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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 3. Hildburghausen, 1866.

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Gänsegeier.
Familie; aber sie sind und bleiben immer die Störenfriede, die, welche den meisten Streit erregen.
Bei längerem Zusammensein mit anderen ihrer Familie wissen sie sich bald die Herrschaft zu erringen,
und Dem, welcher sie angreift, gehen sie tolldreist zu Leibe. Die Angeschossenen wehren sich mit Muth
und Jngrimm; sie gehen wie bissige Hunde auf den Mann, springen anderthalb bis zwei Fuß hoch
vom Boden auf und schnellen ihren langen Hals unter vernehmlichem Schnabelklappen stets nach dem
Gesicht ihres Gegners, sodaß ihre böswillige Absicht gar nicht verkannt werden kann. Anfänglich
flüchten die Flugunfähigen im raschen Laufe, wobei sie sich mit den Flügeln nachhelfen, vor dem
Menschen; ist dieser ihnen aber nahe gekommen, so drehen sie sich blitzschnell um, fauchen wie eine
Eule und rollen wüthend die Augen. Hat man sie glücklich gepackt, so krallen sie sich noch mit den
Klauen fest und wissen sich, trotz deren Stumpfheit, noch nachdrücklich zu vertheidigen. Gegen Jhres-
gleichen benehmen sie sich nicht anders. Zuweilen kommt es vor, daß zwei Geier, welche scheinbar
friedlich neben einander dahinfliegen, plötzlich sich erbosen und sofort einen Zweikampf beginnen,
welcher sie die Höhe, in welcher sie sich bewegen, vollständig vergessen läßt. "Auf einer meiner
Jagden in der Sierra de Gudarrama", sagt mein Bruder, "beobachtete ich, daß zwei Geier plötzlich
in hoher Luft über einander herfielen, sich in einander verkrallten und nunmehr einen Klumpen
bildend, zum Fliegen selbstverständlich unfähig, wirbelnd zur Erde herabsausten. Nicht einmal der
Sturz auf den Boden änderte ihre Wuth. Sie setzten auch hier den Kampf fort und schienen die
Außenwelt so vollständig vergessen zu haben, daß sich ein in ihrer Nähe befindlicher Schäfer verleiten
ließ, sie fangen zu wollen. Wirklich brachten sie erst mehrere wohlgezielte Hiebe, welche der Mann
mit seinem langen Stocke unter sie führte, zur Besinnung und zur Ueberzeugung, daß es doch wohl
besser sei, für jetzt den Zweikampf aufzuschieben. Dieses thaten sie denn endlich auch und eilten mit
heftigen Flügelschlägen nach verschiedenen Richtungen hin aus einander."

Beim Wegräumen eines Aases übernehmen sie einen bestimmten Theil der Arbeit. Sie sind es,
welche vorzugsweise die Leibeshöhlen der todten Thiere ausfressen. Wenige Bisse mit dem scharfen
Schnabel öffnen ihnen ein rundes Loch durch die Bauchwand, und in dieses nun stecken sie den langen
Hals so tief hinein, als sie können. An ihren zuckenden Bewegungen sieht man, wie eifrig sie im
Jnnern arbeiten. Die edleren Eingeweide werden hinabgewürgt, ohne daß sie den Kopf aus der
Höhle hervorziehen, die Gedärme aber werden erst an das Tageslicht gefördert, durch heftige
Bewegungen nach rückwärts herausgezerrt, dann mit einem Bisse durchgeschnitten und nun stückweise
hinabgeschlungen. Es versteht sich ganz von selbst, daß bei derartiger Arbeit Kopf und Hals mit
Blut und Schleim überkleistert werden und die Gänsegeier nach dem Schmause ein wahrhaft
abschreckendes Bild gewähren. Ob auch sie sich über kranke und bezüglich verendende Thiere hermachen,
wie vom Kondor berichtet wird, lasse ich dahingestellt; die Araber geben ihnen derartige Uebelthaten
schuld, und auch die Hirten der südungarischen Gebirge erzählen dasselbe. Sie versicherten Lazar,
daß die Gänsegeier regelmäßig die zurückbleibenden Schase überfallen und tödten.

Nach meinen Beobachtungen schlafen auch die Gänsegeier lange in den Tag hinein. Sie
erscheinen erst in den Vormittagsstunden in ihrem Jagdgebiet und fallen vorzugsweise um die Mittags-
zeit auf das Aas. Während ihrer Brutzeit aber scheinen sie sich mehr anstrengen zu müssen;
wenigstens schreibt mir Lazar, welcher sie zur Zeit beobachtete, daß sie sich bald nach Sonnenunter-
gang erhoben, einer nach dem andern, und zunächst ihren Felsenvorsprung wohl eine Stunde lang
umkreisten. "Sie steigen nun immer höher und ziehen stets größer werdende Kreise, bis sie sich
einzeln in der Ferne verlieren. Gegen Mittag hin kommen sie wieder zurück, ebenfalls einzeln,
sammeln sich aber bald in der Nähe ihrer Ansiedlung und umkreisen nun wieder eine Zeitlang die
Felsenwand. Dann läßt sich einer nach dem andern auf die Felsenkanten und Vorsprünge nieder und
verträumt jetzt ein paar Stunden in träger Ruhe. Nachmittags, zwischen zwei und drei Uhr, fliegen
sie unter lautem Geräusch nochmals empor, umschweben einige Male ihre Wohnung, als wollten sie
Flugübungen machen und ziehen dann zum zweiten Male auf Aas aus, niemals jedoch auf längere
Zeit. Schon mehrere Stunden vor Sonnenuntergang sind sie wieder an ihren Wohnsitzen angelangt."

Gänſegeier.
Familie; aber ſie ſind und bleiben immer die Störenfriede, die, welche den meiſten Streit erregen.
Bei längerem Zuſammenſein mit anderen ihrer Familie wiſſen ſie ſich bald die Herrſchaft zu erringen,
und Dem, welcher ſie angreift, gehen ſie tolldreiſt zu Leibe. Die Angeſchoſſenen wehren ſich mit Muth
und Jngrimm; ſie gehen wie biſſige Hunde auf den Mann, ſpringen anderthalb bis zwei Fuß hoch
vom Boden auf und ſchnellen ihren langen Hals unter vernehmlichem Schnabelklappen ſtets nach dem
Geſicht ihres Gegners, ſodaß ihre böswillige Abſicht gar nicht verkannt werden kann. Anfänglich
flüchten die Flugunfähigen im raſchen Laufe, wobei ſie ſich mit den Flügeln nachhelfen, vor dem
Menſchen; iſt dieſer ihnen aber nahe gekommen, ſo drehen ſie ſich blitzſchnell um, fauchen wie eine
Eule und rollen wüthend die Augen. Hat man ſie glücklich gepackt, ſo krallen ſie ſich noch mit den
Klauen feſt und wiſſen ſich, trotz deren Stumpfheit, noch nachdrücklich zu vertheidigen. Gegen Jhres-
gleichen benehmen ſie ſich nicht anders. Zuweilen kommt es vor, daß zwei Geier, welche ſcheinbar
friedlich neben einander dahinfliegen, plötzlich ſich erboſen und ſofort einen Zweikampf beginnen,
welcher ſie die Höhe, in welcher ſie ſich bewegen, vollſtändig vergeſſen läßt. „Auf einer meiner
Jagden in der Sierra de Gudarrama‟, ſagt mein Bruder, „beobachtete ich, daß zwei Geier plötzlich
in hoher Luft über einander herfielen, ſich in einander verkrallten und nunmehr einen Klumpen
bildend, zum Fliegen ſelbſtverſtändlich unfähig, wirbelnd zur Erde herabſauſten. Nicht einmal der
Sturz auf den Boden änderte ihre Wuth. Sie ſetzten auch hier den Kampf fort und ſchienen die
Außenwelt ſo vollſtändig vergeſſen zu haben, daß ſich ein in ihrer Nähe befindlicher Schäfer verleiten
ließ, ſie fangen zu wollen. Wirklich brachten ſie erſt mehrere wohlgezielte Hiebe, welche der Mann
mit ſeinem langen Stocke unter ſie führte, zur Beſinnung und zur Ueberzeugung, daß es doch wohl
beſſer ſei, für jetzt den Zweikampf aufzuſchieben. Dieſes thaten ſie denn endlich auch und eilten mit
heftigen Flügelſchlägen nach verſchiedenen Richtungen hin aus einander.‟

Beim Wegräumen eines Aaſes übernehmen ſie einen beſtimmten Theil der Arbeit. Sie ſind es,
welche vorzugsweiſe die Leibeshöhlen der todten Thiere ausfreſſen. Wenige Biſſe mit dem ſcharfen
Schnabel öffnen ihnen ein rundes Loch durch die Bauchwand, und in dieſes nun ſtecken ſie den langen
Hals ſo tief hinein, als ſie können. An ihren zuckenden Bewegungen ſieht man, wie eifrig ſie im
Jnnern arbeiten. Die edleren Eingeweide werden hinabgewürgt, ohne daß ſie den Kopf aus der
Höhle hervorziehen, die Gedärme aber werden erſt an das Tageslicht gefördert, durch heftige
Bewegungen nach rückwärts herausgezerrt, dann mit einem Biſſe durchgeſchnitten und nun ſtückweiſe
hinabgeſchlungen. Es verſteht ſich ganz von ſelbſt, daß bei derartiger Arbeit Kopf und Hals mit
Blut und Schleim überkleiſtert werden und die Gänſegeier nach dem Schmauſe ein wahrhaft
abſchreckendes Bild gewähren. Ob auch ſie ſich über kranke und bezüglich verendende Thiere hermachen,
wie vom Kondor berichtet wird, laſſe ich dahingeſtellt; die Araber geben ihnen derartige Uebelthaten
ſchuld, und auch die Hirten der ſüdungariſchen Gebirge erzählen daſſelbe. Sie verſicherten Lázár,
daß die Gänſegeier regelmäßig die zurückbleibenden Schaſe überfallen und tödten.

Nach meinen Beobachtungen ſchlafen auch die Gänſegeier lange in den Tag hinein. Sie
erſcheinen erſt in den Vormittagsſtunden in ihrem Jagdgebiet und fallen vorzugsweiſe um die Mittags-
zeit auf das Aas. Während ihrer Brutzeit aber ſcheinen ſie ſich mehr anſtrengen zu müſſen;
wenigſtens ſchreibt mir Lázár, welcher ſie zur Zeit beobachtete, daß ſie ſich bald nach Sonnenunter-
gang erhoben, einer nach dem andern, und zunächſt ihren Felſenvorſprung wohl eine Stunde lang
umkreiſten. „Sie ſteigen nun immer höher und ziehen ſtets größer werdende Kreiſe, bis ſie ſich
einzeln in der Ferne verlieren. Gegen Mittag hin kommen ſie wieder zurück, ebenfalls einzeln,
ſammeln ſich aber bald in der Nähe ihrer Anſiedlung und umkreiſen nun wieder eine Zeitlang die
Felſenwand. Dann läßt ſich einer nach dem andern auf die Felſenkanten und Vorſprünge nieder und
verträumt jetzt ein paar Stunden in träger Ruhe. Nachmittags, zwiſchen zwei und drei Uhr, fliegen
ſie unter lautem Geräuſch nochmals empor, umſchweben einige Male ihre Wohnung, als wollten ſie
Flugübungen machen und ziehen dann zum zweiten Male auf Aas aus, niemals jedoch auf längere
Zeit. Schon mehrere Stunden vor Sonnenuntergang ſind ſie wieder an ihren Wohnſitzen angelangt.‟

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[565/0597] Gänſegeier. Familie; aber ſie ſind und bleiben immer die Störenfriede, die, welche den meiſten Streit erregen. Bei längerem Zuſammenſein mit anderen ihrer Familie wiſſen ſie ſich bald die Herrſchaft zu erringen, und Dem, welcher ſie angreift, gehen ſie tolldreiſt zu Leibe. Die Angeſchoſſenen wehren ſich mit Muth und Jngrimm; ſie gehen wie biſſige Hunde auf den Mann, ſpringen anderthalb bis zwei Fuß hoch vom Boden auf und ſchnellen ihren langen Hals unter vernehmlichem Schnabelklappen ſtets nach dem Geſicht ihres Gegners, ſodaß ihre böswillige Abſicht gar nicht verkannt werden kann. Anfänglich flüchten die Flugunfähigen im raſchen Laufe, wobei ſie ſich mit den Flügeln nachhelfen, vor dem Menſchen; iſt dieſer ihnen aber nahe gekommen, ſo drehen ſie ſich blitzſchnell um, fauchen wie eine Eule und rollen wüthend die Augen. Hat man ſie glücklich gepackt, ſo krallen ſie ſich noch mit den Klauen feſt und wiſſen ſich, trotz deren Stumpfheit, noch nachdrücklich zu vertheidigen. Gegen Jhres- gleichen benehmen ſie ſich nicht anders. Zuweilen kommt es vor, daß zwei Geier, welche ſcheinbar friedlich neben einander dahinfliegen, plötzlich ſich erboſen und ſofort einen Zweikampf beginnen, welcher ſie die Höhe, in welcher ſie ſich bewegen, vollſtändig vergeſſen läßt. „Auf einer meiner Jagden in der Sierra de Gudarrama‟, ſagt mein Bruder, „beobachtete ich, daß zwei Geier plötzlich in hoher Luft über einander herfielen, ſich in einander verkrallten und nunmehr einen Klumpen bildend, zum Fliegen ſelbſtverſtändlich unfähig, wirbelnd zur Erde herabſauſten. Nicht einmal der Sturz auf den Boden änderte ihre Wuth. Sie ſetzten auch hier den Kampf fort und ſchienen die Außenwelt ſo vollſtändig vergeſſen zu haben, daß ſich ein in ihrer Nähe befindlicher Schäfer verleiten ließ, ſie fangen zu wollen. Wirklich brachten ſie erſt mehrere wohlgezielte Hiebe, welche der Mann mit ſeinem langen Stocke unter ſie führte, zur Beſinnung und zur Ueberzeugung, daß es doch wohl beſſer ſei, für jetzt den Zweikampf aufzuſchieben. Dieſes thaten ſie denn endlich auch und eilten mit heftigen Flügelſchlägen nach verſchiedenen Richtungen hin aus einander.‟ Beim Wegräumen eines Aaſes übernehmen ſie einen beſtimmten Theil der Arbeit. Sie ſind es, welche vorzugsweiſe die Leibeshöhlen der todten Thiere ausfreſſen. Wenige Biſſe mit dem ſcharfen Schnabel öffnen ihnen ein rundes Loch durch die Bauchwand, und in dieſes nun ſtecken ſie den langen Hals ſo tief hinein, als ſie können. An ihren zuckenden Bewegungen ſieht man, wie eifrig ſie im Jnnern arbeiten. Die edleren Eingeweide werden hinabgewürgt, ohne daß ſie den Kopf aus der Höhle hervorziehen, die Gedärme aber werden erſt an das Tageslicht gefördert, durch heftige Bewegungen nach rückwärts herausgezerrt, dann mit einem Biſſe durchgeſchnitten und nun ſtückweiſe hinabgeſchlungen. Es verſteht ſich ganz von ſelbſt, daß bei derartiger Arbeit Kopf und Hals mit Blut und Schleim überkleiſtert werden und die Gänſegeier nach dem Schmauſe ein wahrhaft abſchreckendes Bild gewähren. Ob auch ſie ſich über kranke und bezüglich verendende Thiere hermachen, wie vom Kondor berichtet wird, laſſe ich dahingeſtellt; die Araber geben ihnen derartige Uebelthaten ſchuld, und auch die Hirten der ſüdungariſchen Gebirge erzählen daſſelbe. Sie verſicherten Lázár, daß die Gänſegeier regelmäßig die zurückbleibenden Schaſe überfallen und tödten. Nach meinen Beobachtungen ſchlafen auch die Gänſegeier lange in den Tag hinein. Sie erſcheinen erſt in den Vormittagsſtunden in ihrem Jagdgebiet und fallen vorzugsweiſe um die Mittags- zeit auf das Aas. Während ihrer Brutzeit aber ſcheinen ſie ſich mehr anſtrengen zu müſſen; wenigſtens ſchreibt mir Lázár, welcher ſie zur Zeit beobachtete, daß ſie ſich bald nach Sonnenunter- gang erhoben, einer nach dem andern, und zunächſt ihren Felſenvorſprung wohl eine Stunde lang umkreiſten. „Sie ſteigen nun immer höher und ziehen ſtets größer werdende Kreiſe, bis ſie ſich einzeln in der Ferne verlieren. Gegen Mittag hin kommen ſie wieder zurück, ebenfalls einzeln, ſammeln ſich aber bald in der Nähe ihrer Anſiedlung und umkreiſen nun wieder eine Zeitlang die Felſenwand. Dann läßt ſich einer nach dem andern auf die Felſenkanten und Vorſprünge nieder und verträumt jetzt ein paar Stunden in träger Ruhe. Nachmittags, zwiſchen zwei und drei Uhr, fliegen ſie unter lautem Geräuſch nochmals empor, umſchweben einige Male ihre Wohnung, als wollten ſie Flugübungen machen und ziehen dann zum zweiten Male auf Aas aus, niemals jedoch auf längere Zeit. Schon mehrere Stunden vor Sonnenuntergang ſind ſie wieder an ihren Wohnſitzen angelangt.‟

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 3. Hildburghausen, 1866, S. 565. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben03_1866/597>, abgerufen am 22.11.2024.