Fall mit Leib und Füßen noch rudert und arbeitet, um diesen zu erreichen, und so im Sturze eine krumme Linie beschreibt."
Eine ungewöhnliche Ortskenntniß kommt der Gemse bei ihren kühnen Wanderungen sehr zu statten. Sie merkt sich jeden Weg, den sie nur ein Mal gegangen, und kennt in ihrem Gebiet, so zu sagen, jeden Stein; deshalb eben zeigt sie sich so außerordentlich heimisch auf ihren Hochgebirgen, während sie im hohen Grade unbeholfen erscheint, wenn sie dasselbe verläßt. "Jm Sommer 1815," erzählt Tschudi, "stellte sich zu nicht geringem Erstaunen der Augenzeugen plötzlich ein wahr- scheinlich gehetzter Gemsenbock in die Wiesen bei Arbonn, setzte ohne unmittelbare Verfolgung über alle Hecken und stürzte sich in den See, wo er lange irrend umherschwamm, bis er, dem Verenden nahe, mit einem Kahne aufgefangen wurde. Einige Jahre vorher wurde im Rheinthale eine junge Gemse im Morast steckend lebend ergriffen."
Die Gemse ist das Sinnbild der Wachsamkeit. Jhre ungemein scharfen Sinne befähigen sie hierzu, wie wenig andere Thiere. Geruch, Gesicht und Gehör sind bei ihr gleich entwickelt. Nie- mals vergißt die Gemse ihre Sicherung; selbst im Schlafe noch thun ihre Sinneswerkzeuge ihre Schuldigkeit. Beim Ruhen streckt sie sich nur selten auf dem Boden aus: ihre gewöhnliche Haltung ist so, daß sie augenblicklich die Flucht ergreifen kann. Gern verbergen sich die ruhenden Gemsen im leichten Gebüsch, am liebsten aber auf einem Felsenvorsprunge, wo der Rücken gedeckt ist, die Seiten frei sind und nach vorn ein ungehinderter Ueberblick möglich ist. Dabei übernimmt jedes Mal das Leitthier, die "Vorgeis", wie die Jäger sagen, das Wächteramt; aber auch einige der älteren Thiere unterstützen sie hierin. Unbekümmert um das fröhliche Treiben der Herde weidet der Leitbock in einiger Entfernung allein, sieht sich alle Augenblicke um, hebt sich hoch auf, wittert und sichert beständig. Ein Jäger, welcher im Winde steht, wird von den Gemsen aus unglaublicher Entfernung wahrgenommen, zumal wenn er still steht. Gewöhnlich wird jeder Feind rechtzeitig erspäht, und ebendeshalb verursacht die Jagd so große Mühe. Sobald die Gemsen einen Jäger wittern, wird sofort alle Sinnesschärfe aufs äußerste gespannt, um den Ort der Gefahr aussindig zu machen. "Das Ohr und das Auge," sagt Tschudi, "wetteifern mit der schnoppernden Nase. Der endliche Anblick des Jägers beruhigt sie; wittern sie nur, ohne ihn zu sehen, so geberden sie sich wie toll, da sie weder die Nähe des Verderbers, noch die genaue Richtung desselben und also auch die ihrer Flucht bestimmt ermessen können. Unruhig rennen sie umher oder stehen zusammen, recken die Hälse umher und suchen den Jäger ausfindig zu machen. So wie Dies geschehen ist, halten sie an und betrachten ihn einen Augenblick neugierig. Bewegt er sich nicht, so stehen sie auch still; so- bald er aber jenes thut, ergreifen sie nach einer gewohnten Richtung und nach einem bekannten, nicht allzu fernen Schutzort die Flucht." Ahnt das Leitthier Gefahr, so pfeift es, wie das Murmel- thier, hell auf, stampft mit einem der Vorderläufe auf den Boden und beginnt sofort die Flucht. Die anderen folgen ihm im Galopp nach. Das Pfeifen, oder wahrscheinlich richtiger das Schneu- zen, ist ein heiserer, schneidender, etwas gezogener Laut, welcher weithin vernommen wird.
Aus Vorstehendem geht deutlich genug hervor, daß die Geistesfähigkeiten der Gemse zu einer hohen Entwickelung gelaugt sind. Es spricht sich in jeder ihrer Bewegungen, in ihrem ganzen We- sen sehr viel berechnender Verstand aus. Die Gemse ist eigentlich nicht scheu, wohl aber im hohen Grade vorsichtig: sie prüft erst sorgfältig, ehe sie handelt; sie überlegt, sie berechnet, sie schätzt. Jhr Gedächtniß ist ganz vortrefflich. Sie merkt auf mehrere Jahre hin, wo sie verfolgt wurde, und weiß es genau, wo man sie schützt und hegt. Auf den sogenannten freien Bergen oder an Orten, wo keine Gemsen geschossen werden dürfen, wird sie fast kühn und zutraulich. Dort scheint sie sich mit dem Menschen und seinem Treiben vertraut machen zu wollen; auf den Jagdplätzen aber meidet sie diesen, ihren gefährlichsten Feind, wie die Pest. Sie weiß es genau, daß er ihr hier sehr schädlich wird, während er ihr dort nichts anhaben kann. Wie Schinz angibt, will man Beobachtungen ge- macht haben, daß die Gemsen solche Wälder allen übrigen vorziehen, welche vor Lauinen sicher sind: Dies würde gewiß auf einen hohen Grad von Klugheit deuten.
Die Antilopen. — Die Gemſe.
Fall mit Leib und Füßen noch rudert und arbeitet, um dieſen zu erreichen, und ſo im Sturze eine krumme Linie beſchreibt.‟
Eine ungewöhnliche Ortskenntniß kommt der Gemſe bei ihren kühnen Wanderungen ſehr zu ſtatten. Sie merkt ſich jeden Weg, den ſie nur ein Mal gegangen, und kennt in ihrem Gebiet, ſo zu ſagen, jeden Stein; deshalb eben zeigt ſie ſich ſo außerordentlich heimiſch auf ihren Hochgebirgen, während ſie im hohen Grade unbeholfen erſcheint, wenn ſie daſſelbe verläßt. „Jm Sommer 1815,‟ erzählt Tſchudi, „ſtellte ſich zu nicht geringem Erſtaunen der Augenzeugen plötzlich ein wahr- ſcheinlich gehetzter Gemſenbock in die Wieſen bei Arbonn, ſetzte ohne unmittelbare Verfolgung über alle Hecken und ſtürzte ſich in den See, wo er lange irrend umherſchwamm, bis er, dem Verenden nahe, mit einem Kahne aufgefangen wurde. Einige Jahre vorher wurde im Rheinthale eine junge Gemſe im Moraſt ſteckend lebend ergriffen.‟
Die Gemſe iſt das Sinnbild der Wachſamkeit. Jhre ungemein ſcharfen Sinne befähigen ſie hierzu, wie wenig andere Thiere. Geruch, Geſicht und Gehör ſind bei ihr gleich entwickelt. Nie- mals vergißt die Gemſe ihre Sicherung; ſelbſt im Schlafe noch thun ihre Sinneswerkzeuge ihre Schuldigkeit. Beim Ruhen ſtreckt ſie ſich nur ſelten auf dem Boden aus: ihre gewöhnliche Haltung iſt ſo, daß ſie augenblicklich die Flucht ergreifen kann. Gern verbergen ſich die ruhenden Gemſen im leichten Gebüſch, am liebſten aber auf einem Felſenvorſprunge, wo der Rücken gedeckt iſt, die Seiten frei ſind und nach vorn ein ungehinderter Ueberblick möglich iſt. Dabei übernimmt jedes Mal das Leitthier, die „Vorgeis‟, wie die Jäger ſagen, das Wächteramt; aber auch einige der älteren Thiere unterſtützen ſie hierin. Unbekümmert um das fröhliche Treiben der Herde weidet der Leitbock in einiger Entfernung allein, ſieht ſich alle Augenblicke um, hebt ſich hoch auf, wittert und ſichert beſtändig. Ein Jäger, welcher im Winde ſteht, wird von den Gemſen aus unglaublicher Entfernung wahrgenommen, zumal wenn er ſtill ſteht. Gewöhnlich wird jeder Feind rechtzeitig erſpäht, und ebendeshalb verurſacht die Jagd ſo große Mühe. Sobald die Gemſen einen Jäger wittern, wird ſofort alle Sinnesſchärfe aufs äußerſte geſpannt, um den Ort der Gefahr ausſindig zu machen. „Das Ohr und das Auge,‟ ſagt Tſchudi, „wetteifern mit der ſchnoppernden Naſe. Der endliche Anblick des Jägers beruhigt ſie; wittern ſie nur, ohne ihn zu ſehen, ſo geberden ſie ſich wie toll, da ſie weder die Nähe des Verderbers, noch die genaue Richtung deſſelben und alſo auch die ihrer Flucht beſtimmt ermeſſen können. Unruhig rennen ſie umher oder ſtehen zuſammen, recken die Hälſe umher und ſuchen den Jäger ausfindig zu machen. So wie Dies geſchehen iſt, halten ſie an und betrachten ihn einen Augenblick neugierig. Bewegt er ſich nicht, ſo ſtehen ſie auch ſtill; ſo- bald er aber jenes thut, ergreifen ſie nach einer gewohnten Richtung und nach einem bekannten, nicht allzu fernen Schutzort die Flucht.‟ Ahnt das Leitthier Gefahr, ſo pfeift es, wie das Murmel- thier, hell auf, ſtampft mit einem der Vorderläufe auf den Boden und beginnt ſofort die Flucht. Die anderen folgen ihm im Galopp nach. Das Pfeifen, oder wahrſcheinlich richtiger das Schneu- zen, iſt ein heiſerer, ſchneidender, etwas gezogener Laut, welcher weithin vernommen wird.
Aus Vorſtehendem geht deutlich genug hervor, daß die Geiſtesfähigkeiten der Gemſe zu einer hohen Entwickelung gelaugt ſind. Es ſpricht ſich in jeder ihrer Bewegungen, in ihrem ganzen We- ſen ſehr viel berechnender Verſtand aus. Die Gemſe iſt eigentlich nicht ſcheu, wohl aber im hohen Grade vorſichtig: ſie prüft erſt ſorgfältig, ehe ſie handelt; ſie überlegt, ſie berechnet, ſie ſchätzt. Jhr Gedächtniß iſt ganz vortrefflich. Sie merkt auf mehrere Jahre hin, wo ſie verfolgt wurde, und weiß es genau, wo man ſie ſchützt und hegt. Auf den ſogenannten freien Bergen oder an Orten, wo keine Gemſen geſchoſſen werden dürfen, wird ſie faſt kühn und zutraulich. Dort ſcheint ſie ſich mit dem Menſchen und ſeinem Treiben vertraut machen zu wollen; auf den Jagdplätzen aber meidet ſie dieſen, ihren gefährlichſten Feind, wie die Peſt. Sie weiß es genau, daß er ihr hier ſehr ſchädlich wird, während er ihr dort nichts anhaben kann. Wie Schinz angibt, will man Beobachtungen ge- macht haben, daß die Gemſen ſolche Wälder allen übrigen vorziehen, welche vor Lauinen ſicher ſind: Dies würde gewiß auf einen hohen Grad von Klugheit deuten.
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Die Antilopen. — Die Gemſe.
Fall mit Leib und Füßen noch rudert und arbeitet, um dieſen zu erreichen, und ſo im Sturze eine
krumme Linie beſchreibt.‟
Eine ungewöhnliche Ortskenntniß kommt der Gemſe bei ihren kühnen Wanderungen ſehr zu
ſtatten. Sie merkt ſich jeden Weg, den ſie nur ein Mal gegangen, und kennt in ihrem Gebiet, ſo
zu ſagen, jeden Stein; deshalb eben zeigt ſie ſich ſo außerordentlich heimiſch auf ihren Hochgebirgen,
während ſie im hohen Grade unbeholfen erſcheint, wenn ſie daſſelbe verläßt. „Jm Sommer 1815,‟
erzählt Tſchudi, „ſtellte ſich zu nicht geringem Erſtaunen der Augenzeugen plötzlich ein wahr-
ſcheinlich gehetzter Gemſenbock in die Wieſen bei Arbonn, ſetzte ohne unmittelbare Verfolgung über
alle Hecken und ſtürzte ſich in den See, wo er lange irrend umherſchwamm, bis er, dem Verenden
nahe, mit einem Kahne aufgefangen wurde. Einige Jahre vorher wurde im Rheinthale eine junge
Gemſe im Moraſt ſteckend lebend ergriffen.‟
Die Gemſe iſt das Sinnbild der Wachſamkeit. Jhre ungemein ſcharfen Sinne befähigen ſie
hierzu, wie wenig andere Thiere. Geruch, Geſicht und Gehör ſind bei ihr gleich entwickelt. Nie-
mals vergißt die Gemſe ihre Sicherung; ſelbſt im Schlafe noch thun ihre Sinneswerkzeuge ihre
Schuldigkeit. Beim Ruhen ſtreckt ſie ſich nur ſelten auf dem Boden aus: ihre gewöhnliche Haltung
iſt ſo, daß ſie augenblicklich die Flucht ergreifen kann. Gern verbergen ſich die ruhenden Gemſen im
leichten Gebüſch, am liebſten aber auf einem Felſenvorſprunge, wo der Rücken gedeckt iſt, die Seiten
frei ſind und nach vorn ein ungehinderter Ueberblick möglich iſt. Dabei übernimmt jedes Mal das
Leitthier, die „Vorgeis‟, wie die Jäger ſagen, das Wächteramt; aber auch einige der älteren
Thiere unterſtützen ſie hierin. Unbekümmert um das fröhliche Treiben der Herde weidet der Leitbock
in einiger Entfernung allein, ſieht ſich alle Augenblicke um, hebt ſich hoch auf, wittert und ſichert
beſtändig. Ein Jäger, welcher im Winde ſteht, wird von den Gemſen aus unglaublicher Entfernung
wahrgenommen, zumal wenn er ſtill ſteht. Gewöhnlich wird jeder Feind rechtzeitig erſpäht, und
ebendeshalb verurſacht die Jagd ſo große Mühe. Sobald die Gemſen einen Jäger wittern, wird
ſofort alle Sinnesſchärfe aufs äußerſte geſpannt, um den Ort der Gefahr ausſindig zu machen.
„Das Ohr und das Auge,‟ ſagt Tſchudi, „wetteifern mit der ſchnoppernden Naſe. Der endliche
Anblick des Jägers beruhigt ſie; wittern ſie nur, ohne ihn zu ſehen, ſo geberden ſie ſich wie toll,
da ſie weder die Nähe des Verderbers, noch die genaue Richtung deſſelben und alſo auch die ihrer
Flucht beſtimmt ermeſſen können. Unruhig rennen ſie umher oder ſtehen zuſammen, recken die
Hälſe umher und ſuchen den Jäger ausfindig zu machen. So wie Dies geſchehen iſt, halten ſie
an und betrachten ihn einen Augenblick neugierig. Bewegt er ſich nicht, ſo ſtehen ſie auch ſtill; ſo-
bald er aber jenes thut, ergreifen ſie nach einer gewohnten Richtung und nach einem bekannten,
nicht allzu fernen Schutzort die Flucht.‟ Ahnt das Leitthier Gefahr, ſo pfeift es, wie das Murmel-
thier, hell auf, ſtampft mit einem der Vorderläufe auf den Boden und beginnt ſofort die Flucht.
Die anderen folgen ihm im Galopp nach. Das Pfeifen, oder wahrſcheinlich richtiger das Schneu-
zen, iſt ein heiſerer, ſchneidender, etwas gezogener Laut, welcher weithin vernommen wird.
Aus Vorſtehendem geht deutlich genug hervor, daß die Geiſtesfähigkeiten der Gemſe zu einer
hohen Entwickelung gelaugt ſind. Es ſpricht ſich in jeder ihrer Bewegungen, in ihrem ganzen We-
ſen ſehr viel berechnender Verſtand aus. Die Gemſe iſt eigentlich nicht ſcheu, wohl aber im hohen
Grade vorſichtig: ſie prüft erſt ſorgfältig, ehe ſie handelt; ſie überlegt, ſie berechnet, ſie ſchätzt.
Jhr Gedächtniß iſt ganz vortrefflich. Sie merkt auf mehrere Jahre hin, wo ſie verfolgt wurde, und
weiß es genau, wo man ſie ſchützt und hegt. Auf den ſogenannten freien Bergen oder an Orten,
wo keine Gemſen geſchoſſen werden dürfen, wird ſie faſt kühn und zutraulich. Dort ſcheint ſie ſich
mit dem Menſchen und ſeinem Treiben vertraut machen zu wollen; auf den Jagdplätzen aber meidet
ſie dieſen, ihren gefährlichſten Feind, wie die Peſt. Sie weiß es genau, daß er ihr hier ſehr ſchädlich
wird, während er ihr dort nichts anhaben kann. Wie Schinz angibt, will man Beobachtungen ge-
macht haben, daß die Gemſen ſolche Wälder allen übrigen vorziehen, welche vor Lauinen ſicher ſind:
Dies würde gewiß auf einen hohen Grad von Klugheit deuten.
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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 530. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/560>, abgerufen am 27.11.2024.
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