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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 5. Hildburghausen, 1869.

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Blindschleiche.
die Wärme bringt. Zwanzig Stücke, mit denen Lenz Versuche anstellte, waren bei anderthalb bis
zwei Grad Wärme ziemlich steif, rührten sich aber doch noch, wenn sie angegriffen wurden; einzelne
krochen auch, nachdem sie wieder in ihre Kiste gelegt worden waren, langsam umher. Alle hatten
die Augenlider fest geschlossen, und nur zwei öffneten sie ein wenig, während sie in die Hand
genommen wurden, die anderen schlossen sie sofort wieder, wenn man sie ihnen gewaltsam öffnete.
Als sich die Wärme bis auf drei Grad unter Null vermindert hatte, lagen alle starr in der sie schützenden
Kleie, keine einzige aber erfror, während mehrere echte Schlangen, welche denselben Aufenthalt zu
theilen hatten, der Kälte erlagen. Bei noch härterem Froste gehen aber auch die Blindschleichen
unrettbar zu Grunde. Jm Frühling erscheinen sie bei gutem Wetter bereits im März und beginnen,
falls sie nicht ein später Winter wieder zurückschreckt, fortan ihr Sommerleben.

Die Nahrung besteht fast ausschließlich aus Nacktschnecken und Regenwürmern; nebenbei nimmt
sie auch glatte Raupen zu sich; sie ist aber außer Stande, irgend ein schnelleres Thier zu fangen.
An Gefangenen beobachtete Lenz, daß sie sich dem ihr vorgeworfenen Wurme sehr langsam nähert, ihn
meist erst mit der Zunge befühlt, sodann langsam den Rachen aufsperrt und das Opfer endlich packt.
Der Wurm windet sich aus Leibeskräften; sie wartet, bis er sich ziemlich abgemattet hat und
verschluckt ihn dann nach und nach, den Kopf bald rechts, bald links biegend und so mit den Zähnen
vorwärts greifend. An einem einzigen Regenwurme, welchen sie verschluckt, arbeitet sie fünf bis sechs
Minuten, hat auch an einem oder zwei mittelgroßen für eine Mahlzeit genug.

Es mag sein, daß sie bei Tage ein ihr vor das Maul kommendes Beutestück ergreift und hinab-
würgt; in der Regel aber geht sie erst nach Sonnenuntergang auf Jagd aus. Uebertages liegt sie,
wie andere Kriechthiere, stundenlang im Sonnenscheine, gewöhnlich mit auf den Boden gesenktem
Kopfe, behaglich der ihr wohlthuenden Wärme sich hingebend. Jhre Bewegungen sind langsam.
Bergab läust sie mit einiger Schnelligkeit, auf ebenem Boden so gemäßigt, daß man mit ruhigem
Schritte bequem nebenher gehen kann, bergauf noch viel langsamer. Legt man sie auf eine Glas-
scheibe, so wird es ihr sehr schwer, von der Stelle zu kommen; doch hilft sie sich nach und nach durch
ihre seitlichen Krümmungen fort. Jn das Wasser geht sie nicht, obgleich sie feuchten Boden gar nicht
scheut; wirft man sie hinein, so schwimmt sie, indem sie sich seitlich krümmt, recht flink, gewöhnlich
so, daß das Köpfchen über die Oberfläche erhoben wird, zuweilen jedoch auch auf dem Rücken; immer
aber sucht sie bald das Trockene wieder zu gewinnen. Unter ihren Sinnen steht unzweifelhaft der
des Gesichtes obenan, trotz des schwer begreiflichen Volksnamens, welcher dem Thiere geworden ist.
Sie hat zwei hübsche Augen mit goldgelber Regenbogenhaut und dunklem Stern, mit welchem sie
sehr gut sieht. Auch das Gehör ist einigermaßen entwickelt, wie man durch Versuche an Gefangenen
leicht wahrnehmen kann. Ueber die niederen Sinne vermag man nicht zu urtheilen. Das Wesen
kann als gutartig bezeichnet werden. Gewöhnlich läßt sie sich fangen, ohne sich irgendwie zu
vertheidigen; ausnahmsweise macht sie jedoch von ihrem Gebisse Gebrauch, selbstverständlich ohne
dadurch irgend einen ihrer Gegner abschrecken zu können. Der Verstand ist überaus schwach. Sie
zeigt sich nicht einmal scheu und noch viel weniger listig und entgeht den meisten Feinden gewöhnlich
blos dadurch, daß sie, ergriffen, sich heftig, ja unbändig bewegt und dabei meist ein Stück ihres
Schwanzes abbricht. "Während nun das abgebrochene Stück", sagt Lenz, "noch voll Leben herum-
tanzt und von dem Feinde ergriffen wird, findet sie Gelegenheit, sich aus dem Staube zu machen.
Dies kann man leicht beobachten, wenn man verschiedene Thiere mit Blindschleichen füttert." Jm
übrigen vertheidigt sie sich niemals gegen einen stärkeren Feind, er möge einen Namen haben, welchen
er wolle. Jm Verlaufe der Zeit fügt sie sich jedoch in die veränderten Umstände, so in die
Gefangenschaft und in ihren Pfleger. "Jst sie", nach Lenz, "einmal an den Menschen gewöhnt, so
läßt sie sich recht gern in die Hand nehmen, schmiegt sich darin, vorzüglich zwischen die Finger mit
dem Kopfe und dem Schwanzende und scheint somit ein Versteck zu suchen." Mit verschiedenen
Schlangen, Fröschen und Eidechsen verträgt sie sich sehr gut, aus dem einfachen Grunde, weil sie
herzlich froh zu sein scheint, wenn ihr kein anderes Thier zu Leibe geht. Gleich anderen Kriechthieren

Blindſchleiche.
die Wärme bringt. Zwanzig Stücke, mit denen Lenz Verſuche anſtellte, waren bei anderthalb bis
zwei Grad Wärme ziemlich ſteif, rührten ſich aber doch noch, wenn ſie angegriffen wurden; einzelne
krochen auch, nachdem ſie wieder in ihre Kiſte gelegt worden waren, langſam umher. Alle hatten
die Augenlider feſt geſchloſſen, und nur zwei öffneten ſie ein wenig, während ſie in die Hand
genommen wurden, die anderen ſchloſſen ſie ſofort wieder, wenn man ſie ihnen gewaltſam öffnete.
Als ſich die Wärme bis auf drei Grad unter Null vermindert hatte, lagen alle ſtarr in der ſie ſchützenden
Kleie, keine einzige aber erfror, während mehrere echte Schlangen, welche denſelben Aufenthalt zu
theilen hatten, der Kälte erlagen. Bei noch härterem Froſte gehen aber auch die Blindſchleichen
unrettbar zu Grunde. Jm Frühling erſcheinen ſie bei gutem Wetter bereits im März und beginnen,
falls ſie nicht ein ſpäter Winter wieder zurückſchreckt, fortan ihr Sommerleben.

Die Nahrung beſteht faſt ausſchließlich aus Nacktſchnecken und Regenwürmern; nebenbei nimmt
ſie auch glatte Raupen zu ſich; ſie iſt aber außer Stande, irgend ein ſchnelleres Thier zu fangen.
An Gefangenen beobachtete Lenz, daß ſie ſich dem ihr vorgeworfenen Wurme ſehr langſam nähert, ihn
meiſt erſt mit der Zunge befühlt, ſodann langſam den Rachen aufſperrt und das Opfer endlich packt.
Der Wurm windet ſich aus Leibeskräften; ſie wartet, bis er ſich ziemlich abgemattet hat und
verſchluckt ihn dann nach und nach, den Kopf bald rechts, bald links biegend und ſo mit den Zähnen
vorwärts greifend. An einem einzigen Regenwurme, welchen ſie verſchluckt, arbeitet ſie fünf bis ſechs
Minuten, hat auch an einem oder zwei mittelgroßen für eine Mahlzeit genug.

Es mag ſein, daß ſie bei Tage ein ihr vor das Maul kommendes Beuteſtück ergreift und hinab-
würgt; in der Regel aber geht ſie erſt nach Sonnenuntergang auf Jagd aus. Uebertages liegt ſie,
wie andere Kriechthiere, ſtundenlang im Sonnenſcheine, gewöhnlich mit auf den Boden geſenktem
Kopfe, behaglich der ihr wohlthuenden Wärme ſich hingebend. Jhre Bewegungen ſind langſam.
Bergab läuſt ſie mit einiger Schnelligkeit, auf ebenem Boden ſo gemäßigt, daß man mit ruhigem
Schritte bequem nebenher gehen kann, bergauf noch viel langſamer. Legt man ſie auf eine Glas-
ſcheibe, ſo wird es ihr ſehr ſchwer, von der Stelle zu kommen; doch hilft ſie ſich nach und nach durch
ihre ſeitlichen Krümmungen fort. Jn das Waſſer geht ſie nicht, obgleich ſie feuchten Boden gar nicht
ſcheut; wirft man ſie hinein, ſo ſchwimmt ſie, indem ſie ſich ſeitlich krümmt, recht flink, gewöhnlich
ſo, daß das Köpfchen über die Oberfläche erhoben wird, zuweilen jedoch auch auf dem Rücken; immer
aber ſucht ſie bald das Trockene wieder zu gewinnen. Unter ihren Sinnen ſteht unzweifelhaft der
des Geſichtes obenan, trotz des ſchwer begreiflichen Volksnamens, welcher dem Thiere geworden iſt.
Sie hat zwei hübſche Augen mit goldgelber Regenbogenhaut und dunklem Stern, mit welchem ſie
ſehr gut ſieht. Auch das Gehör iſt einigermaßen entwickelt, wie man durch Verſuche an Gefangenen
leicht wahrnehmen kann. Ueber die niederen Sinne vermag man nicht zu urtheilen. Das Weſen
kann als gutartig bezeichnet werden. Gewöhnlich läßt ſie ſich fangen, ohne ſich irgendwie zu
vertheidigen; ausnahmsweiſe macht ſie jedoch von ihrem Gebiſſe Gebrauch, ſelbſtverſtändlich ohne
dadurch irgend einen ihrer Gegner abſchrecken zu können. Der Verſtand iſt überaus ſchwach. Sie
zeigt ſich nicht einmal ſcheu und noch viel weniger liſtig und entgeht den meiſten Feinden gewöhnlich
blos dadurch, daß ſie, ergriffen, ſich heftig, ja unbändig bewegt und dabei meiſt ein Stück ihres
Schwanzes abbricht. „Während nun das abgebrochene Stück“, ſagt Lenz, „noch voll Leben herum-
tanzt und von dem Feinde ergriffen wird, findet ſie Gelegenheit, ſich aus dem Staube zu machen.
Dies kann man leicht beobachten, wenn man verſchiedene Thiere mit Blindſchleichen füttert.“ Jm
übrigen vertheidigt ſie ſich niemals gegen einen ſtärkeren Feind, er möge einen Namen haben, welchen
er wolle. Jm Verlaufe der Zeit fügt ſie ſich jedoch in die veränderten Umſtände, ſo in die
Gefangenſchaft und in ihren Pfleger. „Jſt ſie“, nach Lenz, „einmal an den Menſchen gewöhnt, ſo
läßt ſie ſich recht gern in die Hand nehmen, ſchmiegt ſich darin, vorzüglich zwiſchen die Finger mit
dem Kopfe und dem Schwanzende und ſcheint ſomit ein Verſteck zu ſuchen.“ Mit verſchiedenen
Schlangen, Fröſchen und Eidechſen verträgt ſie ſich ſehr gut, aus dem einfachen Grunde, weil ſie
herzlich froh zu ſein ſcheint, wenn ihr kein anderes Thier zu Leibe geht. Gleich anderen Kriechthieren

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[165/0185] Blindſchleiche. die Wärme bringt. Zwanzig Stücke, mit denen Lenz Verſuche anſtellte, waren bei anderthalb bis zwei Grad Wärme ziemlich ſteif, rührten ſich aber doch noch, wenn ſie angegriffen wurden; einzelne krochen auch, nachdem ſie wieder in ihre Kiſte gelegt worden waren, langſam umher. Alle hatten die Augenlider feſt geſchloſſen, und nur zwei öffneten ſie ein wenig, während ſie in die Hand genommen wurden, die anderen ſchloſſen ſie ſofort wieder, wenn man ſie ihnen gewaltſam öffnete. Als ſich die Wärme bis auf drei Grad unter Null vermindert hatte, lagen alle ſtarr in der ſie ſchützenden Kleie, keine einzige aber erfror, während mehrere echte Schlangen, welche denſelben Aufenthalt zu theilen hatten, der Kälte erlagen. Bei noch härterem Froſte gehen aber auch die Blindſchleichen unrettbar zu Grunde. Jm Frühling erſcheinen ſie bei gutem Wetter bereits im März und beginnen, falls ſie nicht ein ſpäter Winter wieder zurückſchreckt, fortan ihr Sommerleben. Die Nahrung beſteht faſt ausſchließlich aus Nacktſchnecken und Regenwürmern; nebenbei nimmt ſie auch glatte Raupen zu ſich; ſie iſt aber außer Stande, irgend ein ſchnelleres Thier zu fangen. An Gefangenen beobachtete Lenz, daß ſie ſich dem ihr vorgeworfenen Wurme ſehr langſam nähert, ihn meiſt erſt mit der Zunge befühlt, ſodann langſam den Rachen aufſperrt und das Opfer endlich packt. Der Wurm windet ſich aus Leibeskräften; ſie wartet, bis er ſich ziemlich abgemattet hat und verſchluckt ihn dann nach und nach, den Kopf bald rechts, bald links biegend und ſo mit den Zähnen vorwärts greifend. An einem einzigen Regenwurme, welchen ſie verſchluckt, arbeitet ſie fünf bis ſechs Minuten, hat auch an einem oder zwei mittelgroßen für eine Mahlzeit genug. Es mag ſein, daß ſie bei Tage ein ihr vor das Maul kommendes Beuteſtück ergreift und hinab- würgt; in der Regel aber geht ſie erſt nach Sonnenuntergang auf Jagd aus. Uebertages liegt ſie, wie andere Kriechthiere, ſtundenlang im Sonnenſcheine, gewöhnlich mit auf den Boden geſenktem Kopfe, behaglich der ihr wohlthuenden Wärme ſich hingebend. Jhre Bewegungen ſind langſam. Bergab läuſt ſie mit einiger Schnelligkeit, auf ebenem Boden ſo gemäßigt, daß man mit ruhigem Schritte bequem nebenher gehen kann, bergauf noch viel langſamer. Legt man ſie auf eine Glas- ſcheibe, ſo wird es ihr ſehr ſchwer, von der Stelle zu kommen; doch hilft ſie ſich nach und nach durch ihre ſeitlichen Krümmungen fort. Jn das Waſſer geht ſie nicht, obgleich ſie feuchten Boden gar nicht ſcheut; wirft man ſie hinein, ſo ſchwimmt ſie, indem ſie ſich ſeitlich krümmt, recht flink, gewöhnlich ſo, daß das Köpfchen über die Oberfläche erhoben wird, zuweilen jedoch auch auf dem Rücken; immer aber ſucht ſie bald das Trockene wieder zu gewinnen. Unter ihren Sinnen ſteht unzweifelhaft der des Geſichtes obenan, trotz des ſchwer begreiflichen Volksnamens, welcher dem Thiere geworden iſt. Sie hat zwei hübſche Augen mit goldgelber Regenbogenhaut und dunklem Stern, mit welchem ſie ſehr gut ſieht. Auch das Gehör iſt einigermaßen entwickelt, wie man durch Verſuche an Gefangenen leicht wahrnehmen kann. Ueber die niederen Sinne vermag man nicht zu urtheilen. Das Weſen kann als gutartig bezeichnet werden. Gewöhnlich läßt ſie ſich fangen, ohne ſich irgendwie zu vertheidigen; ausnahmsweiſe macht ſie jedoch von ihrem Gebiſſe Gebrauch, ſelbſtverſtändlich ohne dadurch irgend einen ihrer Gegner abſchrecken zu können. Der Verſtand iſt überaus ſchwach. Sie zeigt ſich nicht einmal ſcheu und noch viel weniger liſtig und entgeht den meiſten Feinden gewöhnlich blos dadurch, daß ſie, ergriffen, ſich heftig, ja unbändig bewegt und dabei meiſt ein Stück ihres Schwanzes abbricht. „Während nun das abgebrochene Stück“, ſagt Lenz, „noch voll Leben herum- tanzt und von dem Feinde ergriffen wird, findet ſie Gelegenheit, ſich aus dem Staube zu machen. Dies kann man leicht beobachten, wenn man verſchiedene Thiere mit Blindſchleichen füttert.“ Jm übrigen vertheidigt ſie ſich niemals gegen einen ſtärkeren Feind, er möge einen Namen haben, welchen er wolle. Jm Verlaufe der Zeit fügt ſie ſich jedoch in die veränderten Umſtände, ſo in die Gefangenſchaft und in ihren Pfleger. „Jſt ſie“, nach Lenz, „einmal an den Menſchen gewöhnt, ſo läßt ſie ſich recht gern in die Hand nehmen, ſchmiegt ſich darin, vorzüglich zwiſchen die Finger mit dem Kopfe und dem Schwanzende und ſcheint ſomit ein Verſteck zu ſuchen.“ Mit verſchiedenen Schlangen, Fröſchen und Eidechſen verträgt ſie ſich ſehr gut, aus dem einfachen Grunde, weil ſie herzlich froh zu ſein ſcheint, wenn ihr kein anderes Thier zu Leibe geht. Gleich anderen Kriechthieren

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 5. Hildburghausen, 1869, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben05_1869/185>, abgerufen am 02.05.2024.