücklicher Weiſe ſind andere Seiten an ihnen der Beachtung und Betrachtung höchſt werth.
Zuerſt will Kompoſition und Stil ihres Körpers verſtanden ſein, und indem uns dieß zum
größten Theil gelingen wird, ſinden wir in den Armfüßern das verkörperte Stabilitätsprincip.
Jn ihrer ungemeinen Paſſivität haben ſie ſeit den älteſten Perioden der thieriſchen Schöpfung,
welche uns näher bekannt ſind, die Wogen und den Druck des Meeres über ſich hingehen laſſen
und ertragen, ohne ſich weſentlich zu verändern. Die Blüthezeit der Klaſſe iſt längſt vorüber;
nicht nur in Arten, ſondern noch viel mehr in Jndividuenzahl wucherten ſie einſt ſo, daß ſtellen-
weiſe aus ihren Anhäufungen dicke Felſenſchichten entſtanden, und daß dem Geognoſten ihr Vor-
kommen ein unentbehrliches Hilfsmittel zur näheren Beſtimmung der Reihenfolge in den älteren
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 6. Hildburghausen, 1869, S. [958]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben06_1869/1006>, abgerufen am 23.11.2024.
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