Jungfrau aus Numidien nannten schon die Alten einen kleinen Kranich, welcher ebenfalls in Europa lebt und brütet, und man kann die Wahl dieses Namens nur billigen. Der Vogel ist wirklich so schön, so anmuthig, daß er mit einer Jungfrau verglichen werden darf.
Der Jungfernkranich (Anthropoides Virgo) unterscheidet sich von seinem beschriebenen Verwandten und dessen Sippschaftsgenossen durch den kurzen, runden Schnabel, den ganz befiederten, hinten mit zwei langen Federzöpfen gezierten Kopf, das verlängerte Gefieder des Unterhalses und die nicht zerschlissenen und aufgekrempten, sondern nur verlängerten, aber die anderen weit überragenden Oberflügeldeckfedern. Das Gefieder, welches sich durch Zartheit auszeichnet, ist lichtbleigrau, der Vorderhals und sein herabwallender Schmuck tiefschwarz, die zopfartige Kopfzierde reinweiß; die Schwingen sind grauschwarz. Das Auge ist hochkarminroth, der Schnabel an der Wurzel schmuzig- grün, gegen die Spitze hin hornfarben, an ihr blaßroth, der Fuß schwarz. Die Länge beträgt 32 bis 33, die Breite 64, die Fittiglänge 17, die Schwanzlänge 6 Zoll.
Dem jungen Vogel fehlen die Schmuckfedern am Kopfe und Unterhalse.
Südosteuropa und Mittelasien sind die Heimat dieses überaus zierlichen Kranichs, in meinen Augen des schönsten und anmuthigsten Mitgliedes der Familie. Er bewohnt das Mündungsgebiet der Wolga und die Länder um das kaspische Meer überhaupt, die Tartarei und Mongolei und wandert vonhieraus bis nach Südindien oder Mittelafrika. Einzelne haben sich nach den südwestlichen Ländern Europas, einige auch bis nach Deutschland verflogen. Am kaspischen Meere und in Mittelasien muß er sehr häufig sein; denn die von ihm gebildeten Schwärme oder Heere, welche man in der Winter- herberge antrifft, sind zahlreicher als die seines Verwandten. Jn seiner Heimat bewohnt er ähnliche Oertlichkeiten wie dieser, findet sich aber, laut Radde, auch noch auf Gebirgen von 3500 Fuß über dem Meere. Jn der Winterherberge erscheint er zur selben Zeit wie jener und bricht auch im Früh- jahre gleichzeitig wieder auf. Als ich Mitte Oktobers sieberkrank den blauen Nil hinabschwamm, sah ich alle Sandinseln im Strome, welche sich bereits über dem Wasserspiegel erhoben, mit Kranichen bedeckt, schoß mit der Kugel unter einen der Haufen und erlegte zwei Jungfernkraniche. Sie waren soeben eingerückt. Genau dieselbe Zeit gibt Jerdon für ihr Kommen in Jndien an; es muß uns daher Wunder nehmen, wenn wir durch Radde erfahren, daß sie sich am Tarai-Nor schon Mitte Augusts versammelten, hier aus verschiedenen Himmelsgegenden eintrafen, am 15. August bereits zur Reise aufbrachen und am 30. gewöhnlich aus der Gegend verschwunden waren, da sie doch unmöglich solange Zeit zu ihrer Reise nach Jndien gebrauchen können. Aehnliches gilt für den Rück- zug. Aus Jndien und aus Südafrika brechen sie mit dem grauen Verwandten im März wieder auf; und gleichwohl erschienen sie, nach Radde, am Tarai-Nor erst mit dem 24. April in größerer Menge. Bei ihrer Ankunft im Ost-Sudahn befinden sie sich in voller Mauser. Das Kleingefieder ist bereits ersetzt, die Schwingen und die Schwanzfedern aber fallen erst später aus. Mitte Dezember haben sie die Mauserung vollendet.
Lebensweise und Wesen, Eigenschaften, Sitten und Gewohnheiten des Jungfernkranichs ent- sprechen im Wesentlichen denen seines Verwandten; doch ist jener in demselben Grade zierlicher, gewandter und anmuthiger als er schöner ist. Zwischen den Bewegungen der beiden bemerkt man keinen auffälligen Unterschied, und auch die Stimmlaute ähneln sich so täuschend, daß man erst nach längerer Uebung erkennen lernt, welchen von beiden man vernommen hat. Die fliegenden Jungfern- kraniche erkennt man an der geringeren Größe und an dem lichteren Gefieder, welches bei günstiger Beleuchtung fast weiß erscheint, schon aus weiter Entfernung. An geistiger Befähigung steht dieser Kranich hinter seinem größeren Vetter nicht zurück, meine Beobachtungen lassen mich im Gegentheile glauben, daß er noch klüger ist als jener. Auch er zeigt sich im höchsten Grade vorsichtig, wählt sich stets Ruheplätze, von denen aus er sich nach allen Seiten umschauen kann, verändert sie, wenn er einmal Störung erlitt, stellt Wachen und sendet Späher aus. Mit Ausnahme weniger, erlegten wir alle Jungfernkraniche nur während der Nacht auf den ihnen liebgewordenen Standplätzen, welche sie
Die Läufer. Stelzvögel. Kraniche. Kronenkraniche.
Jungfrau aus Numidien nannten ſchon die Alten einen kleinen Kranich, welcher ebenfalls in Europa lebt und brütet, und man kann die Wahl dieſes Namens nur billigen. Der Vogel iſt wirklich ſo ſchön, ſo anmuthig, daß er mit einer Jungfrau verglichen werden darf.
Der Jungfernkranich (Anthropoides Virgo) unterſcheidet ſich von ſeinem beſchriebenen Verwandten und deſſen Sippſchaftsgenoſſen durch den kurzen, runden Schnabel, den ganz befiederten, hinten mit zwei langen Federzöpfen gezierten Kopf, das verlängerte Gefieder des Unterhalſes und die nicht zerſchliſſenen und aufgekrempten, ſondern nur verlängerten, aber die anderen weit überragenden Oberflügeldeckfedern. Das Gefieder, welches ſich durch Zartheit auszeichnet, iſt lichtbleigrau, der Vorderhals und ſein herabwallender Schmuck tiefſchwarz, die zopfartige Kopfzierde reinweiß; die Schwingen ſind grauſchwarz. Das Auge iſt hochkarminroth, der Schnabel an der Wurzel ſchmuzig- grün, gegen die Spitze hin hornfarben, an ihr blaßroth, der Fuß ſchwarz. Die Länge beträgt 32 bis 33, die Breite 64, die Fittiglänge 17, die Schwanzlänge 6 Zoll.
Dem jungen Vogel fehlen die Schmuckfedern am Kopfe und Unterhalſe.
Südoſteuropa und Mittelaſien ſind die Heimat dieſes überaus zierlichen Kranichs, in meinen Augen des ſchönſten und anmuthigſten Mitgliedes der Familie. Er bewohnt das Mündungsgebiet der Wolga und die Länder um das kaſpiſche Meer überhaupt, die Tartarei und Mongolei und wandert vonhieraus bis nach Südindien oder Mittelafrika. Einzelne haben ſich nach den ſüdweſtlichen Ländern Europas, einige auch bis nach Deutſchland verflogen. Am kaſpiſchen Meere und in Mittelaſien muß er ſehr häufig ſein; denn die von ihm gebildeten Schwärme oder Heere, welche man in der Winter- herberge antrifft, ſind zahlreicher als die ſeines Verwandten. Jn ſeiner Heimat bewohnt er ähnliche Oertlichkeiten wie dieſer, findet ſich aber, laut Radde, auch noch auf Gebirgen von 3500 Fuß über dem Meere. Jn der Winterherberge erſcheint er zur ſelben Zeit wie jener und bricht auch im Früh- jahre gleichzeitig wieder auf. Als ich Mitte Oktobers ſieberkrank den blauen Nil hinabſchwamm, ſah ich alle Sandinſeln im Strome, welche ſich bereits über dem Waſſerſpiegel erhoben, mit Kranichen bedeckt, ſchoß mit der Kugel unter einen der Haufen und erlegte zwei Jungfernkraniche. Sie waren ſoeben eingerückt. Genau dieſelbe Zeit gibt Jerdon für ihr Kommen in Jndien an; es muß uns daher Wunder nehmen, wenn wir durch Radde erfahren, daß ſie ſich am Tarai-Nor ſchon Mitte Auguſts verſammelten, hier aus verſchiedenen Himmelsgegenden eintrafen, am 15. Auguſt bereits zur Reiſe aufbrachen und am 30. gewöhnlich aus der Gegend verſchwunden waren, da ſie doch unmöglich ſolange Zeit zu ihrer Reiſe nach Jndien gebrauchen können. Aehnliches gilt für den Rück- zug. Aus Jndien und aus Südafrika brechen ſie mit dem grauen Verwandten im März wieder auf; und gleichwohl erſchienen ſie, nach Radde, am Tarai-Nor erſt mit dem 24. April in größerer Menge. Bei ihrer Ankunft im Oſt-Sudahn befinden ſie ſich in voller Mauſer. Das Kleingefieder iſt bereits erſetzt, die Schwingen und die Schwanzfedern aber fallen erſt ſpäter aus. Mitte Dezember haben ſie die Mauſerung vollendet.
Lebensweiſe und Weſen, Eigenſchaften, Sitten und Gewohnheiten des Jungfernkranichs ent- ſprechen im Weſentlichen denen ſeines Verwandten; doch iſt jener in demſelben Grade zierlicher, gewandter und anmuthiger als er ſchöner iſt. Zwiſchen den Bewegungen der beiden bemerkt man keinen auffälligen Unterſchied, und auch die Stimmlaute ähneln ſich ſo täuſchend, daß man erſt nach längerer Uebung erkennen lernt, welchen von beiden man vernommen hat. Die fliegenden Jungfern- kraniche erkennt man an der geringeren Größe und an dem lichteren Gefieder, welches bei günſtiger Beleuchtung faſt weiß erſcheint, ſchon aus weiter Entfernung. An geiſtiger Befähigung ſteht dieſer Kranich hinter ſeinem größeren Vetter nicht zurück, meine Beobachtungen laſſen mich im Gegentheile glauben, daß er noch klüger iſt als jener. Auch er zeigt ſich im höchſten Grade vorſichtig, wählt ſich ſtets Ruheplätze, von denen aus er ſich nach allen Seiten umſchauen kann, verändert ſie, wenn er einmal Störung erlitt, ſtellt Wachen und ſendet Späher aus. Mit Ausnahme weniger, erlegten wir alle Jungfernkraniche nur während der Nacht auf den ihnen liebgewordenen Standplätzen, welche ſie
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Die Läufer. Stelzvögel. Kraniche. Kronenkraniche.
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in Europa lebt und brütet, und man kann die Wahl dieſes Namens nur billigen. Der Vogel iſt
wirklich ſo ſchön, ſo anmuthig, daß er mit einer Jungfrau verglichen werden darf.
Der Jungfernkranich (Anthropoides Virgo) unterſcheidet ſich von ſeinem beſchriebenen
Verwandten und deſſen Sippſchaftsgenoſſen durch den kurzen, runden Schnabel, den ganz befiederten,
hinten mit zwei langen Federzöpfen gezierten Kopf, das verlängerte Gefieder des Unterhalſes und die
nicht zerſchliſſenen und aufgekrempten, ſondern nur verlängerten, aber die anderen weit überragenden
Oberflügeldeckfedern. Das Gefieder, welches ſich durch Zartheit auszeichnet, iſt lichtbleigrau, der
Vorderhals und ſein herabwallender Schmuck tiefſchwarz, die zopfartige Kopfzierde reinweiß; die
Schwingen ſind grauſchwarz. Das Auge iſt hochkarminroth, der Schnabel an der Wurzel ſchmuzig-
grün, gegen die Spitze hin hornfarben, an ihr blaßroth, der Fuß ſchwarz. Die Länge beträgt
32 bis 33, die Breite 64, die Fittiglänge 17, die Schwanzlänge 6 Zoll.
Dem jungen Vogel fehlen die Schmuckfedern am Kopfe und Unterhalſe.
Südoſteuropa und Mittelaſien ſind die Heimat dieſes überaus zierlichen Kranichs, in meinen
Augen des ſchönſten und anmuthigſten Mitgliedes der Familie. Er bewohnt das Mündungsgebiet
der Wolga und die Länder um das kaſpiſche Meer überhaupt, die Tartarei und Mongolei und wandert
vonhieraus bis nach Südindien oder Mittelafrika. Einzelne haben ſich nach den ſüdweſtlichen Ländern
Europas, einige auch bis nach Deutſchland verflogen. Am kaſpiſchen Meere und in Mittelaſien
muß er ſehr häufig ſein; denn die von ihm gebildeten Schwärme oder Heere, welche man in der Winter-
herberge antrifft, ſind zahlreicher als die ſeines Verwandten. Jn ſeiner Heimat bewohnt er ähnliche
Oertlichkeiten wie dieſer, findet ſich aber, laut Radde, auch noch auf Gebirgen von 3500 Fuß über
dem Meere. Jn der Winterherberge erſcheint er zur ſelben Zeit wie jener und bricht auch im Früh-
jahre gleichzeitig wieder auf. Als ich Mitte Oktobers ſieberkrank den blauen Nil hinabſchwamm, ſah
ich alle Sandinſeln im Strome, welche ſich bereits über dem Waſſerſpiegel erhoben, mit Kranichen
bedeckt, ſchoß mit der Kugel unter einen der Haufen und erlegte zwei Jungfernkraniche. Sie waren
ſoeben eingerückt. Genau dieſelbe Zeit gibt Jerdon für ihr Kommen in Jndien an; es muß uns
daher Wunder nehmen, wenn wir durch Radde erfahren, daß ſie ſich am Tarai-Nor ſchon Mitte
Auguſts verſammelten, hier aus verſchiedenen Himmelsgegenden eintrafen, am 15. Auguſt bereits zur
Reiſe aufbrachen und am 30. gewöhnlich aus der Gegend verſchwunden waren, da ſie doch
unmöglich ſolange Zeit zu ihrer Reiſe nach Jndien gebrauchen können. Aehnliches gilt für den Rück-
zug. Aus Jndien und aus Südafrika brechen ſie mit dem grauen Verwandten im März wieder auf;
und gleichwohl erſchienen ſie, nach Radde, am Tarai-Nor erſt mit dem 24. April in größerer
Menge. Bei ihrer Ankunft im Oſt-Sudahn befinden ſie ſich in voller Mauſer. Das Kleingefieder
iſt bereits erſetzt, die Schwingen und die Schwanzfedern aber fallen erſt ſpäter aus. Mitte Dezember
haben ſie die Mauſerung vollendet.
Lebensweiſe und Weſen, Eigenſchaften, Sitten und Gewohnheiten des Jungfernkranichs ent-
ſprechen im Weſentlichen denen ſeines Verwandten; doch iſt jener in demſelben Grade zierlicher,
gewandter und anmuthiger als er ſchöner iſt. Zwiſchen den Bewegungen der beiden bemerkt man
keinen auffälligen Unterſchied, und auch die Stimmlaute ähneln ſich ſo täuſchend, daß man erſt nach
längerer Uebung erkennen lernt, welchen von beiden man vernommen hat. Die fliegenden Jungfern-
kraniche erkennt man an der geringeren Größe und an dem lichteren Gefieder, welches bei günſtiger
Beleuchtung faſt weiß erſcheint, ſchon aus weiter Entfernung. An geiſtiger Befähigung ſteht dieſer
Kranich hinter ſeinem größeren Vetter nicht zurück, meine Beobachtungen laſſen mich im Gegentheile
glauben, daß er noch klüger iſt als jener. Auch er zeigt ſich im höchſten Grade vorſichtig, wählt ſich
ſtets Ruheplätze, von denen aus er ſich nach allen Seiten umſchauen kann, verändert ſie, wenn er
einmal Störung erlitt, ſtellt Wachen und ſendet Späher aus. Mit Ausnahme weniger, erlegten wir
alle Jungfernkraniche nur während der Nacht auf den ihnen liebgewordenen Standplätzen, welche ſie
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 4. Hildburghausen, 1867, S. 728. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben04_1867/772>, abgerufen am 22.11.2024.
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