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Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865.

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Die Hirsche. -- Das Renthier.
die ganze Familie und ihr Hab und Gut von einem Ort zum anderen schaffen. Jn Lappland benutzt
man das Ren hauptsächlich zum Fahren und weniger zum Lasttragen, weil letzteres den Thieren,
ihres schwachen Kreuzes wegen, sehr beschwerlich fällt. Die Tungusen und Koräken aber reiten auch
auf den stärkeren Renhirschen, indem sie dem Thiere den Sattel gerade über die Schulterblätter
legen und sich mit abstehenden Beinen auf das sonderbare Reitthier setzen, durch alle Künste sich
Gleichgewicht haltend. Jn Lappland reitet Niemand auf Renthieren, und blos die stärksten Böcke
oder "Renochsen", wie die Norweger sagen, werden zum Fahren benutzt. Man bezahlt tüchtige Zug-
thiere gern mit 8 bis 12 Species oder 12 bis 18 Thalern unseres Geldes, während die gewöhn-
lichen Renthiere höchstens 4 bis 6 Thaler kosten. Kein Ren wird vorher zum Zuge abgerichtet;
man nimmt ohne viel Umstände ein beliebiges, starkes Thier aus der Herde und spannt es vor den
höchst passenden, der Natur des Landes und dem Renthiere durchaus entsprechenden Schlitten.
Dieser ist von dem bei uns gebräuchlichen freilich ganz verschieden und ähnelt vielmehr einem Bote.
Er besteht aus sehr dünnen Birkenbrettern, welche von einem breiten Kiel an botartig gekrümmt an
einander genagelt werden und so eine botartige Mulde bilden, deren Vordertheil bedeckt ist. Ein
senkrecht stehendes Brett am Hintertheile dient zur Rückenlehne, ein starkes Oes am Vordertheile
als Deichsel. Selbstverständlich kann blos ein einziger Mann in einem solchen Botschlitten sitzen,
und nothwendigerweise muß er die Beine gerade vor sich hin ausstrecken: da nun aber der
Schlitten mit Renthierfellen ausgefüttert ist, ruht man sehr bequem und warm in dieser son-
derbaren Stellung. Für das Gepäck oder für zu befördernde Waare hat man Schlitten, welche
oben mit Schiebedeckeln verschlossen werden können, den anderen aber sonst ganz ähnlich sind.
Gewöhnlich fährt ein Lappe mit dem Leitrenthier dem Reisenden voraus, um den Weg zu prüfen,
denn selbstverständlich geht es in gerader Richtung über die weiße Decke hinweg, ohne genau zu
wissen, welchen Grund sie verhüllt. Auf Felsen und Seen werden Birkenreiser längs beider Seiten
der Bahn gesteckt, um Alle aufzufordern, denselben Weg zu benutzen und ihn glatt und fest zu
fahren. Drei bis vier Schlitten hinterdrein enthalten Gepäck und Lebensmittel für den Reisenden,
unter Umständen auch Renthierflechten für die Thiere: und so besteht der volle Reisezug gewöhnlich
aus sechs Schlitten.

Das Geschirr ist sehr einfach. Es ist eigentlich nur ein breites Stück Fell, welches zusammen-
genäht ist, damit es auf allen Seiten weich wird. Dieses rundliche Band endigt in zwei dicke
Knöpfe, welche beim Anschirren durch eine Schlinge, das Ende des Zugseiles, gesteckt wird. Letz-
teres läuft zwischen den Vorderbeinen hindurch und sollte auch längs des Bauches fortlaufen, wird
aber von dem Renthier gewöhnlich übersprungen und kommt dann hinten bald auf die rechte, bald
auf die linke Seite des Thieres zu liegen. Am Schlitten wird eine Schleife durch das Oes am Vor-
derende gesteckt und an ihr das Zugseil befestigt. Der Zügel ist sehr einfach; er endigt in eine
Schlinge, welche dem Renthiere um das Maul gelegt und durch ein zweites Band, das hinter
dem Geweih verläuft, befestigt wird. Man lenkt ein Zugthier, indem man den Zügel mit einiger
Kraft bald auf die linke, bald auf die rechte Seite seines Rückens wirft. Ein gutes Renthier legt
mit dem Schlitten in einer Stunde eine norwegische Meile oder 18,000 Ellen zurück; es zieht bis
9 Wog oder 288 Pfund, wird aber gewöhnlich nur mit 4 bis 5 Wog belastet. Jm Sommer ver-
wendet man es in Norwegen nicht zum Zuge.

Zu diesen eigenen Erfahrungen will ich noch die Bemerkungen anderer Reisenden hinzufügen,
um das Bild zu vervollständigen. Die Koräken spannen anstatt eines Ren deren zwei an und
fahren zuweilen in einem Zuge 10 bis 12 Meilen weit: dann ermüden ihre Zugthiere aber derart,
daß sie oft genug liegen bleiben würden, wenn man nicht die Vorsicht gebrauchte, sie noch vor dem
Ende schnell abzuschlachten. Sind die Thiere sehr ermüdet, so werfen sie sich auf den Boden nieder
und bleiben eine Zeitlang erschöpft und regungslos auf der Erde liegen; dann pflegen die Samo-
jeden unterhalb des Schwanzes eine Ader zu öffnen. -- Wenn man starke, gut ausgefütterte Ren-
thiere schont, d. h. sie nur morgens und abends einige Stunden ziehen, mittags und nachts aber

Die Hirſche. — Das Renthier.
die ganze Familie und ihr Hab und Gut von einem Ort zum anderen ſchaffen. Jn Lappland benutzt
man das Ren hauptſächlich zum Fahren und weniger zum Laſttragen, weil letzteres den Thieren,
ihres ſchwachen Kreuzes wegen, ſehr beſchwerlich fällt. Die Tunguſen und Koräken aber reiten auch
auf den ſtärkeren Renhirſchen, indem ſie dem Thiere den Sattel gerade über die Schulterblätter
legen und ſich mit abſtehenden Beinen auf das ſonderbare Reitthier ſetzen, durch alle Künſte ſich
Gleichgewicht haltend. Jn Lappland reitet Niemand auf Renthieren, und blos die ſtärkſten Böcke
oder „Renochſen‟, wie die Norweger ſagen, werden zum Fahren benutzt. Man bezahlt tüchtige Zug-
thiere gern mit 8 bis 12 Species oder 12 bis 18 Thalern unſeres Geldes, während die gewöhn-
lichen Renthiere höchſtens 4 bis 6 Thaler koſten. Kein Ren wird vorher zum Zuge abgerichtet;
man nimmt ohne viel Umſtände ein beliebiges, ſtarkes Thier aus der Herde und ſpannt es vor den
höchſt paſſenden, der Natur des Landes und dem Renthiere durchaus entſprechenden Schlitten.
Dieſer iſt von dem bei uns gebräuchlichen freilich ganz verſchieden und ähnelt vielmehr einem Bote.
Er beſteht aus ſehr dünnen Birkenbrettern, welche von einem breiten Kiel an botartig gekrümmt an
einander genagelt werden und ſo eine botartige Mulde bilden, deren Vordertheil bedeckt iſt. Ein
ſenkrecht ſtehendes Brett am Hintertheile dient zur Rückenlehne, ein ſtarkes Oes am Vordertheile
als Deichſel. Selbſtverſtändlich kann blos ein einziger Mann in einem ſolchen Botſchlitten ſitzen,
und nothwendigerweiſe muß er die Beine gerade vor ſich hin ausſtrecken: da nun aber der
Schlitten mit Renthierfellen ausgefüttert iſt, ruht man ſehr bequem und warm in dieſer ſon-
derbaren Stellung. Für das Gepäck oder für zu befördernde Waare hat man Schlitten, welche
oben mit Schiebedeckeln verſchloſſen werden können, den anderen aber ſonſt ganz ähnlich ſind.
Gewöhnlich fährt ein Lappe mit dem Leitrenthier dem Reiſenden voraus, um den Weg zu prüfen,
denn ſelbſtverſtändlich geht es in gerader Richtung über die weiße Decke hinweg, ohne genau zu
wiſſen, welchen Grund ſie verhüllt. Auf Felſen und Seen werden Birkenreiſer längs beider Seiten
der Bahn geſteckt, um Alle aufzufordern, denſelben Weg zu benutzen und ihn glatt und feſt zu
fahren. Drei bis vier Schlitten hinterdrein enthalten Gepäck und Lebensmittel für den Reiſenden,
unter Umſtänden auch Renthierflechten für die Thiere: und ſo beſteht der volle Reiſezug gewöhnlich
aus ſechs Schlitten.

Das Geſchirr iſt ſehr einfach. Es iſt eigentlich nur ein breites Stück Fell, welches zuſammen-
genäht iſt, damit es auf allen Seiten weich wird. Dieſes rundliche Band endigt in zwei dicke
Knöpfe, welche beim Anſchirren durch eine Schlinge, das Ende des Zugſeiles, geſteckt wird. Letz-
teres läuft zwiſchen den Vorderbeinen hindurch und ſollte auch längs des Bauches fortlaufen, wird
aber von dem Renthier gewöhnlich überſprungen und kommt dann hinten bald auf die rechte, bald
auf die linke Seite des Thieres zu liegen. Am Schlitten wird eine Schleife durch das Oes am Vor-
derende geſteckt und an ihr das Zugſeil befeſtigt. Der Zügel iſt ſehr einfach; er endigt in eine
Schlinge, welche dem Renthiere um das Maul gelegt und durch ein zweites Band, das hinter
dem Geweih verläuft, befeſtigt wird. Man lenkt ein Zugthier, indem man den Zügel mit einiger
Kraft bald auf die linke, bald auf die rechte Seite ſeines Rückens wirft. Ein gutes Renthier legt
mit dem Schlitten in einer Stunde eine norwegiſche Meile oder 18,000 Ellen zurück; es zieht bis
9 Wog oder 288 Pfund, wird aber gewöhnlich nur mit 4 bis 5 Wog belaſtet. Jm Sommer ver-
wendet man es in Norwegen nicht zum Zuge.

Zu dieſen eigenen Erfahrungen will ich noch die Bemerkungen anderer Reiſenden hinzufügen,
um das Bild zu vervollſtändigen. Die Koräken ſpannen anſtatt eines Ren deren zwei an und
fahren zuweilen in einem Zuge 10 bis 12 Meilen weit: dann ermüden ihre Zugthiere aber derart,
daß ſie oft genug liegen bleiben würden, wenn man nicht die Vorſicht gebrauchte, ſie noch vor dem
Ende ſchnell abzuſchlachten. Sind die Thiere ſehr ermüdet, ſo werfen ſie ſich auf den Boden nieder
und bleiben eine Zeitlang erſchöpft und regungslos auf der Erde liegen; dann pflegen die Samo-
jeden unterhalb des Schwanzes eine Ader zu öffnen. — Wenn man ſtarke, gut ausgefütterte Ren-
thiere ſchont, d. h. ſie nur morgens und abends einige Stunden ziehen, mittags und nachts aber

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[446/0472] Die Hirſche. — Das Renthier. die ganze Familie und ihr Hab und Gut von einem Ort zum anderen ſchaffen. Jn Lappland benutzt man das Ren hauptſächlich zum Fahren und weniger zum Laſttragen, weil letzteres den Thieren, ihres ſchwachen Kreuzes wegen, ſehr beſchwerlich fällt. Die Tunguſen und Koräken aber reiten auch auf den ſtärkeren Renhirſchen, indem ſie dem Thiere den Sattel gerade über die Schulterblätter legen und ſich mit abſtehenden Beinen auf das ſonderbare Reitthier ſetzen, durch alle Künſte ſich Gleichgewicht haltend. Jn Lappland reitet Niemand auf Renthieren, und blos die ſtärkſten Böcke oder „Renochſen‟, wie die Norweger ſagen, werden zum Fahren benutzt. Man bezahlt tüchtige Zug- thiere gern mit 8 bis 12 Species oder 12 bis 18 Thalern unſeres Geldes, während die gewöhn- lichen Renthiere höchſtens 4 bis 6 Thaler koſten. Kein Ren wird vorher zum Zuge abgerichtet; man nimmt ohne viel Umſtände ein beliebiges, ſtarkes Thier aus der Herde und ſpannt es vor den höchſt paſſenden, der Natur des Landes und dem Renthiere durchaus entſprechenden Schlitten. Dieſer iſt von dem bei uns gebräuchlichen freilich ganz verſchieden und ähnelt vielmehr einem Bote. Er beſteht aus ſehr dünnen Birkenbrettern, welche von einem breiten Kiel an botartig gekrümmt an einander genagelt werden und ſo eine botartige Mulde bilden, deren Vordertheil bedeckt iſt. Ein ſenkrecht ſtehendes Brett am Hintertheile dient zur Rückenlehne, ein ſtarkes Oes am Vordertheile als Deichſel. Selbſtverſtändlich kann blos ein einziger Mann in einem ſolchen Botſchlitten ſitzen, und nothwendigerweiſe muß er die Beine gerade vor ſich hin ausſtrecken: da nun aber der Schlitten mit Renthierfellen ausgefüttert iſt, ruht man ſehr bequem und warm in dieſer ſon- derbaren Stellung. Für das Gepäck oder für zu befördernde Waare hat man Schlitten, welche oben mit Schiebedeckeln verſchloſſen werden können, den anderen aber ſonſt ganz ähnlich ſind. Gewöhnlich fährt ein Lappe mit dem Leitrenthier dem Reiſenden voraus, um den Weg zu prüfen, denn ſelbſtverſtändlich geht es in gerader Richtung über die weiße Decke hinweg, ohne genau zu wiſſen, welchen Grund ſie verhüllt. Auf Felſen und Seen werden Birkenreiſer längs beider Seiten der Bahn geſteckt, um Alle aufzufordern, denſelben Weg zu benutzen und ihn glatt und feſt zu fahren. Drei bis vier Schlitten hinterdrein enthalten Gepäck und Lebensmittel für den Reiſenden, unter Umſtänden auch Renthierflechten für die Thiere: und ſo beſteht der volle Reiſezug gewöhnlich aus ſechs Schlitten. Das Geſchirr iſt ſehr einfach. Es iſt eigentlich nur ein breites Stück Fell, welches zuſammen- genäht iſt, damit es auf allen Seiten weich wird. Dieſes rundliche Band endigt in zwei dicke Knöpfe, welche beim Anſchirren durch eine Schlinge, das Ende des Zugſeiles, geſteckt wird. Letz- teres läuft zwiſchen den Vorderbeinen hindurch und ſollte auch längs des Bauches fortlaufen, wird aber von dem Renthier gewöhnlich überſprungen und kommt dann hinten bald auf die rechte, bald auf die linke Seite des Thieres zu liegen. Am Schlitten wird eine Schleife durch das Oes am Vor- derende geſteckt und an ihr das Zugſeil befeſtigt. Der Zügel iſt ſehr einfach; er endigt in eine Schlinge, welche dem Renthiere um das Maul gelegt und durch ein zweites Band, das hinter dem Geweih verläuft, befeſtigt wird. Man lenkt ein Zugthier, indem man den Zügel mit einiger Kraft bald auf die linke, bald auf die rechte Seite ſeines Rückens wirft. Ein gutes Renthier legt mit dem Schlitten in einer Stunde eine norwegiſche Meile oder 18,000 Ellen zurück; es zieht bis 9 Wog oder 288 Pfund, wird aber gewöhnlich nur mit 4 bis 5 Wog belaſtet. Jm Sommer ver- wendet man es in Norwegen nicht zum Zuge. Zu dieſen eigenen Erfahrungen will ich noch die Bemerkungen anderer Reiſenden hinzufügen, um das Bild zu vervollſtändigen. Die Koräken ſpannen anſtatt eines Ren deren zwei an und fahren zuweilen in einem Zuge 10 bis 12 Meilen weit: dann ermüden ihre Zugthiere aber derart, daß ſie oft genug liegen bleiben würden, wenn man nicht die Vorſicht gebrauchte, ſie noch vor dem Ende ſchnell abzuſchlachten. Sind die Thiere ſehr ermüdet, ſo werfen ſie ſich auf den Boden nieder und bleiben eine Zeitlang erſchöpft und regungslos auf der Erde liegen; dann pflegen die Samo- jeden unterhalb des Schwanzes eine Ader zu öffnen. — Wenn man ſtarke, gut ausgefütterte Ren- thiere ſchont, d. h. ſie nur morgens und abends einige Stunden ziehen, mittags und nachts aber

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Zitationshilfe: Brehm, Alfred Edmund: Illustrirtes Thierleben. Bd. 2. Hildburghausen, 1865, S. 446. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brehm_thierleben02_1865/472>, abgerufen am 23.11.2024.