wurden, rücksichtslos von einander riß und mit mehr oder weniger Willkür zu anderen, bis auf Flügelblau und Fußbeschuppung durchaus verschiedenen stellte, denen sie nun schier ebenso ähnlich sein sollten, wie ein Ei dem andern.
Es würde gegen den Geist der Naturwissenschaft, deren Grundbedingung Freiheit ist, verstoßen, wollte man die Berechtigung dieses Verfahrens bestreiten. Auch derartige Ansichten fördern die Wissenschaft, indem sie zu neuen Untersuchungen Anlaß geben, sei es auch nur, um Widerspruch zu begründen. Nur will es mich bedünken, daß ein nach solchen Grundsätzen aufgebautes System allzu- künstlich und deshalb schwer oder nicht zu gebrauchen ist. Wer eine Schwalbe oder einen Würger als Singvogel, einen Segler oder einen Tyrann als Schrill- und bezüglich Schreivogel erkennen will, muß ihn erst auf seine Singmuskeln untersuchen, -- denn der Flügelbau oder die Beschuppung des Fußes allein reichen zur Erkennung der Ordnungsmerkmale nicht aus, -- solche Untersuchung aber hat immer ihr Mißliches. Hätte nun die Natur wirklich in schülerhafter Weise nach dem Plane, welchen die gelahrten Herren ihr zuschreiben, gearbeitet, so würde solche Prüfung als eine unum- gänglich nothwendige angesehen werden müssen, und die Herren hätten gewiß vollständig Recht; wir finden aber bei vorurtheilsfreier Forschung, daß eine Planmäßigkeit, wie sie geträumt wird, eine Gleichartigkeit, welche keine Ausnahmen kennt, in der Natur gar nicht vorhanden, daß vielmehr die allseitigste Verschiedenheit ein und derselben Grundgestalt die Regel zu sein scheint, und wir können so zu dem Schlusse kommen, daß mehrere gleichartige Merkmale noch keineswegs die Zusammengehörig- keit einzelner Thiere bedingen, sowie umgekehrt, daß bei unserer Ansicht nach zusammengehörigen Thieren Verschiedenheit auch im Bau derjenigen Glieder oder Werkzeuge stattfinden kann, welche wir gerade als besonders wichtige ansehen. Es wird deshalb räthlich und vortheilhaft sein, im System, welches uns den Ueberblick der Gesammtheit erleichtern soll, die Summe aller uns gleichartig dünkenden Merkmale, nicht aber die vielleicht zufällige Uebereinstimmung ein- zelner Kennzeichen als maßgebend anzusehen. Eins gewinnen wir sicher dadurch: wir können uns leichter verständigen!
Jch beschränke die Bezeichnung Singvogel auf diejenigen Mitglieder der Klasse, welche mit den besten Sängern in ihr die augenfälligste Aehnlichkeit zeigen, und, wenn auch nicht sämmtlich, so doch zum größten Theile wirklich gute Sänger sind. Es bleibt jedem meiner Leser überlassen, die von mir angenommenen Grenzen der Ordnung anzuerkennen oder nicht; wer die Sperlings- und die Raben- vögel, weil einzelne von ihnen singen, mit den Singvögeln in dieselbe Abtheilung einreihen will, soll von mir des Jrrthums nicht geziehen werden: eine Unterabtheilung des sodann gebildeten Ganzen wird er in den Vögeln, von denen ich nunmehr reden werde, stets erkennen müssen. Möglicherweise bin ich zuweit gegangen in dem Bestreben, entgegenzuwirken dem urtheilslosen Handeln, welches Ver- wandtes trennt, weil einzelne Merkmale nicht übereinstimmen und Verschiedenes zusammenkettet, weil das Gegentheil der Fall; möglicherweise habe ich auf das Leben der Vögel ein allzugroßes Gewicht gelegt: der Ordnungsbegriff kann also recht wohl falsch von mir aufgefaßt und angewendet worden sein.
Die Mitglieder unserer Ordnung sind fast ausnahmslos kleine, zierlich gebaute Vögel von gefälligem Aeußern und ansprechenden Sitten. Jhr Leib pflegt gestreckt zu sein; der Hals ist kurz, der Kopf verhältnißmäßig groß; der Schnabel ist bei aller Verschiedenheit meist klein, d. h. kurz und schwach, mehr pfriemen-, als kegelförmig, gerade oder höchstens schwach gebogen, rundlich, nur aus- nahmsweise platt am Grunde, sein Oberkiefer ist oft mehr oder weniger deutlich gezahnt; der mit Tafelschienen bekleidete Fuß ist ziemlich kräftig und mittellang, selten einigermaßen schwach und kurz; die Zehen sind ziemlich lang, ihre Nägel groß und scharf; die Flügel sind regelmäßig mittellang, die erste von den zehn Handschwingen ist meist verkümmert, kann wohl auch gänzlich fehlen; der Schwanz besteht fast ausnahmslos aus zwölf Federn, welche selten mehr, als eine mittlere Länge erreichen. Das Gefieder ist reich, dicht und weich; die einzelnen Federn sind verhältnißmäßig groß und weitstrahlig; Dunen sind nur bei einzelnen vorhanden. Die Färbung ist im Allgemeinen eine
Brehm, Thierleben. III. 44
Allgemeines.
wurden, rückſichtslos von einander riß und mit mehr oder weniger Willkür zu anderen, bis auf Flügelblau und Fußbeſchuppung durchaus verſchiedenen ſtellte, denen ſie nun ſchier ebenſo ähnlich ſein ſollten, wie ein Ei dem andern.
Es würde gegen den Geiſt der Naturwiſſenſchaft, deren Grundbedingung Freiheit iſt, verſtoßen, wollte man die Berechtigung dieſes Verfahrens beſtreiten. Auch derartige Anſichten fördern die Wiſſenſchaft, indem ſie zu neuen Unterſuchungen Anlaß geben, ſei es auch nur, um Widerſpruch zu begründen. Nur will es mich bedünken, daß ein nach ſolchen Grundſätzen aufgebautes Syſtem allzu- künſtlich und deshalb ſchwer oder nicht zu gebrauchen iſt. Wer eine Schwalbe oder einen Würger als Singvogel, einen Segler oder einen Tyrann als Schrill- und bezüglich Schreivogel erkennen will, muß ihn erſt auf ſeine Singmuskeln unterſuchen, — denn der Flügelbau oder die Beſchuppung des Fußes allein reichen zur Erkennung der Ordnungsmerkmale nicht aus, — ſolche Unterſuchung aber hat immer ihr Mißliches. Hätte nun die Natur wirklich in ſchülerhafter Weiſe nach dem Plane, welchen die gelahrten Herren ihr zuſchreiben, gearbeitet, ſo würde ſolche Prüfung als eine unum- gänglich nothwendige angeſehen werden müſſen, und die Herren hätten gewiß vollſtändig Recht; wir finden aber bei vorurtheilsfreier Forſchung, daß eine Planmäßigkeit, wie ſie geträumt wird, eine Gleichartigkeit, welche keine Ausnahmen kennt, in der Natur gar nicht vorhanden, daß vielmehr die allſeitigſte Verſchiedenheit ein und derſelben Grundgeſtalt die Regel zu ſein ſcheint, und wir können ſo zu dem Schluſſe kommen, daß mehrere gleichartige Merkmale noch keineswegs die Zuſammengehörig- keit einzelner Thiere bedingen, ſowie umgekehrt, daß bei unſerer Anſicht nach zuſammengehörigen Thieren Verſchiedenheit auch im Bau derjenigen Glieder oder Werkzeuge ſtattfinden kann, welche wir gerade als beſonders wichtige anſehen. Es wird deshalb räthlich und vortheilhaft ſein, im Syſtem, welches uns den Ueberblick der Geſammtheit erleichtern ſoll, die Summe aller uns gleichartig dünkenden Merkmale, nicht aber die vielleicht zufällige Uebereinſtimmung ein- zelner Kennzeichen als maßgebend anzuſehen. Eins gewinnen wir ſicher dadurch: wir können uns leichter verſtändigen!
Jch beſchränke die Bezeichnung Singvogel auf diejenigen Mitglieder der Klaſſe, welche mit den beſten Sängern in ihr die augenfälligſte Aehnlichkeit zeigen, und, wenn auch nicht ſämmtlich, ſo doch zum größten Theile wirklich gute Sänger ſind. Es bleibt jedem meiner Leſer überlaſſen, die von mir angenommenen Grenzen der Ordnung anzuerkennen oder nicht; wer die Sperlings- und die Raben- vögel, weil einzelne von ihnen ſingen, mit den Singvögeln in dieſelbe Abtheilung einreihen will, ſoll von mir des Jrrthums nicht geziehen werden: eine Unterabtheilung des ſodann gebildeten Ganzen wird er in den Vögeln, von denen ich nunmehr reden werde, ſtets erkennen müſſen. Möglicherweiſe bin ich zuweit gegangen in dem Beſtreben, entgegenzuwirken dem urtheilsloſen Handeln, welches Ver- wandtes trennt, weil einzelne Merkmale nicht übereinſtimmen und Verſchiedenes zuſammenkettet, weil das Gegentheil der Fall; möglicherweiſe habe ich auf das Leben der Vögel ein allzugroßes Gewicht gelegt: der Ordnungsbegriff kann alſo recht wohl falſch von mir aufgefaßt und angewendet worden ſein.
Die Mitglieder unſerer Ordnung ſind faſt ausnahmslos kleine, zierlich gebaute Vögel von gefälligem Aeußern und anſprechenden Sitten. Jhr Leib pflegt geſtreckt zu ſein; der Hals iſt kurz, der Kopf verhältnißmäßig groß; der Schnabel iſt bei aller Verſchiedenheit meiſt klein, d. h. kurz und ſchwach, mehr pfriemen-, als kegelförmig, gerade oder höchſtens ſchwach gebogen, rundlich, nur aus- nahmsweiſe platt am Grunde, ſein Oberkiefer iſt oft mehr oder weniger deutlich gezahnt; der mit Tafelſchienen bekleidete Fuß iſt ziemlich kräftig und mittellang, ſelten einigermaßen ſchwach und kurz; die Zehen ſind ziemlich lang, ihre Nägel groß und ſcharf; die Flügel ſind regelmäßig mittellang, die erſte von den zehn Handſchwingen iſt meiſt verkümmert, kann wohl auch gänzlich fehlen; der Schwanz beſteht faſt ausnahmslos aus zwölf Federn, welche ſelten mehr, als eine mittlere Länge erreichen. Das Gefieder iſt reich, dicht und weich; die einzelnen Federn ſind verhältnißmäßig groß und weitſtrahlig; Dunen ſind nur bei einzelnen vorhanden. Die Färbung iſt im Allgemeinen eine
Brehm, Thierleben. III. 44
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Allgemeines.
wurden, rückſichtslos von einander riß und mit mehr oder weniger Willkür zu anderen, bis auf
Flügelblau und Fußbeſchuppung durchaus verſchiedenen ſtellte, denen ſie nun ſchier ebenſo ähnlich ſein
ſollten, wie ein Ei dem andern.
Es würde gegen den Geiſt der Naturwiſſenſchaft, deren Grundbedingung Freiheit iſt, verſtoßen,
wollte man die Berechtigung dieſes Verfahrens beſtreiten. Auch derartige Anſichten fördern die
Wiſſenſchaft, indem ſie zu neuen Unterſuchungen Anlaß geben, ſei es auch nur, um Widerſpruch zu
begründen. Nur will es mich bedünken, daß ein nach ſolchen Grundſätzen aufgebautes Syſtem allzu-
künſtlich und deshalb ſchwer oder nicht zu gebrauchen iſt. Wer eine Schwalbe oder einen Würger als
Singvogel, einen Segler oder einen Tyrann als Schrill- und bezüglich Schreivogel erkennen will,
muß ihn erſt auf ſeine Singmuskeln unterſuchen, — denn der Flügelbau oder die Beſchuppung des
Fußes allein reichen zur Erkennung der Ordnungsmerkmale nicht aus, — ſolche Unterſuchung aber
hat immer ihr Mißliches. Hätte nun die Natur wirklich in ſchülerhafter Weiſe nach dem Plane,
welchen die gelahrten Herren ihr zuſchreiben, gearbeitet, ſo würde ſolche Prüfung als eine unum-
gänglich nothwendige angeſehen werden müſſen, und die Herren hätten gewiß vollſtändig Recht; wir
finden aber bei vorurtheilsfreier Forſchung, daß eine Planmäßigkeit, wie ſie geträumt wird, eine
Gleichartigkeit, welche keine Ausnahmen kennt, in der Natur gar nicht vorhanden, daß vielmehr die
allſeitigſte Verſchiedenheit ein und derſelben Grundgeſtalt die Regel zu ſein ſcheint, und wir können ſo
zu dem Schluſſe kommen, daß mehrere gleichartige Merkmale noch keineswegs die Zuſammengehörig-
keit einzelner Thiere bedingen, ſowie umgekehrt, daß bei unſerer Anſicht nach zuſammengehörigen
Thieren Verſchiedenheit auch im Bau derjenigen Glieder oder Werkzeuge ſtattfinden kann, welche wir
gerade als beſonders wichtige anſehen. Es wird deshalb räthlich und vortheilhaft ſein, im Syſtem,
welches uns den Ueberblick der Geſammtheit erleichtern ſoll, die Summe aller uns gleichartig
dünkenden Merkmale, nicht aber die vielleicht zufällige Uebereinſtimmung ein-
zelner Kennzeichen als maßgebend anzuſehen. Eins gewinnen wir ſicher dadurch: wir
können uns leichter verſtändigen!
Jch beſchränke die Bezeichnung Singvogel auf diejenigen Mitglieder der Klaſſe, welche mit den
beſten Sängern in ihr die augenfälligſte Aehnlichkeit zeigen, und, wenn auch nicht ſämmtlich, ſo doch zum
größten Theile wirklich gute Sänger ſind. Es bleibt jedem meiner Leſer überlaſſen, die von mir
angenommenen Grenzen der Ordnung anzuerkennen oder nicht; wer die Sperlings- und die Raben-
vögel, weil einzelne von ihnen ſingen, mit den Singvögeln in dieſelbe Abtheilung einreihen will, ſoll
von mir des Jrrthums nicht geziehen werden: eine Unterabtheilung des ſodann gebildeten Ganzen
wird er in den Vögeln, von denen ich nunmehr reden werde, ſtets erkennen müſſen. Möglicherweiſe
bin ich zuweit gegangen in dem Beſtreben, entgegenzuwirken dem urtheilsloſen Handeln, welches Ver-
wandtes trennt, weil einzelne Merkmale nicht übereinſtimmen und Verſchiedenes zuſammenkettet, weil
das Gegentheil der Fall; möglicherweiſe habe ich auf das Leben der Vögel ein allzugroßes Gewicht
gelegt: der Ordnungsbegriff kann alſo recht wohl falſch von mir aufgefaßt und angewendet
worden ſein.
Die Mitglieder unſerer Ordnung ſind faſt ausnahmslos kleine, zierlich gebaute Vögel von
gefälligem Aeußern und anſprechenden Sitten. Jhr Leib pflegt geſtreckt zu ſein; der Hals iſt kurz, der
Kopf verhältnißmäßig groß; der Schnabel iſt bei aller Verſchiedenheit meiſt klein, d. h. kurz und
ſchwach, mehr pfriemen-, als kegelförmig, gerade oder höchſtens ſchwach gebogen, rundlich, nur aus-
nahmsweiſe platt am Grunde, ſein Oberkiefer iſt oft mehr oder weniger deutlich gezahnt; der
mit Tafelſchienen bekleidete Fuß iſt ziemlich kräftig und mittellang, ſelten einigermaßen ſchwach und
kurz; die Zehen ſind ziemlich lang, ihre Nägel groß und ſcharf; die Flügel ſind regelmäßig mittellang,
die erſte von den zehn Handſchwingen iſt meiſt verkümmert, kann wohl auch gänzlich fehlen; der
Schwanz beſteht faſt ausnahmslos aus zwölf Federn, welche ſelten mehr, als eine mittlere Länge
erreichen. Das Gefieder iſt reich, dicht und weich; die einzelnen Federn ſind verhältnißmäßig groß
und weitſtrahlig; Dunen ſind nur bei einzelnen vorhanden. Die Färbung iſt im Allgemeinen eine
Brehm, Thierleben. III. 44
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 3. Hildburghausen, 1866, S. 689. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben03_1866/729>, abgerufen am 23.11.2024.
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