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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 4. Hildburghausen, 1867.

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Kleiber.
herum und wird dann nicht leicht gesehen; zuweilen ist er so zutraulich, daß er oft wenige Schritte vor
dem Menschen sein Wesen treibt." Er ist beständig fröhlich und guter Dinge, und wenn er wirklich
einmal traurig aussieht, so beweist er im nächsten Augenblick, daß Dies nur Schein war; denn traurig
wird er in der That erst dann, wenn er wirklich krank ist. Gewöhnlich macht er den Eindruck eines
munteren, regsamen, zugleich eines listigen und verschlagenen Vogels. "Ein Hauptzug in seinem
Wesen", fährt mein Vater fort, "ist Liebe zur Gesellschaft, aber nicht sowohl zu Seinesgleichen,
sondern zu andern Vögeln, namentlich zu den Meisen und Baumläufern. Mehr als zwei, drei oder
vier Kleiber habe ich, wenn nicht die ganze Familie noch vereinigt war, nie zusammen angetroffen.
Sie sind, da sie ihre Nahrung mühsam aufsuchen müssen, hier und da vertheilt und gewöhnlich die
Anführer der Finken, Hauben- und Tannenmeisen, unter welche sich oft auch die Sumpfmeisen, die
Baumläufer und die Goldhähnchen mischen." Mitunter schließt sich ein vereinzelter Buntspecht der
Gesellschaft an und hält dann längere Zeit gute Gemeinschaft. "Welches von diesen so verschieden-
artigen Gliedern der Gesellschaft der eigentliche Anführer ist", fügt Naumann hinzu, "oder welches
die erste Veranlassung zu solcher Vereinigung gab, läßt sich nicht bestimmen. Einer folgt dem Rufe
des Andern, bis der Trieb zur Fortpflanzung in ihnen erwacht und die Gesellschaft auflöst." Diese
Genossenschaften sind in allen unsern Wäldern eine sehr gewöhnliche Erscheinung, und wer einmal
den bezeichnenden Lockruf unseres Kleibers kennen gelernt hat, kann sie, durch ihn geleitet, sehr leicht
auffinden und selbst beobachten. Es herrscht eigentlich kein inniges Verhältniß unter der Gesammt-
heit, aber doch ein entschiedener Zusammenhang; denn man trifft dieselben Vögel ungefähr in der
gleichen Anzahl tagelang nach einander an verschiedenen Stellen an, unsere Kleiber aber selten mehr
als zu zwei oder drei Stücken unter der zuweilen sehr zahlreichen Menge von Meisen und
ähnlichem Volk.

Der Lockton ist ein flötendes, helles "Tü tü tü", der gewöhnliche Laut aber, welcher fortwährend
gehört wird, ohne daß er eigentlich Etwas besagen will, ein kurzes und nicht weit hörbares, aber doch
scharfes "Sit". Außerdem vernimmt man Töne, welche wie "zirr twit twit twit oder twät twät
twät" klingen. Der Paarungsruf besteht aus sehr schönen, laut pfeifenden Tönen, welche weit
vernommen werden. Das "Tü tü" ist Hauptsache; ihm wird "Quü quü und tirrr" zugefügt. Das
Männchen sitzt auf den Baumspitzen, dreht sich hin und her und stößt das "Tü" aus; das Weibchen,
welches sich möglicherweise auf einem Baum befindet, äußert sich durch "twät". Dann fliegen beide
mit einander herum und jagen sich spielend hin und her, bald die Wipfel der Bäume umflatternd,
bald auf den Aesten sich tummelnd und alle ihnen eigenen Kletterkünste entfaltend, immer aber laut
rufend. Unter solchen Umständen ist ein einziges Paar dieser liebenswürdigen Vögel im Stande,
einen ziemlich großen Waldestheil oder wenigstens einen Park zu beleben.

Der Kleiber frißt Kerbthiere, Spinnen, Sämereien und Beeren; zur Beförderung der Ver-
dauung verschluckt er Kies. Erstere liest er von den Stämmen der Aeste ab, sucht sie aus dem Mose
oder den Rissen der Borke hervor und fängt sie auch wohl durch einen raschen Schwung vom Aste,
wenn sie an ihm vorbeifliegen. Zum Hacken ist sein Schnabel zu schwach, und deshalb arbeitet er nie
Löcher in das Holz; wohl aber spaltet er von der Rinde ziemlich große Stückchen ab. Bei seiner
Kerbthierjagd kommt er nicht selten unmittelbar an die Gebäude heran, klettert auf diesen umher und
hüpft wohl sogar in die Zimmer herein. "Ebenso gern als Kerbthiere", sagt mein Vater, "frißt er
auch Sämereien, namentlich Rothbuchen und Lindennüsse, Ahorn-, Kiefer-, Tannen- und Fichten-
samen, Eicheln, Gerste und Hafer. Alle diese Stoffe habe ich in seinem Magen gefunden. Bei
völlig geschlossenen Zapfen kann er zu dem Samen der Nadelbäume nicht gelangen; sobald aber die
Deckelchen etwas klaffen, zieht er die Körner hervor und verschluckt sie. Den Tannensamen, welchen
außer ihm wenige Vögel fressen, scheint er sehr zu lieben. Wenn unsere alten Tannen reifen Samen
haben, sind ihre Wipfel ein Lieblingsaufenthalt der Kleiber. Den ausgefallenen Holzsamen lesen sie
vom Boden auf, die Gerste und den Hafer spelzen sie ab und die Eicheln zerstückeln sie, ehe sie diese
Früchte verschlucken. Hafer und Gerste scheinen sie nicht sehr zu lieben, sondern mehr aus Noth zu

Kleiber.
herum und wird dann nicht leicht geſehen; zuweilen iſt er ſo zutraulich, daß er oft wenige Schritte vor
dem Menſchen ſein Weſen treibt.“ Er iſt beſtändig fröhlich und guter Dinge, und wenn er wirklich
einmal traurig ausſieht, ſo beweiſt er im nächſten Augenblick, daß Dies nur Schein war; denn traurig
wird er in der That erſt dann, wenn er wirklich krank iſt. Gewöhnlich macht er den Eindruck eines
munteren, regſamen, zugleich eines liſtigen und verſchlagenen Vogels. „Ein Hauptzug in ſeinem
Weſen“, fährt mein Vater fort, „iſt Liebe zur Geſellſchaft, aber nicht ſowohl zu Seinesgleichen,
ſondern zu andern Vögeln, namentlich zu den Meiſen und Baumläufern. Mehr als zwei, drei oder
vier Kleiber habe ich, wenn nicht die ganze Familie noch vereinigt war, nie zuſammen angetroffen.
Sie ſind, da ſie ihre Nahrung mühſam aufſuchen müſſen, hier und da vertheilt und gewöhnlich die
Anführer der Finken, Hauben- und Tannenmeiſen, unter welche ſich oft auch die Sumpfmeiſen, die
Baumläufer und die Goldhähnchen miſchen.“ Mitunter ſchließt ſich ein vereinzelter Buntſpecht der
Geſellſchaft an und hält dann längere Zeit gute Gemeinſchaft. „Welches von dieſen ſo verſchieden-
artigen Gliedern der Geſellſchaft der eigentliche Anführer iſt“, fügt Naumann hinzu, „oder welches
die erſte Veranlaſſung zu ſolcher Vereinigung gab, läßt ſich nicht beſtimmen. Einer folgt dem Rufe
des Andern, bis der Trieb zur Fortpflanzung in ihnen erwacht und die Geſellſchaft auflöſt.“ Dieſe
Genoſſenſchaften ſind in allen unſern Wäldern eine ſehr gewöhnliche Erſcheinung, und wer einmal
den bezeichnenden Lockruf unſeres Kleibers kennen gelernt hat, kann ſie, durch ihn geleitet, ſehr leicht
auffinden und ſelbſt beobachten. Es herrſcht eigentlich kein inniges Verhältniß unter der Geſammt-
heit, aber doch ein entſchiedener Zuſammenhang; denn man trifft dieſelben Vögel ungefähr in der
gleichen Anzahl tagelang nach einander an verſchiedenen Stellen an, unſere Kleiber aber ſelten mehr
als zu zwei oder drei Stücken unter der zuweilen ſehr zahlreichen Menge von Meiſen und
ähnlichem Volk.

Der Lockton iſt ein flötendes, helles „Tü tü tü“, der gewöhnliche Laut aber, welcher fortwährend
gehört wird, ohne daß er eigentlich Etwas beſagen will, ein kurzes und nicht weit hörbares, aber doch
ſcharfes „Sit“. Außerdem vernimmt man Töne, welche wie „zirr twit twit twit oder twät twät
twät“ klingen. Der Paarungsruf beſteht aus ſehr ſchönen, laut pfeifenden Tönen, welche weit
vernommen werden. Das „Tü tü“ iſt Hauptſache; ihm wird „Quü quü und tirrr“ zugefügt. Das
Männchen ſitzt auf den Baumſpitzen, dreht ſich hin und her und ſtößt das „Tü“ aus; das Weibchen,
welches ſich möglicherweiſe auf einem Baum befindet, äußert ſich durch „twät“. Dann fliegen beide
mit einander herum und jagen ſich ſpielend hin und her, bald die Wipfel der Bäume umflatternd,
bald auf den Aeſten ſich tummelnd und alle ihnen eigenen Kletterkünſte entfaltend, immer aber laut
rufend. Unter ſolchen Umſtänden iſt ein einziges Paar dieſer liebenswürdigen Vögel im Stande,
einen ziemlich großen Waldestheil oder wenigſtens einen Park zu beleben.

Der Kleiber frißt Kerbthiere, Spinnen, Sämereien und Beeren; zur Beförderung der Ver-
dauung verſchluckt er Kies. Erſtere lieſt er von den Stämmen der Aeſte ab, ſucht ſie aus dem Moſe
oder den Riſſen der Borke hervor und fängt ſie auch wohl durch einen raſchen Schwung vom Aſte,
wenn ſie an ihm vorbeifliegen. Zum Hacken iſt ſein Schnabel zu ſchwach, und deshalb arbeitet er nie
Löcher in das Holz; wohl aber ſpaltet er von der Rinde ziemlich große Stückchen ab. Bei ſeiner
Kerbthierjagd kommt er nicht ſelten unmittelbar an die Gebäude heran, klettert auf dieſen umher und
hüpft wohl ſogar in die Zimmer herein. „Ebenſo gern als Kerbthiere“, ſagt mein Vater, „frißt er
auch Sämereien, namentlich Rothbuchen und Lindennüſſe, Ahorn-, Kiefer-, Tannen- und Fichten-
ſamen, Eicheln, Gerſte und Hafer. Alle dieſe Stoffe habe ich in ſeinem Magen gefunden. Bei
völlig geſchloſſenen Zapfen kann er zu dem Samen der Nadelbäume nicht gelangen; ſobald aber die
Deckelchen etwas klaffen, zieht er die Körner hervor und verſchluckt ſie. Den Tannenſamen, welchen
außer ihm wenige Vögel freſſen, ſcheint er ſehr zu lieben. Wenn unſere alten Tannen reifen Samen
haben, ſind ihre Wipfel ein Lieblingsaufenthalt der Kleiber. Den ausgefallenen Holzſamen leſen ſie
vom Boden auf, die Gerſte und den Hafer ſpelzen ſie ab und die Eicheln zerſtückeln ſie, ehe ſie dieſe
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[39/0051] Kleiber. herum und wird dann nicht leicht geſehen; zuweilen iſt er ſo zutraulich, daß er oft wenige Schritte vor dem Menſchen ſein Weſen treibt.“ Er iſt beſtändig fröhlich und guter Dinge, und wenn er wirklich einmal traurig ausſieht, ſo beweiſt er im nächſten Augenblick, daß Dies nur Schein war; denn traurig wird er in der That erſt dann, wenn er wirklich krank iſt. Gewöhnlich macht er den Eindruck eines munteren, regſamen, zugleich eines liſtigen und verſchlagenen Vogels. „Ein Hauptzug in ſeinem Weſen“, fährt mein Vater fort, „iſt Liebe zur Geſellſchaft, aber nicht ſowohl zu Seinesgleichen, ſondern zu andern Vögeln, namentlich zu den Meiſen und Baumläufern. Mehr als zwei, drei oder vier Kleiber habe ich, wenn nicht die ganze Familie noch vereinigt war, nie zuſammen angetroffen. Sie ſind, da ſie ihre Nahrung mühſam aufſuchen müſſen, hier und da vertheilt und gewöhnlich die Anführer der Finken, Hauben- und Tannenmeiſen, unter welche ſich oft auch die Sumpfmeiſen, die Baumläufer und die Goldhähnchen miſchen.“ Mitunter ſchließt ſich ein vereinzelter Buntſpecht der Geſellſchaft an und hält dann längere Zeit gute Gemeinſchaft. „Welches von dieſen ſo verſchieden- artigen Gliedern der Geſellſchaft der eigentliche Anführer iſt“, fügt Naumann hinzu, „oder welches die erſte Veranlaſſung zu ſolcher Vereinigung gab, läßt ſich nicht beſtimmen. Einer folgt dem Rufe des Andern, bis der Trieb zur Fortpflanzung in ihnen erwacht und die Geſellſchaft auflöſt.“ Dieſe Genoſſenſchaften ſind in allen unſern Wäldern eine ſehr gewöhnliche Erſcheinung, und wer einmal den bezeichnenden Lockruf unſeres Kleibers kennen gelernt hat, kann ſie, durch ihn geleitet, ſehr leicht auffinden und ſelbſt beobachten. Es herrſcht eigentlich kein inniges Verhältniß unter der Geſammt- heit, aber doch ein entſchiedener Zuſammenhang; denn man trifft dieſelben Vögel ungefähr in der gleichen Anzahl tagelang nach einander an verſchiedenen Stellen an, unſere Kleiber aber ſelten mehr als zu zwei oder drei Stücken unter der zuweilen ſehr zahlreichen Menge von Meiſen und ähnlichem Volk. Der Lockton iſt ein flötendes, helles „Tü tü tü“, der gewöhnliche Laut aber, welcher fortwährend gehört wird, ohne daß er eigentlich Etwas beſagen will, ein kurzes und nicht weit hörbares, aber doch ſcharfes „Sit“. Außerdem vernimmt man Töne, welche wie „zirr twit twit twit oder twät twät twät“ klingen. Der Paarungsruf beſteht aus ſehr ſchönen, laut pfeifenden Tönen, welche weit vernommen werden. Das „Tü tü“ iſt Hauptſache; ihm wird „Quü quü und tirrr“ zugefügt. Das Männchen ſitzt auf den Baumſpitzen, dreht ſich hin und her und ſtößt das „Tü“ aus; das Weibchen, welches ſich möglicherweiſe auf einem Baum befindet, äußert ſich durch „twät“. Dann fliegen beide mit einander herum und jagen ſich ſpielend hin und her, bald die Wipfel der Bäume umflatternd, bald auf den Aeſten ſich tummelnd und alle ihnen eigenen Kletterkünſte entfaltend, immer aber laut rufend. Unter ſolchen Umſtänden iſt ein einziges Paar dieſer liebenswürdigen Vögel im Stande, einen ziemlich großen Waldestheil oder wenigſtens einen Park zu beleben. Der Kleiber frißt Kerbthiere, Spinnen, Sämereien und Beeren; zur Beförderung der Ver- dauung verſchluckt er Kies. Erſtere lieſt er von den Stämmen der Aeſte ab, ſucht ſie aus dem Moſe oder den Riſſen der Borke hervor und fängt ſie auch wohl durch einen raſchen Schwung vom Aſte, wenn ſie an ihm vorbeifliegen. Zum Hacken iſt ſein Schnabel zu ſchwach, und deshalb arbeitet er nie Löcher in das Holz; wohl aber ſpaltet er von der Rinde ziemlich große Stückchen ab. Bei ſeiner Kerbthierjagd kommt er nicht ſelten unmittelbar an die Gebäude heran, klettert auf dieſen umher und hüpft wohl ſogar in die Zimmer herein. „Ebenſo gern als Kerbthiere“, ſagt mein Vater, „frißt er auch Sämereien, namentlich Rothbuchen und Lindennüſſe, Ahorn-, Kiefer-, Tannen- und Fichten- ſamen, Eicheln, Gerſte und Hafer. Alle dieſe Stoffe habe ich in ſeinem Magen gefunden. Bei völlig geſchloſſenen Zapfen kann er zu dem Samen der Nadelbäume nicht gelangen; ſobald aber die Deckelchen etwas klaffen, zieht er die Körner hervor und verſchluckt ſie. Den Tannenſamen, welchen außer ihm wenige Vögel freſſen, ſcheint er ſehr zu lieben. Wenn unſere alten Tannen reifen Samen haben, ſind ihre Wipfel ein Lieblingsaufenthalt der Kleiber. Den ausgefallenen Holzſamen leſen ſie vom Boden auf, die Gerſte und den Hafer ſpelzen ſie ab und die Eicheln zerſtückeln ſie, ehe ſie dieſe Früchte verſchlucken. Hafer und Gerſte ſcheinen ſie nicht ſehr zu lieben, ſondern mehr aus Noth zu

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 4. Hildburghausen, 1867, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben04_1867/51>, abgerufen am 28.11.2024.