Jm Sommer und Herbst lebt der Wisent an feuchten Orten des Waldes, gewöhnlich in den Dickungen versteckt. Jm Winter zieht er das höher gelegene, trockenere Holz vor. Ganz alte Stiere leben einsam, die jüngeren in Rudeln von 15 bis 20 Stück im Sommer und in kleinen Her- den von 30 bis 50 Stück im Winter. Jede einzelne Herde hat ihren festen Stand und kehrt immer wieder nach demselben zurück. Bis zur Brunstzeit herrscht die größte Einigkeit unter ihr; zwei ver- schiedene Herden aber vertragen sich anfangs nicht gut mit einander, und die kleinere weicht soviel als möglich der größeren aus.
Die Wisents sind sowohl bei Tage, als bei Nacht thätig; am liebsten weiden sie in den Abend- und Morgenstunden, zuweilen jedoch auch während der Nacht. Baumrinde, Blätter, Knospen und Gräser bilden ihre Nahrung; die Rinde der Esche scheint ihnen ein ganz besonderer Leckerbissen zu sein. Sie schälen die Bäume ab, soweit sie nur irgend reichen können, und reiten jüngere, bieg- same Stämme nieder, sie und die Krone dann gänzlich vernichtend. Jm Winter müssen junge Knospen der Laubhölzer herhalten; Nadelbäume berühren die Wisents nicht. Jm Bialowiczaer Walde wird Heu auf den Wiesen geerntet und für dieses Wild aufgeschobert, anderes, welches den nahe woh- nenden Pächtern gehört, nimmt das Thier, nachdem es die Umhegungen niedergebrochen hat, ge- waltsam in Besitz und fügt hierdurch den armen Litthauern großen Schaden zu. Frisches Wasser ist dem Wisent Bedürfniß.
Wenn auch die Bewegungen der Wildstiere schwerfällig und plump erscheinen mögen, sind sie doch, bei Lichte betrachtet, lebhaft genug. Der Gang ist ein rascher Schritt, der Lauf ein schwerer, aber schnell fördernder Galopp, wobei das Thier den Kopf zu Boden senkt und den Schwanz empor- gehoben von sich streckt. Der Wisent ist ein munteres und lebhaftes Thier, welches gern mit sich selbst und seines Gleichen spielt. Zwei Kälber springen oft lustig im Kreise umher und necken sich gegenseitig mit ihren Hörnern. Jm allgemeinen lassen die Stiere Menschen, welche sie nicht be- helligen wollen, ruhig an sich vorübergehen; allein die geringste Veranlassung kann ihren Zorn erregen, und dann sind sie furchtbar. Jm Sommer pflegen sie dem Menschen stets auszuweichen, im Winter gehen sie gewöhnlich Niemand aus dem Wege, und es ist schon vorgekommen, daß Bauern lange warten mußten, ehe es dem Wisent gefiel, einen von ihm gesperrten Fußpfad zu ver- lassen, auf welchem es für den Menschen kein Ausweichen gab. Eine große Wildheit, viel Trotz und gewaltiger Jähzorn beherrscht die Stiere, wie die meisten anderen wild lebenden Arten der Fa- milie. Jm Zorn streckt der Wisent die bläulichrothe Zunge lang heraus, rollt das geröthete Auge, sein Blick wird wahrhaft furchtbar, und endlich stürzt er mit beispielloser Wuth auf den Gegenstand seines Zornes los. Jüngere Thiere sind immer scheuer und furchtsamer, als die alten Stiere, unter denen namentlich die einsiedlerisch lebenden zu einer wahren Geisel für die Gegend werden. Jn den meisten Fällen zieht sich der Wisent freilich vor dem Menschen zurück, und seine im hohen Grade ent- wickelten Sinne lassen ihn dessen Ankunft auch regelmäßig noch eher erkennen, als der Mensch ihn wahrgenommen hat; die alten Einsiedler aber scheinen sich ein besonderes Vergnügen daraus zu machen, mit dem Menschen anzubinden. Ein alter Hauptstier beherrschte eine Zeit lang die durch den Bialowiczaer Wald führende Straße. Er wich nicht einmal Fuhrwerken aus und hat viel Unglück angerichtet. Wenn er auf einem durchziehenden Schlitten gutes Heu witterte, erhob er gewaltsam seinen Zoll, indem er trotzig vor die Pferde trat und mit Gebrüll aufforderte, ihm Heu herabzuwerfen. Verweigerte man, ihm das verlangte zu gewähren und versuchte man, die Peitsche gegen ihn anzu- wenden, so gerieth er in einen furchtbaren Zorn, hob den Schwanz empor und stürzte mit niederge- beugten Hörnern auf den Schlitten los, packte ihn und warf ihn mit einem einzigen Stoß über den Haufen. Reisende, welche ihn neckten, schleuderte er aus dem Schlitten heraus, und ängstigte die Pferde aufs äußerste. Diese zeigen von vornherein große Furcht und Abscheu vor dem Wisent, und pflegen durchzugehen, wenn sie ihn nur wittern. Tritt ihnen aber der entsetzliche Stier plötzlich in den Weg, so geberden sie sich wie unsinnig, bäumen sich, werfen sich nieder und verrathen auf jede Weise ihr Entsetzen. Noch wüthender wird der Stier, wenn er sich verfolgt sieht. Dann ist es
Brehm, Thierleben. II. 41
Der Wiſent.
Jm Sommer und Herbſt lebt der Wiſent an feuchten Orten des Waldes, gewöhnlich in den Dickungen verſteckt. Jm Winter zieht er das höher gelegene, trockenere Holz vor. Ganz alte Stiere leben einſam, die jüngeren in Rudeln von 15 bis 20 Stück im Sommer und in kleinen Her- den von 30 bis 50 Stück im Winter. Jede einzelne Herde hat ihren feſten Stand und kehrt immer wieder nach demſelben zurück. Bis zur Brunſtzeit herrſcht die größte Einigkeit unter ihr; zwei ver- ſchiedene Herden aber vertragen ſich anfangs nicht gut mit einander, und die kleinere weicht ſoviel als möglich der größeren aus.
Die Wiſents ſind ſowohl bei Tage, als bei Nacht thätig; am liebſten weiden ſie in den Abend- und Morgenſtunden, zuweilen jedoch auch während der Nacht. Baumrinde, Blätter, Knospen und Gräſer bilden ihre Nahrung; die Rinde der Eſche ſcheint ihnen ein ganz beſonderer Leckerbiſſen zu ſein. Sie ſchälen die Bäume ab, ſoweit ſie nur irgend reichen können, und reiten jüngere, bieg- ſame Stämme nieder, ſie und die Krone dann gänzlich vernichtend. Jm Winter müſſen junge Knospen der Laubhölzer herhalten; Nadelbäume berühren die Wiſents nicht. Jm Bialowiczaer Walde wird Heu auf den Wieſen geerntet und für dieſes Wild aufgeſchobert, anderes, welches den nahe woh- nenden Pächtern gehört, nimmt das Thier, nachdem es die Umhegungen niedergebrochen hat, ge- waltſam in Beſitz und fügt hierdurch den armen Litthauern großen Schaden zu. Friſches Waſſer iſt dem Wiſent Bedürfniß.
Wenn auch die Bewegungen der Wildſtiere ſchwerfällig und plump erſcheinen mögen, ſind ſie doch, bei Lichte betrachtet, lebhaft genug. Der Gang iſt ein raſcher Schritt, der Lauf ein ſchwerer, aber ſchnell fördernder Galopp, wobei das Thier den Kopf zu Boden ſenkt und den Schwanz empor- gehoben von ſich ſtreckt. Der Wiſent iſt ein munteres und lebhaftes Thier, welches gern mit ſich ſelbſt und ſeines Gleichen ſpielt. Zwei Kälber ſpringen oft luſtig im Kreiſe umher und necken ſich gegenſeitig mit ihren Hörnern. Jm allgemeinen laſſen die Stiere Menſchen, welche ſie nicht be- helligen wollen, ruhig an ſich vorübergehen; allein die geringſte Veranlaſſung kann ihren Zorn erregen, und dann ſind ſie furchtbar. Jm Sommer pflegen ſie dem Menſchen ſtets auszuweichen, im Winter gehen ſie gewöhnlich Niemand aus dem Wege, und es iſt ſchon vorgekommen, daß Bauern lange warten mußten, ehe es dem Wiſent gefiel, einen von ihm geſperrten Fußpfad zu ver- laſſen, auf welchem es für den Menſchen kein Ausweichen gab. Eine große Wildheit, viel Trotz und gewaltiger Jähzorn beherrſcht die Stiere, wie die meiſten anderen wild lebenden Arten der Fa- milie. Jm Zorn ſtreckt der Wiſent die bläulichrothe Zunge lang heraus, rollt das geröthete Auge, ſein Blick wird wahrhaft furchtbar, und endlich ſtürzt er mit beiſpielloſer Wuth auf den Gegenſtand ſeines Zornes los. Jüngere Thiere ſind immer ſcheuer und furchtſamer, als die alten Stiere, unter denen namentlich die einſiedleriſch lebenden zu einer wahren Geiſel für die Gegend werden. Jn den meiſten Fällen zieht ſich der Wiſent freilich vor dem Menſchen zurück, und ſeine im hohen Grade ent- wickelten Sinne laſſen ihn deſſen Ankunft auch regelmäßig noch eher erkennen, als der Menſch ihn wahrgenommen hat; die alten Einſiedler aber ſcheinen ſich ein beſonderes Vergnügen daraus zu machen, mit dem Menſchen anzubinden. Ein alter Hauptſtier beherrſchte eine Zeit lang die durch den Bialowiczaer Wald führende Straße. Er wich nicht einmal Fuhrwerken aus und hat viel Unglück angerichtet. Wenn er auf einem durchziehenden Schlitten gutes Heu witterte, erhob er gewaltſam ſeinen Zoll, indem er trotzig vor die Pferde trat und mit Gebrüll aufforderte, ihm Heu herabzuwerfen. Verweigerte man, ihm das verlangte zu gewähren und verſuchte man, die Peitſche gegen ihn anzu- wenden, ſo gerieth er in einen furchtbaren Zorn, hob den Schwanz empor und ſtürzte mit niederge- beugten Hörnern auf den Schlitten los, packte ihn und warf ihn mit einem einzigen Stoß über den Haufen. Reiſende, welche ihn neckten, ſchleuderte er aus dem Schlitten heraus, und ängſtigte die Pferde aufs äußerſte. Dieſe zeigen von vornherein große Furcht und Abſcheu vor dem Wiſent, und pflegen durchzugehen, wenn ſie ihn nur wittern. Tritt ihnen aber der entſetzliche Stier plötzlich in den Weg, ſo geberden ſie ſich wie unſinnig, bäumen ſich, werfen ſich nieder und verrathen auf jede Weiſe ihr Entſetzen. Noch wüthender wird der Stier, wenn er ſich verfolgt ſieht. Dann iſt es
Brehm, Thierleben. II. 41
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[641/0675]
Der Wiſent.
Jm Sommer und Herbſt lebt der Wiſent an feuchten Orten des Waldes, gewöhnlich in den
Dickungen verſteckt. Jm Winter zieht er das höher gelegene, trockenere Holz vor. Ganz alte
Stiere leben einſam, die jüngeren in Rudeln von 15 bis 20 Stück im Sommer und in kleinen Her-
den von 30 bis 50 Stück im Winter. Jede einzelne Herde hat ihren feſten Stand und kehrt immer
wieder nach demſelben zurück. Bis zur Brunſtzeit herrſcht die größte Einigkeit unter ihr; zwei ver-
ſchiedene Herden aber vertragen ſich anfangs nicht gut mit einander, und die kleinere weicht ſoviel als
möglich der größeren aus.
Die Wiſents ſind ſowohl bei Tage, als bei Nacht thätig; am liebſten weiden ſie in den Abend-
und Morgenſtunden, zuweilen jedoch auch während der Nacht. Baumrinde, Blätter, Knospen und
Gräſer bilden ihre Nahrung; die Rinde der Eſche ſcheint ihnen ein ganz beſonderer Leckerbiſſen zu
ſein. Sie ſchälen die Bäume ab, ſoweit ſie nur irgend reichen können, und reiten jüngere, bieg-
ſame Stämme nieder, ſie und die Krone dann gänzlich vernichtend. Jm Winter müſſen junge
Knospen der Laubhölzer herhalten; Nadelbäume berühren die Wiſents nicht. Jm Bialowiczaer Walde
wird Heu auf den Wieſen geerntet und für dieſes Wild aufgeſchobert, anderes, welches den nahe woh-
nenden Pächtern gehört, nimmt das Thier, nachdem es die Umhegungen niedergebrochen hat, ge-
waltſam in Beſitz und fügt hierdurch den armen Litthauern großen Schaden zu. Friſches Waſſer iſt
dem Wiſent Bedürfniß.
Wenn auch die Bewegungen der Wildſtiere ſchwerfällig und plump erſcheinen mögen, ſind ſie
doch, bei Lichte betrachtet, lebhaft genug. Der Gang iſt ein raſcher Schritt, der Lauf ein ſchwerer,
aber ſchnell fördernder Galopp, wobei das Thier den Kopf zu Boden ſenkt und den Schwanz empor-
gehoben von ſich ſtreckt. Der Wiſent iſt ein munteres und lebhaftes Thier, welches gern mit ſich
ſelbſt und ſeines Gleichen ſpielt. Zwei Kälber ſpringen oft luſtig im Kreiſe umher und necken ſich
gegenſeitig mit ihren Hörnern. Jm allgemeinen laſſen die Stiere Menſchen, welche ſie nicht be-
helligen wollen, ruhig an ſich vorübergehen; allein die geringſte Veranlaſſung kann ihren Zorn
erregen, und dann ſind ſie furchtbar. Jm Sommer pflegen ſie dem Menſchen ſtets auszuweichen,
im Winter gehen ſie gewöhnlich Niemand aus dem Wege, und es iſt ſchon vorgekommen, daß
Bauern lange warten mußten, ehe es dem Wiſent gefiel, einen von ihm geſperrten Fußpfad zu ver-
laſſen, auf welchem es für den Menſchen kein Ausweichen gab. Eine große Wildheit, viel Trotz
und gewaltiger Jähzorn beherrſcht die Stiere, wie die meiſten anderen wild lebenden Arten der Fa-
milie. Jm Zorn ſtreckt der Wiſent die bläulichrothe Zunge lang heraus, rollt das geröthete Auge,
ſein Blick wird wahrhaft furchtbar, und endlich ſtürzt er mit beiſpielloſer Wuth auf den Gegenſtand
ſeines Zornes los. Jüngere Thiere ſind immer ſcheuer und furchtſamer, als die alten Stiere, unter
denen namentlich die einſiedleriſch lebenden zu einer wahren Geiſel für die Gegend werden. Jn den
meiſten Fällen zieht ſich der Wiſent freilich vor dem Menſchen zurück, und ſeine im hohen Grade ent-
wickelten Sinne laſſen ihn deſſen Ankunft auch regelmäßig noch eher erkennen, als der Menſch ihn
wahrgenommen hat; die alten Einſiedler aber ſcheinen ſich ein beſonderes Vergnügen daraus zu
machen, mit dem Menſchen anzubinden. Ein alter Hauptſtier beherrſchte eine Zeit lang die durch
den Bialowiczaer Wald führende Straße. Er wich nicht einmal Fuhrwerken aus und hat viel Unglück
angerichtet. Wenn er auf einem durchziehenden Schlitten gutes Heu witterte, erhob er gewaltſam ſeinen
Zoll, indem er trotzig vor die Pferde trat und mit Gebrüll aufforderte, ihm Heu herabzuwerfen.
Verweigerte man, ihm das verlangte zu gewähren und verſuchte man, die Peitſche gegen ihn anzu-
wenden, ſo gerieth er in einen furchtbaren Zorn, hob den Schwanz empor und ſtürzte mit niederge-
beugten Hörnern auf den Schlitten los, packte ihn und warf ihn mit einem einzigen Stoß über den
Haufen. Reiſende, welche ihn neckten, ſchleuderte er aus dem Schlitten heraus, und ängſtigte die
Pferde aufs äußerſte. Dieſe zeigen von vornherein große Furcht und Abſcheu vor dem Wiſent, und
pflegen durchzugehen, wenn ſie ihn nur wittern. Tritt ihnen aber der entſetzliche Stier plötzlich in
den Weg, ſo geberden ſie ſich wie unſinnig, bäumen ſich, werfen ſich nieder und verrathen auf jede
Weiſe ihr Entſetzen. Noch wüthender wird der Stier, wenn er ſich verfolgt ſieht. Dann iſt es
Brehm, Thierleben. II. 41
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 641. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/675>, abgerufen am 23.11.2024.
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