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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865.

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Die Antilopen. -- Die Gemse.
fast ebenso gewandt, wie diese. Die Gemsenziege behält ihren Sprößling sechs Monate lang bei sich.
Sie ist äußerst besorgt um ihn und lehrt und unterrichtet ihn in allen Nothwendigkeiten des Lebens.
Der Bock hingegen bekümmert sich nicht im geringsten um seine Nachkommenschaft. Schon vor der
Geburt hat sich die hochbeschlagene Ziege vom Rudel abgesondert und eine passende Weide aus-
gesucht. Dort treibt sie sich später mit ihrem Jungen umher, immer auf den steilsten und ein-
samsten Stellen. Meckernd leitet sie ihr Kind, und mit Meckern gibt sie ihm Unterricht in allen Fer-
tigkeiten, deren die Gemse so nothwendig bedarf, nämlich Klettern und Springen, und macht ihm
manche Sprünge ausdrücklich so lange vor, bis das Junge geschickt genug ist, sie ohne weiteres aus-
zuführen. Auch das Junge hängt mit unendlicher Liebe an seiner Mutter; es verläßt sie nicht ein-
mal im Tode. Mehr als ein Mal haben die Jäger beobachtet, daß junge Gemsen zu ihren von ihnen
erlegten Müttern kamen und klagend bei ihnen stehen blieben. Ja es sind Beispiele bekannt, daß
sich solche Thiere, obgleich sie ihre Scheu vor dem Menschen durch einen dumpfen, blöckenden Ton
und das aufgesperrte Maul deutlich zu erkennen gaben, ruhig von der Leiche ihrer Mutter weg-
nehmen ließen. Uebrigens sollen, wie beim Steinwild, verwaiste Gemsen von anderen Müttern
angenommen und treulich gepflegt werden. Die neugeborenen Thiere wachsen außerordentlich rasch.
Schon im dritten Monat zeigen sich die Hörnchen, und im dritten Jahre können sowohl die Böcke, als
die Ziegen als erwachsen gelten. -- Das Alter, welches sie überhaupt erreichen, schätzt man auf 20
bis 30 Jahr.

Jung eingefangene Gemsen lassen sich leicht zähmen. Man ernährt sie mit Ziegenmilch, mit
saftigem Grase und Kräutern, mit Kohl, Rüben und Brod. Wenn man gutartige Ziegen hat, kann
man diesen das Pflegeelterngeschäft anvertrauen. Dabei gedeihen die kleinen, lustigen Gebirgskinder
nur um so besser. Die jungen Gemsen haben in ihrem Benehmen viel Ziegenartiges, und die Jungen
vielleicht noch mehr, als die Alten. Lustig spielen sie mit dem Zicklein, keck und munter mit dem
Hunde; traulich folgen sie dem Pfleger, freundlich kommen sie herbei, um sich Nahrung zu erbitten.
Jhr Sinn strebt immer nach dem Höchsten. Steinblöcke in ihrem Hofe, Manerabsätze und andere
Erhöhungen werden ein Lieblingsort für sie. Dort stehen sie oft stundenlang. Sie werden zwar nie
so kräftig, als die freilebenden Gemsen, scheinen sich aber ganz wohl in der Gefangenschaft zu be-
finden. Bei manchen bricht im Alter auch eine gewisse Wildheit durch; dann gebrauchen sie ihre
Hörnchen oft recht ausdrücklich. Jhre Genügsamkeit erleichtert ihnen und ihrem Pfleger die Gefangen-
haltung. Jm Alter sind sie noch weniger wählerisch hinsichtlich ihrer Nahrung, als in der Jugend.
Abgehärtet sind sie von Mutterleibe an. Jm Winter genügt ihnen ein wenig Streu unter einem
offenen Dächlein. Sperrt man sie in einen Stall, so behagt es ihnen nicht einmal. Einen Raum
zur Bewegung und frisches Wasser müssen sie haben: diese beiden Dinge sind ihnen unumgänglich
nöthig. Alteingefangene bleiben immer furchtsam und scheu.

Bisjetzt ist es nur selten gelungen, die Gemse in der Gefangenschaft zur Fortpflanzung zu
bringen. Der Fabrikant Laufer in Chambery bekam im Jahre 1855 von seinem zahmen Gemsen-
paare, dessen Weibchen schon 1850 ein todtes geworfen hatte, zwei gesunde und muntere Kälbchen.
Dasselbe ereignete sich im Thiergarten zu Dresden. Oft hat man, namentlich Gemsböcke, mit Haus-
ziegen gepaart. Kasthofer war wohl der Erste, dem es gelang, Blendlinge zwischen Gemsen
und Zibethziegen zu erziehen. Später hat man mehrere ähnliche Ergebnisse gewonnen. Das Junge
hatte von der Mutter blos die Farbe, vom Vater den ausgezeichneten Gliederbau, die hohe Stirn,
die große Kletter- und Springlust und die Wildheit und Scheu. Bei freilebenden Gemsen und
Ziegen, d. h. bei solchen, welche während des ganzen Sommers auf den Alpen weiden, sind derartige
Vermischungen noch nicht beobachtet worden.

Viele Feinde und viele Gefahren bedrohen die Gemsen. Der Mensch und die großen Raub-
thiere sind nicht ihre einzigen Verderber. Herabrollende Steine und Felsenstücke erschlagen eine
und die andere, Schneelauinen begraben oft ganze Gesellschaften. Die Gemsen kennen zwar diese
Gefahr und suchen Stellen auf, wo sie am sichersten sind; das Unglück ereilt sie aber doch. Unter

Die Antilopen. — Die Gemſe.
faſt ebenſo gewandt, wie dieſe. Die Gemſenziege behält ihren Sprößling ſechs Monate lang bei ſich.
Sie iſt äußerſt beſorgt um ihn und lehrt und unterrichtet ihn in allen Nothwendigkeiten des Lebens.
Der Bock hingegen bekümmert ſich nicht im geringſten um ſeine Nachkommenſchaft. Schon vor der
Geburt hat ſich die hochbeſchlagene Ziege vom Rudel abgeſondert und eine paſſende Weide aus-
geſucht. Dort treibt ſie ſich ſpäter mit ihrem Jungen umher, immer auf den ſteilſten und ein-
ſamſten Stellen. Meckernd leitet ſie ihr Kind, und mit Meckern gibt ſie ihm Unterricht in allen Fer-
tigkeiten, deren die Gemſe ſo nothwendig bedarf, nämlich Klettern und Springen, und macht ihm
manche Sprünge ausdrücklich ſo lange vor, bis das Junge geſchickt genug iſt, ſie ohne weiteres aus-
zuführen. Auch das Junge hängt mit unendlicher Liebe an ſeiner Mutter; es verläßt ſie nicht ein-
mal im Tode. Mehr als ein Mal haben die Jäger beobachtet, daß junge Gemſen zu ihren von ihnen
erlegten Müttern kamen und klagend bei ihnen ſtehen blieben. Ja es ſind Beiſpiele bekannt, daß
ſich ſolche Thiere, obgleich ſie ihre Scheu vor dem Menſchen durch einen dumpfen, blöckenden Ton
und das aufgeſperrte Maul deutlich zu erkennen gaben, ruhig von der Leiche ihrer Mutter weg-
nehmen ließen. Uebrigens ſollen, wie beim Steinwild, verwaiſte Gemſen von anderen Müttern
angenommen und treulich gepflegt werden. Die neugeborenen Thiere wachſen außerordentlich raſch.
Schon im dritten Monat zeigen ſich die Hörnchen, und im dritten Jahre können ſowohl die Böcke, als
die Ziegen als erwachſen gelten. — Das Alter, welches ſie überhaupt erreichen, ſchätzt man auf 20
bis 30 Jahr.

Jung eingefangene Gemſen laſſen ſich leicht zähmen. Man ernährt ſie mit Ziegenmilch, mit
ſaftigem Graſe und Kräutern, mit Kohl, Rüben und Brod. Wenn man gutartige Ziegen hat, kann
man dieſen das Pflegeelterngeſchäft anvertrauen. Dabei gedeihen die kleinen, luſtigen Gebirgskinder
nur um ſo beſſer. Die jungen Gemſen haben in ihrem Benehmen viel Ziegenartiges, und die Jungen
vielleicht noch mehr, als die Alten. Luſtig ſpielen ſie mit dem Zicklein, keck und munter mit dem
Hunde; traulich folgen ſie dem Pfleger, freundlich kommen ſie herbei, um ſich Nahrung zu erbitten.
Jhr Sinn ſtrebt immer nach dem Höchſten. Steinblöcke in ihrem Hofe, Manerabſätze und andere
Erhöhungen werden ein Lieblingsort für ſie. Dort ſtehen ſie oft ſtundenlang. Sie werden zwar nie
ſo kräftig, als die freilebenden Gemſen, ſcheinen ſich aber ganz wohl in der Gefangenſchaft zu be-
finden. Bei manchen bricht im Alter auch eine gewiſſe Wildheit durch; dann gebrauchen ſie ihre
Hörnchen oft recht ausdrücklich. Jhre Genügſamkeit erleichtert ihnen und ihrem Pfleger die Gefangen-
haltung. Jm Alter ſind ſie noch weniger wähleriſch hinſichtlich ihrer Nahrung, als in der Jugend.
Abgehärtet ſind ſie von Mutterleibe an. Jm Winter genügt ihnen ein wenig Streu unter einem
offenen Dächlein. Sperrt man ſie in einen Stall, ſo behagt es ihnen nicht einmal. Einen Raum
zur Bewegung und friſches Waſſer müſſen ſie haben: dieſe beiden Dinge ſind ihnen unumgänglich
nöthig. Alteingefangene bleiben immer furchtſam und ſcheu.

Bisjetzt iſt es nur ſelten gelungen, die Gemſe in der Gefangenſchaft zur Fortpflanzung zu
bringen. Der Fabrikant Laufer in Chambery bekam im Jahre 1855 von ſeinem zahmen Gemſen-
paare, deſſen Weibchen ſchon 1850 ein todtes geworfen hatte, zwei geſunde und muntere Kälbchen.
Daſſelbe ereignete ſich im Thiergarten zu Dresden. Oft hat man, namentlich Gemsböcke, mit Haus-
ziegen gepaart. Kaſthofer war wohl der Erſte, dem es gelang, Blendlinge zwiſchen Gemſen
und Zibethziegen zu erziehen. Später hat man mehrere ähnliche Ergebniſſe gewonnen. Das Junge
hatte von der Mutter blos die Farbe, vom Vater den ausgezeichneten Gliederbau, die hohe Stirn,
die große Kletter- und Springluſt und die Wildheit und Scheu. Bei freilebenden Gemſen und
Ziegen, d. h. bei ſolchen, welche während des ganzen Sommers auf den Alpen weiden, ſind derartige
Vermiſchungen noch nicht beobachtet worden.

Viele Feinde und viele Gefahren bedrohen die Gemſen. Der Menſch und die großen Raub-
thiere ſind nicht ihre einzigen Verderber. Herabrollende Steine und Felſenſtücke erſchlagen eine
und die andere, Schneelauinen begraben oft ganze Geſellſchaften. Die Gemſen kennen zwar dieſe
Gefahr und ſuchen Stellen auf, wo ſie am ſicherſten ſind; das Unglück ereilt ſie aber doch. Unter

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[532/0562] Die Antilopen. — Die Gemſe. faſt ebenſo gewandt, wie dieſe. Die Gemſenziege behält ihren Sprößling ſechs Monate lang bei ſich. Sie iſt äußerſt beſorgt um ihn und lehrt und unterrichtet ihn in allen Nothwendigkeiten des Lebens. Der Bock hingegen bekümmert ſich nicht im geringſten um ſeine Nachkommenſchaft. Schon vor der Geburt hat ſich die hochbeſchlagene Ziege vom Rudel abgeſondert und eine paſſende Weide aus- geſucht. Dort treibt ſie ſich ſpäter mit ihrem Jungen umher, immer auf den ſteilſten und ein- ſamſten Stellen. Meckernd leitet ſie ihr Kind, und mit Meckern gibt ſie ihm Unterricht in allen Fer- tigkeiten, deren die Gemſe ſo nothwendig bedarf, nämlich Klettern und Springen, und macht ihm manche Sprünge ausdrücklich ſo lange vor, bis das Junge geſchickt genug iſt, ſie ohne weiteres aus- zuführen. Auch das Junge hängt mit unendlicher Liebe an ſeiner Mutter; es verläßt ſie nicht ein- mal im Tode. Mehr als ein Mal haben die Jäger beobachtet, daß junge Gemſen zu ihren von ihnen erlegten Müttern kamen und klagend bei ihnen ſtehen blieben. Ja es ſind Beiſpiele bekannt, daß ſich ſolche Thiere, obgleich ſie ihre Scheu vor dem Menſchen durch einen dumpfen, blöckenden Ton und das aufgeſperrte Maul deutlich zu erkennen gaben, ruhig von der Leiche ihrer Mutter weg- nehmen ließen. Uebrigens ſollen, wie beim Steinwild, verwaiſte Gemſen von anderen Müttern angenommen und treulich gepflegt werden. Die neugeborenen Thiere wachſen außerordentlich raſch. Schon im dritten Monat zeigen ſich die Hörnchen, und im dritten Jahre können ſowohl die Böcke, als die Ziegen als erwachſen gelten. — Das Alter, welches ſie überhaupt erreichen, ſchätzt man auf 20 bis 30 Jahr. Jung eingefangene Gemſen laſſen ſich leicht zähmen. Man ernährt ſie mit Ziegenmilch, mit ſaftigem Graſe und Kräutern, mit Kohl, Rüben und Brod. Wenn man gutartige Ziegen hat, kann man dieſen das Pflegeelterngeſchäft anvertrauen. Dabei gedeihen die kleinen, luſtigen Gebirgskinder nur um ſo beſſer. Die jungen Gemſen haben in ihrem Benehmen viel Ziegenartiges, und die Jungen vielleicht noch mehr, als die Alten. Luſtig ſpielen ſie mit dem Zicklein, keck und munter mit dem Hunde; traulich folgen ſie dem Pfleger, freundlich kommen ſie herbei, um ſich Nahrung zu erbitten. Jhr Sinn ſtrebt immer nach dem Höchſten. Steinblöcke in ihrem Hofe, Manerabſätze und andere Erhöhungen werden ein Lieblingsort für ſie. Dort ſtehen ſie oft ſtundenlang. Sie werden zwar nie ſo kräftig, als die freilebenden Gemſen, ſcheinen ſich aber ganz wohl in der Gefangenſchaft zu be- finden. Bei manchen bricht im Alter auch eine gewiſſe Wildheit durch; dann gebrauchen ſie ihre Hörnchen oft recht ausdrücklich. Jhre Genügſamkeit erleichtert ihnen und ihrem Pfleger die Gefangen- haltung. Jm Alter ſind ſie noch weniger wähleriſch hinſichtlich ihrer Nahrung, als in der Jugend. Abgehärtet ſind ſie von Mutterleibe an. Jm Winter genügt ihnen ein wenig Streu unter einem offenen Dächlein. Sperrt man ſie in einen Stall, ſo behagt es ihnen nicht einmal. Einen Raum zur Bewegung und friſches Waſſer müſſen ſie haben: dieſe beiden Dinge ſind ihnen unumgänglich nöthig. Alteingefangene bleiben immer furchtſam und ſcheu. Bisjetzt iſt es nur ſelten gelungen, die Gemſe in der Gefangenſchaft zur Fortpflanzung zu bringen. Der Fabrikant Laufer in Chambery bekam im Jahre 1855 von ſeinem zahmen Gemſen- paare, deſſen Weibchen ſchon 1850 ein todtes geworfen hatte, zwei geſunde und muntere Kälbchen. Daſſelbe ereignete ſich im Thiergarten zu Dresden. Oft hat man, namentlich Gemsböcke, mit Haus- ziegen gepaart. Kaſthofer war wohl der Erſte, dem es gelang, Blendlinge zwiſchen Gemſen und Zibethziegen zu erziehen. Später hat man mehrere ähnliche Ergebniſſe gewonnen. Das Junge hatte von der Mutter blos die Farbe, vom Vater den ausgezeichneten Gliederbau, die hohe Stirn, die große Kletter- und Springluſt und die Wildheit und Scheu. Bei freilebenden Gemſen und Ziegen, d. h. bei ſolchen, welche während des ganzen Sommers auf den Alpen weiden, ſind derartige Vermiſchungen noch nicht beobachtet worden. Viele Feinde und viele Gefahren bedrohen die Gemſen. Der Menſch und die großen Raub- thiere ſind nicht ihre einzigen Verderber. Herabrollende Steine und Felſenſtücke erſchlagen eine und die andere, Schneelauinen begraben oft ganze Geſellſchaften. Die Gemſen kennen zwar dieſe Gefahr und ſuchen Stellen auf, wo ſie am ſicherſten ſind; das Unglück ereilt ſie aber doch. Unter

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 532. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/562>, abgerufen am 16.07.2024.