Beschwerde zu ertragen. Wenige Arten nur scheinen an gewissen Gegenden zu hängen; sie bevor- zugen dieselben wenigstens. So nehmen einzelne im Gebirge ihren Stand und verlassen dasselbe nur ausnahmsweise, während andere wiederum ebene Gegenden in größerer Menge bewohnen, als die Hochgebirge. Von einem eigentlichen Standorte der Geier ist übrigens kaum zu reden. Jhre unge- heuren Flugwerkzeuge setzen sie in den Stand, und die Eigenthümlichkeit ihres Nahrungserwerbs nöthigt sie, größere Strecken zu durchstreifen, als irgend ein anderer Raubvogel sie durchfliegt. Blos während der Fortpflanzungszeit bindet sie die Sorge um ihre Brut an ein und dasselbe Gebiet; während des übrigen Jahres führen sie mehr oder weniger ein Wanderleben. Mit vollster Wahrheit kann man von ihnen sagen, daß sie überall und nirgends zu finden sind. Sie erscheinen plötzlich massenhaft in Gegenden, wo man tage- und wochenlang nicht einen einzigen von ihnen wahrnahm, und verschwinden ebenso spurlos wieder, als sie gekommen. Am treuesten scheinen noch die eigent- lichen Gebirgsvögel der Zunft an ihrem Stande festzuhalten; sie hat man auch nach der Brutzeit immer an ein und derselben Stelle beobachtet. Die Nähe der menschlichen Wohnsitze meiden nur ein- zelne Geier; andere finden gerade hier mit größerer Leichtigkeit das tägliche Brod, als in Gegenden, in denen der Mensch, so zu sagen, noch nicht zur eigentlichen Herrschaft gelangt ist. Für alle Städte Südasiens und Afrikas sind gerade die Geier bezeichnende Erscheinungen; für Südamerika gilt Dasselbe, nur hinsichtlich der Arten in beschränkterer Weise.
Es wird die Lebensweise unserer Vögel anschaulich machen, wenn ich einzelne von ihnen handelnd auftreten lasse. Jch darf Dies um so eher thun, als ich die Geier nicht blos in der Gefangenschaft, sondern auch in ihrem Freileben beobachtet habe und oft genug Zeuge ihres Auftretens gewesen bin. Allerdings muß ich zu der nun folgenden Schilderung bereits gebrauchte Worte wiederholen; ich kenne aber keine älteren Beobachtungen, welche erschöpfend genug wären und bin durch spätere Prüfung von der buchstäblichen Richtigkeit meiner zuerst veröffentlichten Mittheilungen überzeugt worden.
Am Saume der Wüste liegt ein verendetes Kamel. Die ungeheuren Beschwerden der Wüsten- reise, ein erlittener Samum haben es erschöpft; es erreichte, obgleich der Treiber dem ermatteten Thiere schon am vorigen Tage seine Last abnahm und es ledig neben den befrachteten Arbeitsgenossen einher- gehen ließ, den Nil nicht mehr, sondern brach vollständig entkräftet auf Nimmerwiederaufftehen zusammen. Sein Herr ließ es, nachdem er mit nicht verhehltem Kummer über den durch seinen Tod erlittenen Verlust von ihm geschieden ist, unberührt liegen, weil sein Glaube ihm verbietet, das Geringste von einem gestorbenen oder nicht unter den üblichen Gebräuchen getödteten Thiere zu verwenden.
Am nächsten Morgen liegt der Leichnam noch unversehrt auf seinem fahlen Sterbebette: die nächt- lich umherstreifenden Hiänen sind zufällig nicht in diese Gegend gekommen, Die Verwesung beginnt ihr Werk. Da erscheint noch am frühen Morgen ein Rabe über dem nächsten Bergesgipfel. Sein scharfes Auge erspäht schon von weitem das Aas; er schreit und nähert sich mit rascheren Flügelschlägen, kreist einigemal um das gefallene Thier, senkt sich dann herab und betritt, die spitzen Schwingen zusammenlegend, in nicht allzu großer Entfernung von demselben den Boden, nähert sich ihm nunmehr rasch und umgeht es mehreremal mit bedächtigem Spähen. Andere Raben folgen seinem Beispiele, und bald ist eine ansehnliche Gesellschaft dieser allgegenwärtigen Vögel versammelt. Nunmehr finden sich auch andere Fleischfresser ein. Der überall gegenwärtige Schmarotzermilan und der kaum minder häufige Schmuzgeier zieht seine Kreise über demselben, ein Raubadler nähert sich, mehrere Kropfstörche drehen in schwindelnder Höhe ihre Schraubenlinien über dem auch ihnen winkenden Gericht.
Aber noch fehlen die Vorleger der Speise. Die zuerst angekommene Gesellschaft nagt allerdings hier und da an dem gefallenen Thiere herum; allein die dicke Lederhaut desselben ist ihnen viel zu fest, als daß sie sich größere Bissen abreißen könnten. Nur das eine nach oben gekehrte Auge ist von einem Schmuzgeier aus seiner Höhle gezogen worden. Doch die Zeit, in welcher auch die großen Glieder der Familie auf Nahrung ausfliegen, kommt allmählich heran. Es ist zehn Uhr geworden; sie
Die Fänger. Raubvögel. Geier.
Beſchwerde zu ertragen. Wenige Arten nur ſcheinen an gewiſſen Gegenden zu hängen; ſie bevor- zugen dieſelben wenigſtens. So nehmen einzelne im Gebirge ihren Stand und verlaſſen daſſelbe nur ausnahmsweiſe, während andere wiederum ebene Gegenden in größerer Menge bewohnen, als die Hochgebirge. Von einem eigentlichen Standorte der Geier iſt übrigens kaum zu reden. Jhre unge- heuren Flugwerkzeuge ſetzen ſie in den Stand, und die Eigenthümlichkeit ihres Nahrungserwerbs nöthigt ſie, größere Strecken zu durchſtreifen, als irgend ein anderer Raubvogel ſie durchfliegt. Blos während der Fortpflanzungszeit bindet ſie die Sorge um ihre Brut an ein und daſſelbe Gebiet; während des übrigen Jahres führen ſie mehr oder weniger ein Wanderleben. Mit vollſter Wahrheit kann man von ihnen ſagen, daß ſie überall und nirgends zu finden ſind. Sie erſcheinen plötzlich maſſenhaft in Gegenden, wo man tage- und wochenlang nicht einen einzigen von ihnen wahrnahm, und verſchwinden ebenſo ſpurlos wieder, als ſie gekommen. Am treueſten ſcheinen noch die eigent- lichen Gebirgsvögel der Zunft an ihrem Stande feſtzuhalten; ſie hat man auch nach der Brutzeit immer an ein und derſelben Stelle beobachtet. Die Nähe der menſchlichen Wohnſitze meiden nur ein- zelne Geier; andere finden gerade hier mit größerer Leichtigkeit das tägliche Brod, als in Gegenden, in denen der Menſch, ſo zu ſagen, noch nicht zur eigentlichen Herrſchaft gelangt iſt. Für alle Städte Südaſiens und Afrikas ſind gerade die Geier bezeichnende Erſcheinungen; für Südamerika gilt Daſſelbe, nur hinſichtlich der Arten in beſchränkterer Weiſe.
Es wird die Lebensweiſe unſerer Vögel anſchaulich machen, wenn ich einzelne von ihnen handelnd auftreten laſſe. Jch darf Dies um ſo eher thun, als ich die Geier nicht blos in der Gefangenſchaft, ſondern auch in ihrem Freileben beobachtet habe und oft genug Zeuge ihres Auftretens geweſen bin. Allerdings muß ich zu der nun folgenden Schilderung bereits gebrauchte Worte wiederholen; ich kenne aber keine älteren Beobachtungen, welche erſchöpfend genug wären und bin durch ſpätere Prüfung von der buchſtäblichen Richtigkeit meiner zuerſt veröffentlichten Mittheilungen überzeugt worden.
Am Saume der Wüſte liegt ein verendetes Kamel. Die ungeheuren Beſchwerden der Wüſten- reiſe, ein erlittener Samum haben es erſchöpft; es erreichte, obgleich der Treiber dem ermatteten Thiere ſchon am vorigen Tage ſeine Laſt abnahm und es ledig neben den befrachteten Arbeitsgenoſſen einher- gehen ließ, den Nil nicht mehr, ſondern brach vollſtändig entkräftet auf Nimmerwiederaufftehen zuſammen. Sein Herr ließ es, nachdem er mit nicht verhehltem Kummer über den durch ſeinen Tod erlittenen Verluſt von ihm geſchieden iſt, unberührt liegen, weil ſein Glaube ihm verbietet, das Geringſte von einem geſtorbenen oder nicht unter den üblichen Gebräuchen getödteten Thiere zu verwenden.
Am nächſten Morgen liegt der Leichnam noch unverſehrt auf ſeinem fahlen Sterbebette: die nächt- lich umherſtreifenden Hiänen ſind zufällig nicht in dieſe Gegend gekommen, Die Verweſung beginnt ihr Werk. Da erſcheint noch am frühen Morgen ein Rabe über dem nächſten Bergesgipfel. Sein ſcharfes Auge erſpäht ſchon von weitem das Aas; er ſchreit und nähert ſich mit raſcheren Flügelſchlägen, kreiſt einigemal um das gefallene Thier, ſenkt ſich dann herab und betritt, die ſpitzen Schwingen zuſammenlegend, in nicht allzu großer Entfernung von demſelben den Boden, nähert ſich ihm nunmehr raſch und umgeht es mehreremal mit bedächtigem Spähen. Andere Raben folgen ſeinem Beiſpiele, und bald iſt eine anſehnliche Geſellſchaft dieſer allgegenwärtigen Vögel verſammelt. Nunmehr finden ſich auch andere Fleiſchfreſſer ein. Der überall gegenwärtige Schmarotzermilan und der kaum minder häufige Schmuzgeier zieht ſeine Kreiſe über demſelben, ein Raubadler nähert ſich, mehrere Kropfſtörche drehen in ſchwindelnder Höhe ihre Schraubenlinien über dem auch ihnen winkenden Gericht.
Aber noch fehlen die Vorleger der Speiſe. Die zuerſt angekommene Geſellſchaft nagt allerdings hier und da an dem gefallenen Thiere herum; allein die dicke Lederhaut deſſelben iſt ihnen viel zu feſt, als daß ſie ſich größere Biſſen abreißen könnten. Nur das eine nach oben gekehrte Auge iſt von einem Schmuzgeier aus ſeiner Höhle gezogen worden. Doch die Zeit, in welcher auch die großen Glieder der Familie auf Nahrung ausfliegen, kommt allmählich heran. Es iſt zehn Uhr geworden; ſie
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[536/0568]
Die Fänger. Raubvögel. Geier.
Beſchwerde zu ertragen. Wenige Arten nur ſcheinen an gewiſſen Gegenden zu hängen; ſie bevor-
zugen dieſelben wenigſtens. So nehmen einzelne im Gebirge ihren Stand und verlaſſen daſſelbe nur
ausnahmsweiſe, während andere wiederum ebene Gegenden in größerer Menge bewohnen, als die
Hochgebirge. Von einem eigentlichen Standorte der Geier iſt übrigens kaum zu reden. Jhre unge-
heuren Flugwerkzeuge ſetzen ſie in den Stand, und die Eigenthümlichkeit ihres Nahrungserwerbs
nöthigt ſie, größere Strecken zu durchſtreifen, als irgend ein anderer Raubvogel ſie durchfliegt. Blos
während der Fortpflanzungszeit bindet ſie die Sorge um ihre Brut an ein und daſſelbe Gebiet;
während des übrigen Jahres führen ſie mehr oder weniger ein Wanderleben. Mit vollſter Wahrheit
kann man von ihnen ſagen, daß ſie überall und nirgends zu finden ſind. Sie erſcheinen plötzlich
maſſenhaft in Gegenden, wo man tage- und wochenlang nicht einen einzigen von ihnen wahrnahm,
und verſchwinden ebenſo ſpurlos wieder, als ſie gekommen. Am treueſten ſcheinen noch die eigent-
lichen Gebirgsvögel der Zunft an ihrem Stande feſtzuhalten; ſie hat man auch nach der Brutzeit
immer an ein und derſelben Stelle beobachtet. Die Nähe der menſchlichen Wohnſitze meiden nur ein-
zelne Geier; andere finden gerade hier mit größerer Leichtigkeit das tägliche Brod, als in Gegenden, in
denen der Menſch, ſo zu ſagen, noch nicht zur eigentlichen Herrſchaft gelangt iſt. Für alle Städte
Südaſiens und Afrikas ſind gerade die Geier bezeichnende Erſcheinungen; für Südamerika gilt
Daſſelbe, nur hinſichtlich der Arten in beſchränkterer Weiſe.
Es wird die Lebensweiſe unſerer Vögel anſchaulich machen, wenn ich einzelne von ihnen handelnd
auftreten laſſe. Jch darf Dies um ſo eher thun, als ich die Geier nicht blos in der Gefangenſchaft,
ſondern auch in ihrem Freileben beobachtet habe und oft genug Zeuge ihres Auftretens geweſen bin.
Allerdings muß ich zu der nun folgenden Schilderung bereits gebrauchte Worte wiederholen; ich kenne
aber keine älteren Beobachtungen, welche erſchöpfend genug wären und bin durch ſpätere Prüfung
von der buchſtäblichen Richtigkeit meiner zuerſt veröffentlichten Mittheilungen überzeugt worden.
Am Saume der Wüſte liegt ein verendetes Kamel. Die ungeheuren Beſchwerden der Wüſten-
reiſe, ein erlittener Samum haben es erſchöpft; es erreichte, obgleich der Treiber dem ermatteten Thiere
ſchon am vorigen Tage ſeine Laſt abnahm und es ledig neben den befrachteten Arbeitsgenoſſen einher-
gehen ließ, den Nil nicht mehr, ſondern brach vollſtändig entkräftet auf Nimmerwiederaufftehen
zuſammen. Sein Herr ließ es, nachdem er mit nicht verhehltem Kummer über den durch ſeinen Tod
erlittenen Verluſt von ihm geſchieden iſt, unberührt liegen, weil ſein Glaube ihm verbietet, das
Geringſte von einem geſtorbenen oder nicht unter den üblichen Gebräuchen getödteten Thiere zu
verwenden.
Am nächſten Morgen liegt der Leichnam noch unverſehrt auf ſeinem fahlen Sterbebette: die nächt-
lich umherſtreifenden Hiänen ſind zufällig nicht in dieſe Gegend gekommen, Die Verweſung beginnt
ihr Werk. Da erſcheint noch am frühen Morgen ein Rabe über dem nächſten Bergesgipfel. Sein
ſcharfes Auge erſpäht ſchon von weitem das Aas; er ſchreit und nähert ſich mit raſcheren Flügelſchlägen,
kreiſt einigemal um das gefallene Thier, ſenkt ſich dann herab und betritt, die ſpitzen Schwingen
zuſammenlegend, in nicht allzu großer Entfernung von demſelben den Boden, nähert ſich ihm nunmehr
raſch und umgeht es mehreremal mit bedächtigem Spähen. Andere Raben folgen ſeinem Beiſpiele,
und bald iſt eine anſehnliche Geſellſchaft dieſer allgegenwärtigen Vögel verſammelt. Nunmehr finden
ſich auch andere Fleiſchfreſſer ein. Der überall gegenwärtige Schmarotzermilan und der kaum minder
häufige Schmuzgeier zieht ſeine Kreiſe über demſelben, ein Raubadler nähert ſich, mehrere
Kropfſtörche drehen in ſchwindelnder Höhe ihre Schraubenlinien über dem auch ihnen winkenden
Gericht.
Aber noch fehlen die Vorleger der Speiſe. Die zuerſt angekommene Geſellſchaft nagt allerdings
hier und da an dem gefallenen Thiere herum; allein die dicke Lederhaut deſſelben iſt ihnen viel zu feſt,
als daß ſie ſich größere Biſſen abreißen könnten. Nur das eine nach oben gekehrte Auge iſt von einem
Schmuzgeier aus ſeiner Höhle gezogen worden. Doch die Zeit, in welcher auch die großen Glieder
der Familie auf Nahrung ausfliegen, kommt allmählich heran. Es iſt zehn Uhr geworden; ſie
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 3. Hildburghausen, 1866, S. 536. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben03_1866/568>, abgerufen am 22.07.2024.
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