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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865.

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Die Gemse. Die Gabelgemse.
Geiern und Adlern. Kurz, die Gemsenjagd hat ihre unendlichen Mühseligkeiten und kann viel
Aerger verursachen.

Aber sie hat auch Freuden ohne Zahl in ihrem Gefolge. Schon das frische, freie Streifen über
Berg und Thal, das behagliche Gefühl, welches glücklich überstandene Beschwerden in dem Men-
schen erwecken, ist des Lohns genug. Und dann, welche Genüsse bietet die Beobachtung! Da wird
jede Bewegung betrachtet, jede Eigenheit der Gemsen erkundet, und Der, welcher bereits Tausende
gesehen, findet in denen, welche er später beobachtet, noch immer Etwas zu entdecken, zu bemerken,
findet immer noch Etwas, worüber er sich freuen kann. "Und auch von glücklichen Fällen wollen
wir sprechen," sagt Tschudi. "Der Jäger hat stundenlang sein Wild verfolgt. Als er die Gem-
sen zuerst gewahrte, äßten sie sich ruhig. Jetzt sieht er sie dort nicht mehr, bemerkt aber noch die
Vorgeis durch sein Fernrohr, die weit hinter ihnen ruhig auf einer hervorragenden Felsenplatte liegt
und wiederkäut. Er vermuthet, daß das Rudel hinter ihr in einer Felsenklinge im Schatten liegt
und klettert von neuem über Stock und Stein, um von hinten anzukommen. Noch eine Stunde
Schweiß und richtig: da liegen wohlgezählt sieben alte Thiere in der breiten Bergspalte zerstreut.
Vorsichtig läßt sich der Jäger auf den Bauch nieder und kriecht, sein Doppelrohr ruckweise vorschie-
bend, langsam, lautlos hinter den Felsblock. Er zielt, schießt -- hoch auf schnellt der Bock und stürzt
zusammen. Die Thiere sind alle blitzschnell aufgesprungen, wissen aber, da sie keinen Feind sehen,
nicht, woher das Verderben kam. Der Widerhall des Schusses tönt in allen Felsenwänden nach --
wohin fliehen? Während die Thiere in der höchsten Furcht zusammenstehen und rathlos hin- und
herspringen, naht eins dem lauernden Jäger und erhält den zweiten Schuß. Ja, oft ist dieser so
glücklich, noch einen bis zwei Schüsse zu thun, wenn er gut gedeckt bleibt oder wenn gar ein anderes
Rudel, durch die Schüsse erschreckt, ohne die Richtung der Gefahr zu erkennen, herbeijagt. Nie aber
und unter keiner Bedingung darf der Jäger sich nach gefallenem Schusse blicken lassen, solange Gem-
sen in der Nähe sind, da Nichts geeigneter wäre, die Gemsen aus dem Gebiete zu treiben, als der
Anblick des Verderbers unmittelbar nach dem Tode des Gefährten."

"Wenn die Beute glücklich erlegt ist, weidet der Schütz sie aus, bindet ihr die Füße zusammen,
halt ihr die Hörner ein und schleppt sie, die Läufe über die Stirn zusammengelegt, nach Hause,
und nicht nur eine, sondern zwei zugleich auf ein Mal, und zwar auf den gefährlichsten Wegen. Der
eigentliche Jagdgewinn steht heutzutage in keinem Verhältnisse mehr zu den Gefahren, Mühen und zu
der verlorenen Zeit. Die Gemse ist höchstens sechs Thaler werth, und doch sind die Jäger so leiden-
schaftlich erpicht, daß sie lieber das Leben lassen, als ihre Jagd. Diese Jagd gibt ihrem Wesen ein
ganz eigenes Gepräge. Der unaufhörliche Kampf mit Gefahr und Noth, das lange dauernde Lauern
und Aufpassen, das vorsichtige, stundenlange Vorbereiten des Hauptschlages, das entschlossene Er-
greifen des günstigsten Augenblickes: dies Alles übt seinen Einfluß auf den Menschen aus. Er wird
schweigsam und verschlossen, in Wort und Handlung ausdrucksvoll und entschieden, mäßig, genüg-
sam, sparsam und geduldig."

Viel ließe sich noch schreiben über diese Leute, wie Tschudi in so anziehender Weise gethan hat;
viel ließe sich noch sagen von dem berühmten Jäger Colani, mit welchem unser Lenz mehrtägig die
Alpen durchstreifte, von dem alten Gemsenfürsten, welcher allein 2700 Gemsen erlegte, jene ungerechnet,
die er in früheren Jahren nicht gezählt hatte, der sich die Herrschaft augemaßt hatte über Leben und
Tod, und nicht blos über das Leben der Gemsen: -- doch wir können diesen Stoff nicht weiter
verfolgen.



An unsere Gemse schließt sich innig eine der wenigen Antilopen an, welche den Norden Ame-
rikas bewohnen. Der alte Hernandez führt dieses Thier in seiner Beschreibung Mejikos unter
dem Namen Teuthlamacame an, die Pelzhändler nennen es nach dem spanischen Worte Cabra,
zu deutsch Ziege, gewöhnlich Kabri; wir können es im Deutschen Gabelgemse benamsen. Der
wissenschaftliche Name ist Antilocapra americana oder Antilope furcifer.

Die Gemſe. Die Gabelgemſe.
Geiern und Adlern. Kurz, die Gemſenjagd hat ihre unendlichen Mühſeligkeiten und kann viel
Aerger verurſachen.

Aber ſie hat auch Freuden ohne Zahl in ihrem Gefolge. Schon das friſche, freie Streifen über
Berg und Thal, das behagliche Gefühl, welches glücklich überſtandene Beſchwerden in dem Men-
ſchen erwecken, iſt des Lohns genug. Und dann, welche Genüſſe bietet die Beobachtung! Da wird
jede Bewegung betrachtet, jede Eigenheit der Gemſen erkundet, und Der, welcher bereits Tauſende
geſehen, findet in denen, welche er ſpäter beobachtet, noch immer Etwas zu entdecken, zu bemerken,
findet immer noch Etwas, worüber er ſich freuen kann. „Und auch von glücklichen Fällen wollen
wir ſprechen,‟ ſagt Tſchudi. „Der Jäger hat ſtundenlang ſein Wild verfolgt. Als er die Gem-
ſen zuerſt gewahrte, äßten ſie ſich ruhig. Jetzt ſieht er ſie dort nicht mehr, bemerkt aber noch die
Vorgeis durch ſein Fernrohr, die weit hinter ihnen ruhig auf einer hervorragenden Felſenplatte liegt
und wiederkäut. Er vermuthet, daß das Rudel hinter ihr in einer Felſenklinge im Schatten liegt
und klettert von neuem über Stock und Stein, um von hinten anzukommen. Noch eine Stunde
Schweiß und richtig: da liegen wohlgezählt ſieben alte Thiere in der breiten Bergſpalte zerſtreut.
Vorſichtig läßt ſich der Jäger auf den Bauch nieder und kriecht, ſein Doppelrohr ruckweiſe vorſchie-
bend, langſam, lautlos hinter den Felsblock. Er zielt, ſchießt — hoch auf ſchnellt der Bock und ſtürzt
zuſammen. Die Thiere ſind alle blitzſchnell aufgeſprungen, wiſſen aber, da ſie keinen Feind ſehen,
nicht, woher das Verderben kam. Der Widerhall des Schuſſes tönt in allen Felſenwänden nach —
wohin fliehen? Während die Thiere in der höchſten Furcht zuſammenſtehen und rathlos hin- und
herſpringen, naht eins dem lauernden Jäger und erhält den zweiten Schuß. Ja, oft iſt dieſer ſo
glücklich, noch einen bis zwei Schüſſe zu thun, wenn er gut gedeckt bleibt oder wenn gar ein anderes
Rudel, durch die Schüſſe erſchreckt, ohne die Richtung der Gefahr zu erkennen, herbeijagt. Nie aber
und unter keiner Bedingung darf der Jäger ſich nach gefallenem Schuſſe blicken laſſen, ſolange Gem-
ſen in der Nähe ſind, da Nichts geeigneter wäre, die Gemſen aus dem Gebiete zu treiben, als der
Anblick des Verderbers unmittelbar nach dem Tode des Gefährten.‟

„Wenn die Beute glücklich erlegt iſt, weidet der Schütz ſie aus, bindet ihr die Füße zuſammen,
halt ihr die Hörner ein und ſchleppt ſie, die Läufe über die Stirn zuſammengelegt, nach Hauſe,
und nicht nur eine, ſondern zwei zugleich auf ein Mal, und zwar auf den gefährlichſten Wegen. Der
eigentliche Jagdgewinn ſteht heutzutage in keinem Verhältniſſe mehr zu den Gefahren, Mühen und zu
der verlorenen Zeit. Die Gemſe iſt höchſtens ſechs Thaler werth, und doch ſind die Jäger ſo leiden-
ſchaftlich erpicht, daß ſie lieber das Leben laſſen, als ihre Jagd. Dieſe Jagd gibt ihrem Weſen ein
ganz eigenes Gepräge. Der unaufhörliche Kampf mit Gefahr und Noth, das lange dauernde Lauern
und Aufpaſſen, das vorſichtige, ſtundenlange Vorbereiten des Hauptſchlages, das entſchloſſene Er-
greifen des günſtigſten Augenblickes: dies Alles übt ſeinen Einfluß auf den Menſchen aus. Er wird
ſchweigſam und verſchloſſen, in Wort und Handlung ausdrucksvoll und entſchieden, mäßig, genüg-
ſam, ſparſam und geduldig.‟

Viel ließe ſich noch ſchreiben über dieſe Leute, wie Tſchudi in ſo anziehender Weiſe gethan hat;
viel ließe ſich noch ſagen von dem berühmten Jäger Colani, mit welchem unſer Lenz mehrtägig die
Alpen durchſtreifte, von dem alten Gemſenfürſten, welcher allein 2700 Gemſen erlegte, jene ungerechnet,
die er in früheren Jahren nicht gezählt hatte, der ſich die Herrſchaft augemaßt hatte über Leben und
Tod, und nicht blos über das Leben der Gemſen: — doch wir können dieſen Stoff nicht weiter
verfolgen.



An unſere Gemſe ſchließt ſich innig eine der wenigen Antilopen an, welche den Norden Ame-
rikas bewohnen. Der alte Hernandez führt dieſes Thier in ſeiner Beſchreibung Mejikos unter
dem Namen Teuthlamacame an, die Pelzhändler nennen es nach dem ſpaniſchen Worte Cabra,
zu deutſch Ziege, gewöhnlich Kabri; wir können es im Deutſchen Gabelgemſe benamſen. Der
wiſſenſchaftliche Name iſt Antilocapra americana oder Antilope furcifer.

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[535/0565] Die Gemſe. Die Gabelgemſe. Geiern und Adlern. Kurz, die Gemſenjagd hat ihre unendlichen Mühſeligkeiten und kann viel Aerger verurſachen. Aber ſie hat auch Freuden ohne Zahl in ihrem Gefolge. Schon das friſche, freie Streifen über Berg und Thal, das behagliche Gefühl, welches glücklich überſtandene Beſchwerden in dem Men- ſchen erwecken, iſt des Lohns genug. Und dann, welche Genüſſe bietet die Beobachtung! Da wird jede Bewegung betrachtet, jede Eigenheit der Gemſen erkundet, und Der, welcher bereits Tauſende geſehen, findet in denen, welche er ſpäter beobachtet, noch immer Etwas zu entdecken, zu bemerken, findet immer noch Etwas, worüber er ſich freuen kann. „Und auch von glücklichen Fällen wollen wir ſprechen,‟ ſagt Tſchudi. „Der Jäger hat ſtundenlang ſein Wild verfolgt. Als er die Gem- ſen zuerſt gewahrte, äßten ſie ſich ruhig. Jetzt ſieht er ſie dort nicht mehr, bemerkt aber noch die Vorgeis durch ſein Fernrohr, die weit hinter ihnen ruhig auf einer hervorragenden Felſenplatte liegt und wiederkäut. Er vermuthet, daß das Rudel hinter ihr in einer Felſenklinge im Schatten liegt und klettert von neuem über Stock und Stein, um von hinten anzukommen. Noch eine Stunde Schweiß und richtig: da liegen wohlgezählt ſieben alte Thiere in der breiten Bergſpalte zerſtreut. Vorſichtig läßt ſich der Jäger auf den Bauch nieder und kriecht, ſein Doppelrohr ruckweiſe vorſchie- bend, langſam, lautlos hinter den Felsblock. Er zielt, ſchießt — hoch auf ſchnellt der Bock und ſtürzt zuſammen. Die Thiere ſind alle blitzſchnell aufgeſprungen, wiſſen aber, da ſie keinen Feind ſehen, nicht, woher das Verderben kam. Der Widerhall des Schuſſes tönt in allen Felſenwänden nach — wohin fliehen? Während die Thiere in der höchſten Furcht zuſammenſtehen und rathlos hin- und herſpringen, naht eins dem lauernden Jäger und erhält den zweiten Schuß. Ja, oft iſt dieſer ſo glücklich, noch einen bis zwei Schüſſe zu thun, wenn er gut gedeckt bleibt oder wenn gar ein anderes Rudel, durch die Schüſſe erſchreckt, ohne die Richtung der Gefahr zu erkennen, herbeijagt. Nie aber und unter keiner Bedingung darf der Jäger ſich nach gefallenem Schuſſe blicken laſſen, ſolange Gem- ſen in der Nähe ſind, da Nichts geeigneter wäre, die Gemſen aus dem Gebiete zu treiben, als der Anblick des Verderbers unmittelbar nach dem Tode des Gefährten.‟ „Wenn die Beute glücklich erlegt iſt, weidet der Schütz ſie aus, bindet ihr die Füße zuſammen, halt ihr die Hörner ein und ſchleppt ſie, die Läufe über die Stirn zuſammengelegt, nach Hauſe, und nicht nur eine, ſondern zwei zugleich auf ein Mal, und zwar auf den gefährlichſten Wegen. Der eigentliche Jagdgewinn ſteht heutzutage in keinem Verhältniſſe mehr zu den Gefahren, Mühen und zu der verlorenen Zeit. Die Gemſe iſt höchſtens ſechs Thaler werth, und doch ſind die Jäger ſo leiden- ſchaftlich erpicht, daß ſie lieber das Leben laſſen, als ihre Jagd. Dieſe Jagd gibt ihrem Weſen ein ganz eigenes Gepräge. Der unaufhörliche Kampf mit Gefahr und Noth, das lange dauernde Lauern und Aufpaſſen, das vorſichtige, ſtundenlange Vorbereiten des Hauptſchlages, das entſchloſſene Er- greifen des günſtigſten Augenblickes: dies Alles übt ſeinen Einfluß auf den Menſchen aus. Er wird ſchweigſam und verſchloſſen, in Wort und Handlung ausdrucksvoll und entſchieden, mäßig, genüg- ſam, ſparſam und geduldig.‟ Viel ließe ſich noch ſchreiben über dieſe Leute, wie Tſchudi in ſo anziehender Weiſe gethan hat; viel ließe ſich noch ſagen von dem berühmten Jäger Colani, mit welchem unſer Lenz mehrtägig die Alpen durchſtreifte, von dem alten Gemſenfürſten, welcher allein 2700 Gemſen erlegte, jene ungerechnet, die er in früheren Jahren nicht gezählt hatte, der ſich die Herrſchaft augemaßt hatte über Leben und Tod, und nicht blos über das Leben der Gemſen: — doch wir können dieſen Stoff nicht weiter verfolgen. An unſere Gemſe ſchließt ſich innig eine der wenigen Antilopen an, welche den Norden Ame- rikas bewohnen. Der alte Hernandez führt dieſes Thier in ſeiner Beſchreibung Mejikos unter dem Namen Teuthlamacame an, die Pelzhändler nennen es nach dem ſpaniſchen Worte Cabra, zu deutſch Ziege, gewöhnlich Kabri; wir können es im Deutſchen Gabelgemſe benamſen. Der wiſſenſchaftliche Name iſt Antilocapra americana oder Antilope furcifer.

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 535. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/565>, abgerufen am 24.11.2024.